Schloßgarten Charlottenburg,, Kopie der Ildefonso-Gruppe
„Frohlockend ging er dem Orestes und seinen Begleitern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Palastes in die Vorhalle trugen. 'O froher Anblick', rief der König und heftete seine gierigen Augen darauf, 'hebet schnell die Decke auf, laßt mich ihn des Anstands halber beklagen; es ist ja doch verwandtes Blut!' So sprach er spottend. Orestes aber entgegnete: 'Erhebe du selbst die Decke, Herrscher! dir allein gebührt es, liebevoll zu sehen und zu begrüßen, was unter dieser Hülle liegt!' 'Wohl', antwortete Ägisth, 'aber ruf auch Klytämnestra herbei, daß sie schaue, was sie gerne sehen wird.' 'Klytämnestra ist nicht ferne', rief Orestes. Indem lüftete der König die Decke und fuhr mit einem Schrei des Entsetzens zurück: nicht die Leiche des Orestes, wie er gehofft hatte – der blutige Leichnam Klytämnestras zeigte sich seinen Blicken. 'Weh mir', schrie er, 'in welcher Männer Netze bin ich Unglückseliger geraten?' Orestes aber donnerte ihn mit tiefer Stimme an: 'Weißt du denn nicht schon lange, daß du zu Lebendigen als zu Toten sprächest? Siehest du nicht, daß Orestes, der Rächer seines Vaters, vor dir steht?' 'Laß mich reden!' sprach zusammengesunken Ägisth. Aber Elektra beschwor den Bruder, ihn nicht anzuhören. Verstummend stießen ihn die Ankömmlinge hinein in den Palast und an demselben Orte, wo er einst den König Agamemnon im Bade gemordet, fiel Ägisth wie ein Opfertier unter den Streichen des Rächers.“
Orestsarkophag, Vatikanische Museen
Karl Philipp Moritz ist da in seiner nüchternen „Götterlehre“ einfacher zu lesen und wir bekommen gleich auch eine Zusammenfassung des Hintergrundes des eben Geschilderten:
„Als Agamemnon nun das Heer der Griechen gegen die Trojaner anführte, versöhnte er sich mit dem Ägisthus, verzieh ihm seines Vaters Tod und vertraute sogar die Sorge für Klytemnestra und für sein Haus ihm an. Ägisthus aber mißbrauchte dies Vertrauen, verleitete die Klytemnestra zur Untreue gegen den Agamemnon; und als dieser nach der Eroberung von Troja wieder in seine Heimat kehrte, ward er vom Ägisthus und seinem eigenen Weibe mitten unter dem Gastmahl ermordet, das man bei seiner Ankunft, dem Scheine nach, ihm zu Ehren mit erdichteter Freude anstellte.
Von den Kindern des Agamemnon war Iphigenie schon bei der Fahrt nach Troja, wo sie für Griechenlands Wohl geopfert werden sollte, von Dianen nach Tauris entrückt. – Orestes wurde von seiner Schwester Elektra erhalten, die ihn heimlich zu dem mit der Schwester des Agamemnon vermählten Könige Strophius schickte, welcher zu Phocis herrschte und mit dessen Sohn Pylades Orestes ein unzertrennliches Freundschaftsbündnis knüpfte. – Nur Elektra blieb zu Hause den Mißhandlungen ihrer entarteten Mutter ausgesetzt.
Klytemnestra vermählte sich nun ohne Scheu mit dem Ägisthus und setzte ihm selber die Krone auf, die er behauptete, bis Orestes in Begleitung des Pylades kam, um seines Vaters Tod zu rächen. Sie streuten ein falsches Gerücht vom Tode des Orestes aus, worüber Ägisthus und Klytemnestra, vor Freude außer sich, ihr schwarzes Verhängnis nicht ahndeten.
Orest erschlug mit eigner Hand seine Mutter und den Ägisth, die Mörder seines Vaters. Weil er aber seine Mutter getötet hatte, ward er, von den Furien verfolgt, umhergetrieben, und keine Aussöhnung vermochte das Andenken dieser Tat bei ihm auszulöschen, bis ein Orakelspruch des Apollo ihm Befreiung von seiner Qual verhieß, wenn er nach Tauris gehen und die Bildsäule der Diana von dort nach Griechenland entführen würde.
