Sonntag, 29. August 2021

Mosebach oder Über eine Prozession des Ewigen

Antonio Vivaldi, „Laudate pueri Dominum“ für Sopran, Streicher und Basso continuo, c-Moll, RV 600, hier gefunden

Der gegenwärtig auf dem Stuhle Petri Sitzende hat die tridentinische Messe (also die jahrhundertealte herkömmliche) gewissermaßen wieder verboten (ausgerechnet unter dem launigen Titel "Traditionis custodes") wegen des an ein derzeit verbreitetes Argumentationsmuster gemahnenden Verdachts, die Ausüber der alten Messe hätten Böses im Sinn, genauer: 

"Aber nicht weniger macht mich ein instrumenteller Gebrauch des Missale Romanum von 1962 traurig, der immer mehr gekennzeichnet ist von einer wachsenden Ablehnung nicht nur der Liturgiereform, sondern des Zweiten Vatikanischen Konzils unter der unbegründeten und unhaltbaren Behauptung, dass es die Tradition und die 'wahre Kirche' verraten habe." 

Modernitätsverweigerer also, ungefähr so schlimm wie "Querdenker" und ähnliches Gelichter. Er hat dabei sicher die besten Absichten, mindestens so große wie seine Vorgängern Johannes XXIII. (I.) oder der andere gleichen Namens (ist auch eigentlich egal).

Nun ist mir all dies reichlich fern, das muß ich eingestehen, nein, nicht fremd, es ist mehr wie einer sich entfernenden Gestalt zuzuwinken. Aber es hat mich veranlaßt, eines der Bücher in die Hand zu nehmen, die an diesem Ort ungelesen vor sich hin schlummern: Martin Mosebach - „Häresie der Formlosigkeit“, mit dem Untertitel „Die römische Liturgie und ihr Feind“. Eine Aufsatzsammlung, die geradezu inbrünstig für die nun wieder kujonierte traditionelle Messe eintritt.

Ich bin weder berufen noch geneigt, meine entbehrlichen Kommentare dazu abzugeben, jedenfalls für den Augenblick. Für den wird es bei einer Handvoll von Zitaten bleiben. Allerdings muß ich zugeben, daß mir an dem Buch das unterschiedlich Eigene recht deutlich geworden ist. Herr Mosebach:

„Ich bekenne mich offen zu der naiven Schar, die aus der Oberfläche, der äußeren Erscheinung auf die innere Beschaffenheit und womöglich Wahrheit oder Verlogenheit einer Sache schließt. Die Lehre von den ‚inneren Werten‘, die sich in schmutziger, verkommener Schale verbergen, kommt mir nicht geheuer vor. Daß die Seele dem Körper die Form und das Gesicht, seine Oberfläche verleiht, glaubte ich schon, als ich noch nicht wußte, daß dieser Satz eine Definition des kirchlichen Lehramtes war. Mit mediterraner Primitivität glaube ich, daß eine unwahre, verlogene, gefühllose Sprache keinen Gedanken von Wert enthalten kann. Was für die Kunst gilt, muß in noch viel  höherem Maß jedoch das öffentliche Gebet der Kirche treffen; wo das Häßliche sonst nur auf das Unwahre schließen läßt, bedeutet es im Bereich der Religion die Anwesenheit des Satanischen.“ (S. 8f.)

„Ich höre und müßte längst verstanden haben, daß die Gegenstände, die mich umgeben, ohne die mindeste Bedeutung sind, daß nichts in ihnen steckt, daß alles, was ich in ihnen sehe, nur von mir – aber wer bin ich? - in sie hinein gesehen wird. Ich höre das, aber ich glaube es nicht. Ich stehe auf der tiefsten Stufe der Menschheitsgeschichte. Ich bin Animist. Wenn ich bei Doderer lese, ein Klavier ‚verharre in möbelhaftem Schweigen’, fühle ich mich verstanden.“ (S. 12f.)

