Montag, 22. Oktober 2018

Niobe oder über die Abgründe des Stolzes

Niobe, 1860/65, Zinkguss nach der römischen Kopie
einer Statue aus der Zeit um 330/20 v. Chr., Angaben hier gefunden 

Andere Städte der Umgebung haben dort, wo einmal das älteste Gedächtnis der Stadt war, eine Tiefgarage hineingegraben. Neustrelitz hat Götterbilder. Genauer, es haben sich - trotz aller Brüche der Zeiten - immer noch viele Erinnerungsbilder erhalten, die diesen Ort im Strom tiefer abendländischer Überlieferung halten. Eine Stärke, die man äußerlich nicht erwartet. Um das wohlüberlegte Pathos etwas zurückzunehmen.

Es ist mir bis jetzt rätselhaft geblieben, ob es einmal eine Art Bildprogramm für das alles gab, ich meine, im 19. Jahrhundert. Wenn ja, ist es eine Mischung aus erwartbaren und sehr abgründigen Dingen, wie bei der Gestalt der Niobe an der Auffahrt zum derzeit nicht vorhandenen Schloß. Karl Philipp Moritz beschreibt sie in seiner Götterlehre von 1791 in seiner liebenswürdig bündigen Art wie folgt:

„Mit dem Könige Amphion, der über Theben herrschte, war Niobe, die Tochter des Tantalus, vermählt; sie gebar dem Amphion sieben Söhne und sieben Töchter und spottete einst übermütig der Verehrung der Latona, welche nur einen Sohn und eine Tochter geboren.

Kaum waren die frevelnden Worte über ihre Lippen, so flogen schon die unsichtbaren Pfeile des Apollo und der Diana in der Luft. Mit dem nie verfehlenden Bogen tötete Apollo ihre sieben Söhne, und Diana mit furchtbarem Geschoß tötete ihre sieben Töchter. Auf einmal aller ihrer Kinder beraubt, ward Niobe, in Tränen aufgelöst, in einen Stein verwandelt, der auf dem Berge Sipylon, noch immer von Tränen träufelnd, ein Zeuge ihres ewigen Kummers ward.“

Es gibt bei den Alten die verbreitete Gewißheit, daß man sich vor den Göttern vor allem in Acht nehmen müsse. Aber wie kann ein Gott, der doch von Natur aus alles besitzt, auf Sterbliche eifersüchtig sein? Es ist wie bei den Märchen: Daß Dinge abgründig sind, macht nicht, daß wir sie weniger interessant finden, gar mögen. Wieso also Leto (lat. Latona) auf Niobes Anmaßung so maßlos reagiert, erschließt sich nicht sogleich. Allerdings, die Sache ist verwickelt. Leto ist eher eine Halbgöttin, die Tochter von Titanen, Zeus zeugt jedoch mit ihr zwei mächtige Götter, eben Diana (Artemis) und Apollon. Die wenig erbaute Zeusgattin Hera versucht noch mit allen Mitteln, sich dem entgegenzustellen, letztlich vergeblich, es wird buchstäblich eine schwere Geburt und ist eine Geschichte für sich. Leto war also schon mal sehr empfindlich, was ihren Status angeht. Und bei Niobe lag der Stolz gegen die Götter gewissermaßen in der Familie.

Uffizien, Florenz, Saal der Niobe

Jetzt müssen wir einfach ein wenig, nun ja, Ovid zumuten (in der Übersetzung von Voß).

Doch nicht warnte die Strafe der Volksgenossin Arachne,
Himmlischen nachzustehn, und in kleinerem Laute zu reden.
Vieles erhöhte den Mut. Doch weder die Kunst des Gemahles,
Noch ihr beider Geschlecht, und der Glanz des mächtigen Reiches,
Gab ihr solches Behagen, wie sehr auch alles behagte,
Als der Kinder Gedeihn. Glückseligste unter den Müttern,
Niobe, wärst du genannt, wenn du nicht es geschienen dir selber.
Denn des Tiresias' Tochter, die zukunftahnende Manto,
Ging durch die Gassen der Stadt, von göttlichem Geiste gereget,
Einst weissagend umher: Kommt, kommt, ismenische Weiber!
Bringt der Latona, und bringt den Zwillingen unsrer Latona,
Weihrauch dar mit Gebet; und fügt um die Haare den Lorbeer!
Solches gebeut Latona durch mich! – Man gehorcht; und es wandeln
Alle thebischen Frau'n, geschmückt mit befohlenem Laube,
Weihrauch heiligen Flammen, und bittende Worte, zu bringen.