Benjamin West, "Pylades and Orestes Brought as Victims
before Iphigenia", 1766, hier gefunden
before Iphigenia", 1766, hier gefunden
Orest begab sich mit seinem getreuen Pylades auf die Reise, und als sie in Tauris anlangten, sollten sie beide oder einer von ihnen nach dem alten barbarischen Gebrauch, der alle Fremden traf, der Göttin geopfert werden. Hier war es, wo jeder der beiden Freunde großmütig sein Leben für den andern darbot.
Orestes aber gab sich seiner Schwester Iphigenie, der Priesterin Dianens, zu erkennen, und diese fand ein Mittel, die Bildsäule der Diana auf ihres Bruders Schiff zu bringen und mit ihm und seinem treuen Freunde nach Griechenland zu entfliehen. Der Orakelspruch des Apollo wurde erfüllt, Orestes ward von den quälenden Furien befreit und herrschte ruhig zu Mycene; der Zorn der Götter über Pelops' Haus schien endlich zu ermüden.“
Etwas verloren am Rande der Orangerie findet sich an der Rückseite der Hauptallee des Neustrelitzer Schloßgartens eine Kopie des antiken Orest-Sarkophages. Genauer gesagt, ist die obige ikonographische Konstellation in mehreren Ausarbeitungen erhalten (natürlich in Rom, aber auch z.B. in Cleveland (Ohio)).
Eine davon befand sich übrigens bis zum 19. Jahrhundert im nordspanischen Kloster Santa Maria de Husillos, ich erwähne das, weil ich in nachfolgend aufgeführtem Aufsatz (Stefan Trinks, „Nacktheit am spanischen Pilgerweg – Antike als Antidot“; in: „Und sie erkannten, dass sie nackt waren.“, Nacktheit im Mittelalter, Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, hrsg. von Stefan Bießenecker; University of Bamberg Press, 2008) eine bestechend klare Beschreibung der Szenerie fand, die ich deshalb einfach zitieren möchte (und nicht etwa unaufrichtig paraphrasieren).
„Für einen antiken Betrachter stellte sich das Geschehen folgendermaßen dar: Im Zentrum des Sarkophagfrieses steht Orestes als Protagonist breitbeinig und als einziger freigestellt in 'heroischer Nacktheit' , denn trotz des von ihm begangenen Muttermordes galt er dem Altertum als ein exemplum virtutis und wurde zum Sujet von Sarkophagen gewählt. Zu seinen Füßen liegen seine Mutter, die Königin Klytaimnestra und sein Stiefvater Aigisthos, der Thronräuber nach dem Mord an Orestes’ Vater. Beide hat Orestes zusammen mit seinem treuen Gefährten Pylades mit dem Schwert getötet, wovor sich Klytaimnestras Magd Nodriza links von Pylades mit einer plastischen Geste des Entsetzens abwendet.
Aufgrund dieser Bluttat verfolgen ihn von rechts zwei Erinnyen als Rachegöttinnen mit Schlangen hinter einem aufgespannten Vorhangtuch. Rechts am Rand des Sarkophages steigt Orestes über eine schlafende Erinnye, um im Apollo-Tempel zu Delphi den Schutz des Gottes vor den Rachegöttinnen zu erbitten. Links sind drei ebenfalls schlafende Erinnyen übereinander angeordnet, so dass die existenzielle Bedrohung Orestes’ durch diese Unausweichlichkeit bildlich verstärkt wird.“ (S. 39f.)
Übrigens beschreibt dort der Autor ferner faszinierend, wie sich im 11. Jahrhundert das Bildtableau des Sarkophags in lokalen (sakralen!) Bildwerken niedergeschlagen habe, und gibt zur Begründung an: Die sich neu formierenden Königreiche Nordspaniens hätten gewissermaßen den Lapsus des arabischen Interregnums in einem Brückenschlag zur hispano-römischen Antike „bewältigen“ wollen. Einer „martialischen Reconquista“ trat so eine gleichrangige kulturelle Reconquista zur Seite als „unmissverständliche Legitimierungsstrategie ihrer Anciennität gegenüber den Arabern“. Und das am Pilgerweg nach Santiago de Compostela!