Den unter Stalin ermordeten russischen Priester Pawel Florenski zitierend: „‘Unser Gottesdienst ist älter als wir und unsere Eltern, älter als selbst die Welt. Der Gottesdienst ist gleichsam nicht erfunden, sondern gefunden, gewonnen: was immer schon war... das eigentliche Wesen des Menschlichen... Deshalb steht es außer Zweifel, daß unser Gottesdienst nicht vom Menschen stammt, sondern von Engeln.‘“ (S. 17)

„Der Gegenstand der Religion ist nicht das Neue, sondern das Wahre.“ (S. 60)

„Das Zweite Gebot ist eindeutig. Nur Gott selbst kann es zurücknehmen. Und Gott hat es zurückgenommen. Er hat sein Ebenbild geschaffen. Man könnte soweit gehen und Jesus Christus das Selbstporträt Gottes nennen, denn wenn einer nach Adam Gottes Ebenbild war, dann Jesus. Seit Jesus lautet das Zweite Gebot des Dekalogs: ‚Du sollst dir von Gott ein Bild machen, und dieses Bild ist Jesus Christus.‘“ (S. 80f.)

„Es hat im Christentum von Anfang an, bereits im Konflikt zwischen Petrus und Paulus sichtbar, eine sehr unterschiedliche Haltung zum Heidentum gegeben: eine strikt und puritanisch abwehrende, die keinerlei Verbindung zwischen den ‚Greueln der Heiden‘ und dem neuen Glauben sehen wollte und eine universalistische, die das Heidentum als zweites Altes Testament ansah, in dem in Kunst und Philosophie der Heilige Geist das Kommen des Erlösers vorbereitet hatte. Daß im katholischen Priestertum Elemente des Priestertums aller Zeiten aufgehoben waren, war dieser zweiten Tradition ebenso selbstverständlich, wie es der ersten verdächtig und verhaßt war.“ (S. 158)

„Vom Untergang Konstantinopels wird berichtet, daß sich die ganze nichtkämpfende Bevölkerung der Stadt in der Hagia Sophia versammelte, um dort bei nicht abreißenden Messen ein Rettungswunder zu erflehen. Gerade dort an ihrem heiligsten Ort, der zugleich bis dahin auch das Asyl der Verfolgten war, mußten die Griechen dann die Vernichtung aller Hoffnungen, die Schändung aller bis dahin bewahrten Heiligtümer, Ausrottung und Untergang erleben. Unter den Überlebenden verbreitete sich die Geschichte, beim Eindringen der Türken habe ein Engel eine Mauer geöffnet und die zelebrierenden Priester durch den Spalt weggeführt. An derselben Stelle werde sich die Mauer einst öffnen und die für diesen zukünftigen Heilstag Aufgesparten wieder zurück in den Tempel ziehen lassen. „… das Bild der durch den Spalt verschwindenden und wiederkehrenden Prozession als Ausdruck einer Hoffnung gegen jede Vernunft und jeden Augenschein und gegen alle Gesetze der Geschichte...“ (S.152 f.)

Hagia Sophia, Theotókos

hier gefunden

Freitag, 27. August 2021

Mecklenburgische Mythen

Vergil, Detail aus dem Monnus-Mosaik, 3. Jh., Trier, hier gefunden

Die mecklenburgischen Herzöge haben sich zwar keine Aeneis schreiben lassen, aber ein wenig doch. Nicolaus Marschalk war ihr Publius Vergilius Maro, mit einer in Deutsch gefaßten Reimchronik, die wir übergehen, und mit seinem Annalium Herulorum et Vandalorum von 1521, offenkundig die Textgrundlage für eine aufwendige Bilderhandschrift von 1526. In dieser wird eine beeindruckende Ahnenreihe ausgebreitet. Das Geschlecht der mecklenburgischen Herzöge reicht nämlich zurück bis in die Zeit Alexanders des Großen! Aus der wollen wir den Anthyrius Crullus vorstellen, mit dem alles beginnt:  