Aber Niobe kommt im Gewühl des begleitenden Schwarmes,

Prangend in phrygischen Prunk der golddurchwirkten Gewande,
Und, wie der Zorn es gestattet, auch schön; und bewegend ihr stattlich
Angesicht mit den Locken, die jegliche Schulter umwallten,
Stand sie, und hoch die Augen umhergewendet voll Stolzes:

Welch ein Wahnsinn, rief sie, gehörete Götter gesehnen

Vorzuziehn! Was, wenn ihr Latona verehrt an Altären,
Fehlt noch meiner Gewalt der Weihrauch? Mich ja erzeugte
Tantalus, welcher allein zum Mahl der Unsterblichen einging;
Und mich gebar die Plejade Taygete, Tochter des Atlas,
Der den ätherischen Pol hoch trägt mit erhabenem Nacken!
Jupiters Sohn ist der Vater, und Jupiters Sohn der Gemahl auch!
Mir sind die Völker gebeugt in Phrygia; mir auch gehorchet
Kadmus' Burg; und die Mauern, gefügt von den Saiten Amphions,
Werden, und was sie bewohnt, von mir und dem Gatten verwaltet!
Welchem Teil des Palastes ich auch zuwende die Augen,
Unermeßliche Hab' erscheinet mir! Aber ich selber
Rag' als Göttin an Wuchs; und sieben Töchter umblühn mich,
Jünglinge ebensoviel, und bald auch Eidam' und Schnüre!
Fragt noch, aus was für Grunde der Niobe Stolz sich erhebet;
Und dann wagt, die von Coeus, ich weiß nicht welchem, entsproßne
Titanide Latona mit vorzuziehn, der die Erde,
Groß wie sie ist, den winzigen Raum zum Gebären versagt hat!
Himmel und Land und Gewässer verbanneten euere Göttin!
Flüchtlingin war sie der Welt! bis Delos endlich voll Mitleid:
Du durchirrest das Land, ihr zurief, ich das Gewässer:
Und unbefestigten Grund einräumte. Zweier Gebornen
Freute sie sich; das ist von unserem Segen ein Siebteil!
Selig bin ich; wer leugnet mir das? und selig beharr' ich:
Wer auch bezweifelt mir dies? Zur Sicherheit hebt mich der Reichtum!
Höher schau' ich herab, als wo Fortuna mir schade!
Ob sie auch vieles entreißt, weit mehreres wird sie mir lassen!
Schon stieg über die Furcht mir die Seligkeit! Denkt euch, gekürzet
Könne mir etwas sein von der Heerschar meiner Gebornen;
Doch nicht sänk' ich hinab zu der Doppelzahl der Latona,
Die mit dem sämtlichen Schwarm nur weniges mehr ist, denn fruchtlos!
Weit, o weit von dem Opfer entfernt; und dem Lorbeer des Hauptes
Niedergesenkt! – Sie senken; es bleibt unvollendet das Opfer;
Und sie flehn, wie man darf, mit leiserer Stimme zur Gottheit.


Agostino Steffani: „Niobe, regina di Tebe“
Philippe Jaroussky, hier gefunden

Niobe vergleicht sich also nicht nur mit Leto, zu deren Nachteil. Sie verhindert deren Verehrung und nimmt diese für sich in Anspruch. Ein wahrliches Meisterstück menschlicher Anmaßung, so daß der Absturz um so dramatischer ausfällt. Denn der Rest ist schnell erinnert. Leto ruft ihre beiden mächtigen Kinder auf, ihr Genugtuung zu verschaffen, am Ende erstarrt Niobe zu einem weinenden Stein. Den entsprechenden Schilderungen Ovids mag man dort folgen.

Die Figur von 1860, die bei uns steht, zeigt sie in dem Moment, wo sie in einer hilflosen Gebärde die letzte verbliebene Tochter vor dem Göttinnenzorn umsonst zu schützen sucht. Die Nachbildung eines „Originals“, das Teil einer Figurengruppe ist, die sich heute in den Uffizien von Florenz befindet, eine 1583 ausgegrabene römische Kopie eines hellenistischen Originals aus dem Tempel des Apollo Sosianus in Rom (Näheres hier).

Mehr Tradition geht eigentlich kaum noch (und eine sehr schöne dazu). Daß der Stoff die Phantasie vielfach angeregt hat, muß kaum erwähnt werden. Der Diplomat und Kleriker Agostino Steffani hat 1688 „Niobe, regina di Tebe“ komponiert,eine Oper mit einem offenkundig kruden Libretto, aber sehr ergreifender Musik, wovon das obige Stück zeugt. Das abschließende Bild ist vom heutigen Abend. Ich wollte eigentlich über etwas ganz anderes schreiben und nur schauen, ob die Arbeiten am Schloßgarten schon anzeigen, ob die damit verbundenen Hoffnungen berechtigt sind (wir werden sehen), aber nachdem ich mehr beiläufig ein paar Photos gemacht hatte, kam es am Ende hierzu. Vor 5 Jahren hatte ich schon einmal einen Versuch unternommen, den Kunstführer zu geben. Vielleicht kommt es zu einer Fortsetzung. An Statuen hat Neustrelitz glücklicherweise ja noch einiges. Aber was der Großherzog uns mit dieser Figur sagen wollte? Nun, fragen können wir ihn nicht mehr. Aber wir dürfen ja selbst ein wenig nachzudenken versuchen.


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