Doch wir schweifen (ein wenig ab). Kehren wir zurück zu unserem „Heros“ Orest. Was natürlich verwundert, ist, welche Umstände ihn prädestinierten, das Bildprogramm eines Sarkophages zu bestimmen. Und wir spüren dann doch den Bruch zum 2. Jahrhundert nach Christus, dem wir uns sonst so gern nahe fühlen. Es fällt schwer, sich in die Jenseitsvorstellungen der Zeit hineinzubegeben. Was erwartete ein kultivierter Heide damals angesichts des Todes, wie wollte er nach demselben angesehen und erinnert werden. Als „exemplum virtutis“, so wie Orestes? Lägen da nicht Theseus oder Herakles näher?
Es ist ja überhaupt faszinierend, welche Doppelbödigkeiten der antike Geist in seinen Mythen auszubreiten vermag (als wäre die Menschheit auf einen Schlag erwachsen geworden und hätte sich von diesem Schock nie wieder erholt, allenfalls suchte sie, ihn wieder zu vergessen). Es dürfte kaum eine menschliche Konstellation geben, die er nicht zu erzählen vermag. In Sichtweite (wenn es nicht bereits dunkel wäre) haben wir an diesem Platz vor uns das Standbild des Jägers Meleagros, den seine Mutter Althaia tötete, nachdem der deren Brüder im Streit getötet hatte (siehe hier).
Die alten Griechen hatten wirklich eine Passion für's Extreme (man sehe nur den Vorfahren des Orestes, Pelops). Oder um noch einmal den Herrn Moritz zu zu zitieren: „Daß die Alten überhaupt in ihren Dichtungen das Tragische liebten, sieht man aus der ganzen Folge ihrer Götter- und Heldengeschichte. Das ungleiche Verhältnis der Menschen zu den Göttern, welches schon von ihrer Entstehung an sich offenbarte, ist fast in jeder Dichtung auf irgendeine Weise in ein auffallendes Licht gestellt.
Die Götter erhöhen und stürzen nach Gefallen. Jeder Versuch eines Sterblichen, mit ihrer Macht und Hoheit sich zu messen, wird auf das schrecklichste geahndet. Ihr zu naher Umgang bringt oft ihren Lieblingen selbst den Tod. Ihre wohltätige Macht wird von der furchtbaren überwogen.“
Das Göttliche wird von ihnen eher als Gefahr aufgefaßt, vor der man sich zu schützen habe; ein Fluch setzt sich über Generationen fort, menschliche Versuche, in dieser Wirrnis Gerechtigkeit herzustellen, vermehren nur das Übel. Immerhin steht am Ende der Geschichte des Orest ein Gerichtsverfahren, das die Sache unter Vorsitz von Pallas Athene zu lösen sucht. Aber im Grunde ist es doch eine reichlich unbehauste Weltsicht (und eine trostlose Religion, nebenbei bemerkt).
Aber vielleicht waren all dies auch die (notwendigen) Folgen eines ersten menschlichen Erwachens, das immerhin soviel Grandioses hervorbrachte, daß selbst ein Splitter Geist und Phantasie nach Jahrhunderten noch zu entzünden vermochten (und für welch edlen Zweck!). Und was mehr als ein Splitter ist schließlich so ein Sarkophag in einem Winkel eines nordspanischen Klosters?
In den Charakter des Orest mögen wir uns nun doch nicht mehr weiter vertiefen. Aber wir müssen noch erklären, warum wir mit der Ildefonso-Gruppe begonnen haben und sie oben schon wieder bringen (hier eine schöne Zusammenstellung). Vom Sarkophag kann ich nur sagen, daß er wohl zu Zeiten des Großherzogs Georg (1854) aufgestellt wurde. Der Bruder der Königin Luise war klassisch hoch gebildet, wird sich seinen Teil gedacht haben, welchen, ich weiß es schlicht nicht. Er korrespondiert aber in gewisser Weise mit der Kopie der Gruppe von San Ildefonso, die er in Marmor ebenfalls aufstellen ließ (was wir heute und jetzt gerade sehen, ist eine Nachbildung in Sandstein).
Winckelmann bspw. nämlich hielt sie für ein Darstellung von Orestes und Pylades (wir können auch heute letztlich nur mutmaßen, wer gemeint war, aber so ist es nun einmal mit Zuschreibungen, sehen wir einen Mann auf einem Eisenrost, wissen wir, ah das Martyrium des Hl. Laurentius, doch so einfach ist es halt oft nicht). Und damit wenden wir uns, zugegeben leicht unbefriedigt, von dieser Geschichte für heute wieder ab.
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