Anthyrius Crullus & Symbullam

„Anthyrius, der eine Amazonin zur Mutter gehabt, ist gewesen ein Heruler von denen, so gewohnet haben oberhalb der Donau in der Gegend des Tanais, des Maeotischen Meeres und des Cimmerischen Bosphori, deren Lage ist gewesen, wie Procopius aufgezeichnet hat, an sumpfigten Oertern, welche die Griechen Haelae nennen; vermöge Jornandis ad Castalium ist er ein Kriegesobrister unter dem Macedonischen Alexander, so der Grosse genennet wurde, gewesen, und zwar so lange, bis dass derselbe durch Gift hingerichtet ward, welches in Macedonien ein Brunn, der Sucistyges heist, herfürbringet, wie der Q. Curtius im neunten Buch von den Geschichten des grossen Alexander berichtet, der mit keinem Metall, sondern nur allein mit Horn von Viehe könte gehandhabet werden; selbiges hat Cassander, des Antipaters Sohn, welcher stets nach der königlichen Hoheit trachtete, überbracht, seinem Bruder, dem Jolla, übergeben und damit des Königs letzten Tranck zu Babylon beschmitzet. 

Alexandermosaik (Ausschnitt), Haus des Fauns, Pompeji,

Als nun nach verflossenen sieben Tagen, mittelst welcher Zeit der königliche Leichnam auf dem Throne lag, unter den Vornehmsten ein Missverstand sich erhub von wegen des Königreichs und Nachfolgers in der Regierung und jedweder auf seine Wohlfahrt bedacht war, da dann ein Theil mit Gewalt sich aufzuwerfen, ein Theil - weil ihrer eine grosse Anzahl sich befand - neue Sitze und Wohnungen sich zu suchen entschlossen war, hat auch der Anthyrius sich belieben lassen davonzugehen.“

[Wir wollen die Giftmordthese nicht weiter kommentieren, nur anzeigen, daß wir seine Schilderung der Diadochenkämpfe nach dem Tode Alexanders auslassen -  es ist mehr eine ermüdende Aufzählung - und fahren fort.]

Alexanders Leichenwagen in einer Rekonstruktion aus dem 19. Jahrhundert, hier gefunden

„Hierum nun, wie der Anthyrius dieses vermercket, hat er beschlossen, nach den alten Grentzen der Herulen, wovon ihn seine Vorfahren benachrichtiget hatten, sich zu wenden. Derowegen, nachdem er in den 30 folgenden Tagen ein Kriegesvolck zusammen beschrieben, ist er mit einigen hierzu bereiteten Schiffen davongegangen und zum Könige erwehlet worden von den Seinen, welche von wegen der bunten Farbe und Zierlichkeit der Kleider oder der Waffen Obotriten sind benahmet worden, massen solches nicht ungewöhnlich war denen, die unterm Alexander Krieg führeten, wie bey dessen wegen ihrer silbernen und bunten Waffen Argiraspidae genannten Soldaten auch anzunehmen.

In diesem Kriegesheer war mit Barvanus ein Sohn des Gothischen Königs, welcher gleichmässig unter dem Alexandro gedienet hatte. Es sind etliche, welche bejahen, dass sie in den Schiffsflaggen bei ihrer Wegreise geführet haben den Kopf des Bucephali; solcher war ein Pferd des Alexanders, welches er überaus lieb hatte und damahls ritte, wie er vermittelst eines sonderbahren Kampfes den auf einem Elephanten sitzenden frechen Indianischen König Porum überwandt; da denn der Bucephalus tödlich verwundet und des Orts begraben, auch daselbst zu seinem Gedächtniss die Stadt Bucephalea gebauet worden. Es war aber dem Bucephalo auf die Beine ein Büffelskopf gebrannt, wie solches der Solinus in seiner mancherley Geschichtbeschreibung meldet, und gedencket unter andern desselbigen der Strabo im 15ten Buch der Welbeschreibung und Curtius in seinem siebenten und achten Buche. 

Die Nachkommen haben anstatt des Bucephali Kopfes aus einem Irrthum des Nahmens, wie es in uralten Dingen zu geschehen pfleget, sich gebrauchet eines Büffelskopfs, dessen sich annoch die Fürsten beyderseits gebrauchen; wiewohl die vormahls weissen Büffelshörner durch Begnadigung des Römischen Kaysers und Böhmischen Königes Caroli IV in güldene verwandelt und mit einer güldenen Crone gezieret zur nachrichtlichen Erinnerung der vor Zeiten gehabten königlichen Würde. Sie halten gleichfalls davor, dass das Vordertheil gemeldeten Schiffes bezeichnet gewesen mit einem güldenen Greiffe im blauen Felde, welches Wappens sich dann bisanhero meistens die Wenden bedienet. Des Barvani von seinen Vor-Eltern anererbtes Wappen stand hinten am Schiffe.

Ahnengalerie der Herzöge von Mecklenburg im Schweriner Schloß, Johann IV. mit Wappenschild, hier gefunden

Zu Anfang landeten sie an das Gothische Ufer, woselbsten sie gar willkommen waren und etliche Tage feyerlich zubrachten, und befand sich die mit vortrefflicher Schönheit begabte Symbulla, des Königs Tochter und Barvani Schwester, mit zugegen an der königlichen Tafel. Nachgehends kamen sie vermittelst guten Windes in die zwischen dem Cimberschen Meere und der Elbe gelegene Gegend, woselbst der Cl. Ptolomaeus im elften Kapitel seines zweiten Buches die Pharodinen setzet, davon nicht weit die Vindaler, also geheissen von Vindus (oder der Oder), wie solches der C. Plinius zu verstehen giebet in seinen Büchern von der Welt. Hiervon haben die Vandalen den Nahmen, und daher sind entstanden der Wenden Könige und deren anjetzo fürhandene fürstliche Nachkommen.

Anfangs haben sie eine grosse, mehr als fünf Meilen Weges im Umkreis sich erstreckende Stadt angeleget, welche sie Megapolis genennet, zusamt einem (nachmahls schönen und fest erbaueten) Schlosses nicht weit von der Ostsse, wovon noch alte Kennzeichen vorhanden und zum Gedächtnis annoch Megapolis geheissen wird, davon auch die Herrschaften noch heut zu Tage ihren Nahmen führen, darum dass sie auch mit den Gothen und Schweden in Bündnis sich eingelassen; ingleichen vermöge der Heyrathungen, und dass sie vermittelst Krieges anderer Oerter sich bemächtiget. 

Da sie nun anfangs von den Herulen und Wenden benennet werden, nachgehends den königlichen Titul über die Schweden und Sarmater auch erlanget haben, dass den um soviel weniger zu verwundern, weil von selbigen Fürsten noch innerhalb 100 Jahren Hertzog Albrecht zu Mecklenburg besessen hat das Königreich Schweden, das Reich, so Plinius in den Büchern von der Welt das Schwedische, das Land aber an sich selbst der Cornelius Tacitus Sveviam nennet. Über die Stadt Megapolis ist Herula (Werlen) erbauet, wovon nur der nechste Platz an der Warne noch verhanden, imgleichen noch auf einem hohen Berge das noch daselbst befindliche Stargard.

Nachdem der Anthyrius nun solcher Gestalt seinen Sitz und Königreich bestätiget, hat der Gothen Könige nicht übel gedaucht, seine Tochter, die Symbullam, ihme zu versprechen, mit welcher er viele Kinder gezeuget, worunter männliches Geschlechtes Sicherus, Anthyrius, Visibertus, Barvanus, Anavas, Domicus, Brandebardus, Friedebaldus, Thenericus, Radagasus. Der Sicherus, so von seiner Mutter Bruder mit Finnland beschencket, hat sein Vaterland verlassen. Anthyrius mit dem Zunahmen der Jüngere hat in dem Kriege, welchen er mit den Cimbern geführet, sein Leben eingebüsset; ingleichen ist auch der Barvanus, wie es mit 16 Schiffen in die Ostsee, um Feindseligkeit zu verüben, gieng, ersoffen und geblieben. Friedebaldus hat die Vandalen unter seine Herrschaft bekommen. Den Visibertum aber haben die in der Gegend der Insel Schonen wohnende Gothen erfodert und bey sich behalten.“

(Marschalk, Annalen II,I)

Nikolaus Marschalk, hier gefunden

Zusammengefaßt: Ein Offizier Alexander des Großen wandert nach dessen Tod mit seinen Leuten, die ihn zum König erheben, nach Norden, gründet eine große Stadt, begründet eine Dynastie und heiratet die Tochter des Gotenkönigs. Der Büffelkopf im Wappen ist eigentlich ein Mißverständnis, eigentlich gehört dort ein Pferdekopf hinein, von wegen des Bukephalos (von altgriechisch βουκέφαλος, „Ochsenköpfiger“, aufgrund des Brandzeichens), des Pferds Alexanders. Diese erbauliche Geschichte ist eine komplette Erfindung, jedenfalls was die Gestalt des Anthyrius angeht, allerdings eine unterhaltsame.

Dabei ist ihr Urheber nicht einmal unbedingt eine dubiose Gestalt gewesen. Nikolaus Marschalk, mit dem Zunamen Thurius (aus Thüringen), kam nach Mecklenburg als herzoglicher Rat und starb 1525 als Professor für Geschichte, Astronomie und Naturgeschichte an der Universität Rostock. Hier werden seine „zu ihrer Zeit bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen… auf dem Gebiet der lateinischen und griechischen Philologie“ gerühmt, wer also mehr zu ihm wissen will, suche dort.

Heinrich V., Herzog zu Mecklenburg, hier gefunden

Warum also diese schmeichelhafte Fiktion. Sein Dienstherr Herzog Heinrich V., wurde nicht nur zurecht als der Friedfertige gerühmt, so förderte er die Reformation in umsichtiger Weise (während der Ehrgeiz seines Bruders und Mitregenten Albrecht VII. nur noch von dessen Erfolglosigkeit übertroffen wurde), er war auch sehr an genealogischen Fragen interessiert. Und was erhöht den Ruhm eines Hauses mehr als eine weit zurückreichende Ahnenreihe?

Wenn man dann dabei selbst bis in das Sinn und Würde stiftende Altertum gelangen kann, wird die eigene Dynastie und die eigene Herkunft zu einem Teil der großen abendländischen Erzählung. Man darf mutmaßen, daß Herr Marschalk sich hier einfühlsam, entgegenkommend und erfindungsreich der Hoffnungen des Herzogs annahm. Nun mag man das tadeln, und nachdem seine Erfindungen zunächst begierig aufgegriffen und auch literarisch weitergesponnen worden sind, ist das deutlich später von seriösen Landeshistorikern auch heftig geschehen.

Aber einmal ist Gefälligkeitswissenschaft auch heutzutage nicht ganz unbekannt und dann dürfte der Schaden gegenwärtig deutlich höher liegen, während bei Marschalk ein paar Papier- und Pergamentseiten verbraucht wurden und die historische Wahrheit etwas Schaden nahm, nun ja.

Nun sind diese aufgeplusterten Ahnenreihen an sich keine originäre Erfindung Marschalks. Widukind von Corvey etwa läßt die Sachsen von Alexanders Geschlecht abstammen, Sachsenchronik und Sachsenspiegel (um 1230 entstanden) lassen sie in Alexanders Heer dienen und nach dessen Tod auswandern. 

Marschalk hat diese Erzählung gewisser als Blaupause genommen und auf die Obotriten übertragen. Er geht auch sehr geschickt vor, rollt bekanntes Historisches aus, zitiert ständig Autoritäten, wie z.B. Quintus Curtius Rufus mit seiner Alexandergeschichte oder die Gotengeschichte des Jordanes und fügt dort seine Inventiones ein, so daß man gar nicht auf den Gedanken kommt, vieles könnte frei erfunden sein oder doch „abgewandelt“.

„So ist gleich der Name des Stammvaters Anthyrius aus Orosius [Paulus Orosius, ein hispanischer Historiker und Theologe († um 418), der die erste christliche Weltgeschichte schrieb.] entlehnt und geht zurück auf den aus Herodot bekannten Skythenkönig Idanthyrsos, der den Perserkönig Darius Hystaspis in die pontischen Steppen lockte und so zum schmählichen Rückzug zwang.“ [Adolph Hofmeister: Das Lied vom König Anthyrius, in Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 61 (1896)]

Bei Hofmeister findet sich auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Marschalk und seinen Nachwirkungen. Und wir haben ja auch nur den Anfang der langen Reihe, die bei ihm noch folgt, in Augenschein genommen.

Man mag das alles als Kuriosum abtun oder als gelehrte Scharlatanerie. Aber man kann darin auch einen rührenden Versuch sehen, für Mecklenburg und sein ja tatsächlich altes Fürstenhaus einen Bogen hin zur antiken Überlieferung zu schlagen, der eine Art Rückbindung an das Innerste abendländischen Herkommens zu liefern vermag. Eine Fiktion, sicherlich. 

Aber wie sehr unterscheiden wir uns eigentlich, wenn wir uns die Geschichte gewissermaßen heimisch machen, indem wir unsere Traditionslinien in sie zu zeichnen suchen?

Paulus Orosius, 11. Jh., hier gefunden

Montag, 16. August 2021

Afghanistan


Darul-Aman-Palast 1982, hier gefunden


Darul-Aman-Palast 2015 (angeblich sei er inzwischen wieder zu 90 % aufgebaut gewesen), hier gefunden


Theodor Fontane

Das Trauerspiel von Afghanistan


Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,

Ein Reiter vor Dschellalabad hält,

„Wer da!“ – „„Ein britischer Reitersmann,

Bringe Botschaft aus Afghanistan.““


Afghanistan! er sprach es so matt;

Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,

Sir Robert Sale, der Commandant,

Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.


Sie führen in’s steinerne Wachthaus ihn,

Sie setzen ihn nieder an den Kamin,

Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,

Er athmet hoch auf und dankt und spricht:


„Wir waren dreizehntausend Mann,

Von Cabul unser Zug begann,

Soldaten, Führer, Weib und Kind,

Erstarrt, erschlagen, verrathen sind.


„Zersprengt ist unser ganzes Heer,

Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,

Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,

Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“


Sir Robert stieg auf den Festungswall,

Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,

Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,

Die uns suchen, sie können uns finden nicht.


„Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,

So laßt sie’s hören, daß wir da,

Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,

Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“


Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,

Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,

Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,

Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.


Sie bliesen die Nacht und über den Tag,

Laut, wie nur die Liebe rufen mag,

Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,

Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.


Die hören sollen, sie hören nicht mehr,

Vernichtet ist das ganze Heer,

Mit dreizehntausend der Zug begann,

Einer kam heim aus Afghanistan.



"The Char-Chatta Bazaar of Kabul", by A. Gh. Brechna, 1932, hier gefunden

Sonntag, 15. August 2021

Fürchtet euch nicht – eine Predigt


Günter Johl, "Christus als Herrscher über Gut und Böse", Altarfenster in der Kreuzkirche in Magdeburg, 1956, hier gefunden


Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis, Kreuzkirche Magdeburg

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Die Mitte des christlichen Glaubens liegt in einer einfachen Botschaft. Mit ihr beginnt Christus oft seine Reden, aber auch im Alten Testament begegnet sie uns schon häufig.

Fürchtet euch nicht!

Habt keine Angst!

Im Zusammenhang zu diesem Ruf steht also auch unser heutiger Predigttext aus dem Epheserbrief. Wir haben ihn als Epistel bereits gehört:

Aber Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, durch seine große Liebe, damit er uns geliebt hat, da wir tot waren in den Sünden, hat er uns samt Christo lebendig gemacht (denn aus Gnade seid ihr selig geworden) und hat uns samt ihm auferweckt und samt ihm in das himmlische Wesen gesetzt in Christo Jesu, auf daß er erzeigte in den zukünftigen Zeiten den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christo Jesu. 

Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, zu welchen Gott uns zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen. Amen.

Eph 2, 4-10


Liebe Gemeinde,

das ist ein Text gegen die Furcht, gegen jede Furcht. Gott wird verkündigt als derjenige, der barmherzig ist. Er hat aus Liebe die Schöpfung ins Leben gerufen und mit ihr den Menschen. Diese Liebe bestimmt sein Verhältnis zu uns. Und sie bestimmt selbstverständlich unser Verhältnis zu seiner Schöpfung, deren unlöslicher Teil wir sind. Keineswegs sind wir ihr Gegenüber und bestimmen nicht ihren Weg, vielmehr nehmen wir unseren Weg in und mit ihr. Wir werden in der Schöpfung getragen durch die Liebe, mit der Gott sie erfüllt hat.

Ina Seidel hat das unvergleichlich in ein Augustgedicht gekleidet:


∼ Augusttag ∼


Sanft - so dehnt sich mein Herz,

Segel, gehoben von Luft,

Sehnt sich weit länderwärts,

Stiller, blauer August -

Sanft so dehnt sich mein Herz. 


Silberne Fäden fliehn

An mir vorüber im Wind,

Schimmernde Wolken ziehn,

Wege bedrängen mich lind.

 

Wege verlocken mein Herz,

Einer dem andern mich gibt,

Wiesenzu, wälderwärts:

Oh, wie die Erde mich liebt! -

Sanft - so dehnt sich mein Herz ... 

© Ina Seidel


Was ist Liebe? Liebe bedeutet doch vor allem Zugehörigkeit. Zugehörigkeit wiederum lässt Eigentum entstehen. Das Besondere an der Liebe ist es aber, dass sie nicht Eigentum durch Inbesitznahme entstehen lässt, sondern dadurch, dass man sich dem Geliebten schenkt und ihm so ganz und gar zugehört. Man wird ein Teil des anderen Menschen.

Jeder Mensch, der jemals geliebt hat, kennt das. Diese Liebe nun ist uns vielleicht nur darum anvertraut, damit wir Gottes Wesen erahnen können.

Das ganz Aufsehenerregende an unserem Text ist es nun, dass er von Gottes Liebe zu seiner Schöpfung und zu uns Menschen ausgeht. In dieser Liebe liegt der Ursprung aller Dinge. Durch seine Liebe zu uns macht Gott uns zu seinem Eigentum, das er hütet, wie seinen Augapfel. Wenn wir Gottes Liebe entdecken, dann ist das der Moment unserer geistlichen Menschwerdung. In einer gewissen Weise ist es auch die Vollendung der Gottesebenbildlichkeit.

Nur in dieser Gewissheit kann der Mensch nun wiederum auch erst tatsächliche Freiheit finden. Die spezifische Freiheit des Menschen liegt in seinem Gehorsam gegenüber dieser einen Botschaft. Gott hat alles, was ist, geliebt, noch bevor es aus seinem Willen wurde. 

Darum müssen wir keine Furcht haben. Gott trägt und erhält die Welt. Durch ihn ist sie geschaffen worden und durch ihn wurde sie auch unwiderruflich gerettet.

Aus dem Nichts hat Gott seine Welt gerufen und uns Menschen in die Lage versetzt, dass wir uns sein Wort sagen dürfen. Und dieses eine Wort Gottes ist seine Liebe zu uns, die sich in Jesus Christus ausspricht.

Fürchtet euch nicht!

Werdet gewahr, dass überall dort, wo euch Angst gemacht, Furcht eingeredet wird, da will man euch von Gott trennen. Denn er spricht: Habt keine Angst!

Werdet gewahr, dass die Angst euch zu Tode lähmen will. In der Angst liefert ihr euch dem Tode aus und nehmt ihn mitten im Leben vorweg. 

Aber Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, hat uns samt Christo lebendig gemacht. Aus Gnade werden wir selig.

Werdet gewahr, dass immer wieder Menschen aufstehen, die wollen Türme bauen, die bis in den Himmel reichen. Die wollen aber nichts Gutes für euch. Die wollen sich nur einen Namen machen.

Louis de Caullery, König Nimrod befiehlt den Bau des Turms zu Babel, hier gefunden

Ihr aber seid aus Gnade selig geworden durch den Glauben, nicht aus den Werken, dass sich nicht jemand rühme. Durch Gnade werden eure Namen bewahrt. Darum muss sich niemand einen Namen machen.

Fürchtet euch nicht!

Was aber ist dieser Glaube? Schnell wird er zur bloßen Vertröstung. Glaube wird zum Festhalten an einen Gott, der es am Ende richten soll. Das gelänge am besten, wenn Gott sich an die vielfältigen Ratschläge hielte, die wir ihm, als Bitten verpackt, in den Gebeten aufladen.

Das alles hat mit christlichem Glauben wenig zu tun. Glaube ist hier das Aufmerksamwerden darauf, dass Gott mich und seine ganze Schöpfung inbrünstig liebt. 

Der Glaube ist eine geschenkte und auch erlernte Gabe, durch die wir überall Liebe entdecken. Wir entdecken eine Liebe, auf die es nur eine Antwort gibt: Demut!

Es ist eine Tragödie, dass von diesem Wort in unserem Alltag kaum mehr übriggeblieben ist als die Demütigung, die fast so etwas wie das Synonym der Entwürdigung ist. Die christliche Demut hat damit rein gar nichts zu tun.

Demütig wird man in dem Moment, in dem man erkennt, dass man Gott bislang in eine Seitenkapelle verbannt und in religiöse Rituale eingesponnen hatte. Wir neigen dazu, ihn zu einem fernen Gott zu machen, an den wir uns wenden können, wenn uns danach ist, oder wenn wir meinen, dass es nötig oder richtig oder opportun sein könnte.

Das ist aber nicht Gott. Das ist dann immer nur ein Götze, bestenfalls ein Abbild Gottes. Hier könnte nun ein Exkurs darüber folgen, ob darin wohl die Ursache für das strenge Bilderverbot der Tora liegt. Darum soll es heute aber nicht gehen.

Heute fragen wir nach der Demut, der Gott mit Gnade begegnet. Diese Demut erfasst uns, wenn wir die Allgegenwart Gottes erfahren. Gott ist in seiner ganzen Schöpfung präsent, denn er hat ihr die Liebe als alles erfassende Kraft eingepflanzt und ist in ihr selbst gegenwärtig.

Diese Liebe ist so mächtig, dass auch die böseste Absicht, die schrecklichste Tat, die äußerste Grausamkeit und die tiefste Gottlosigkeit vor ihr keinen Bestand haben.

Fürchtet euch nicht!

Carl Ebert, Das zerstörte Jerusalem, 1869, hier gefunden

Rembrandt, Jeremia beklagt den Untergang Jerusalems, 1630, 

Dort, wo diese Demut sich mit dem Glauben verbindet, da ist kein Platz mehr für den Hochmut der großen Tat, mit der die Verhältnisse gebessert, die Gerechtigkeit vergrößert und überhaupt die Welt gerettet werden soll. Es braucht keine Türme mehr, die bis in den Himmel hinaufragen, denn der Allmächtige neigt sich ganz zu uns herab. Wir erblicken den, der die Welt in Händen hält und der sie in Christus auch längst gerettet hat.

Demütig und ohne Angst wenden wir uns ihm zu. Dieser Mensch bleibt nun keineswegs tatenlos. Seine Werke beginnen aber immer darin, dass sie Ausdruck seiner Dankbarkeit gegen Gott sind. Dankbarkeit gegen Gott verweist uns in großer Strenge aber eben auch in Wahrhaftigkeit auf unser menschliches Maß und auf das Menschenmögliche. 

Was gäbe ich darum, wenn unter uns wieder mehr vom Menschenmöglichen die Rede wäre! Wieviel mehr würden wir vermutlich erreichen, wenn wir nicht mehr hochmütig nach dem Unmöglichen strebten.

Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade!

Von Gott aber sollen wir alles erwarten, denn unsere Demut und seine Gnade, unser Glaube und seine Liebe, unser Bitten und seine Barmherzigkeit, sie erhalten die Welt.

Darum: Fürchtet euch nicht!

Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn.

Amen

Thomas Roloff

J.S. Bach, „Was frag ich nach der Welt“, Kantate BWV94

hier gefunden

Montag, 2. August 2021

Hindenburg

 


Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg

* 2. Oktober 1847  -  † 2. August 1934