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Samstag, 31. August 2024

Über die Vergangenheit und verstörende Irrtümer

 

 Slovenian: Pogodbeniki Svete alianse, 1860s, von hier

Es ist nicht ungewöhnlich, sich darüber Gedanken zu machen, wann und vor allem warum unser stolzes Vaterland in den desolaten Zustand geraten ist, in dem es nun mal ist (daß das Vereinigte Königreich und das republikanische Frankreich überraschenderweise weit mehr fertig sind, tröstet da auch nicht, sondern ist eher irrelevant). Es folgt ein Erklärungsversuch des Herrn Roloff.

Dreikaisertreffen in Skierniewice am 17.September 1884, von hier



Die Ursachen für die Zerstörung Europas

Ein Manifest


Bis in den März des Jahres 1890 hinein bestand Einvernehmen zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Russland. Dieses hatte Tradition bis zurück in die Zeit der Befreiungskriege und war nach 1867 durch Bismarck mit größter Sorgfalt gepflegt worden. Im Ergebnis seiner Diplomatie wachten ein protestantischer, ein katholischer und ein orthodoxer Kaiser gemeinsam über die Interessen des christlichen Europas. Gemeinsam waren sie eine unangreifbare Macht.

In einer gewissen Weise war diese Konstellation, bei aller fortbestehenden Konkurrenz, eine geradezu zwangsläufige und notwendige Folge aus den beiden tödlichen Bedrohungen, denen Europa permanent ausgesetzt gewesen ist.

Bereits seit Jahrhunderten bestand mit der Türkengefahr die Möglichkeit einer Unterwerfung des christlichen Kontinents unter den muslimischen Glauben. Aus der Abwehr dieser Gefahr hat sich gleichsam überhaupt erst so etwas wie ein europäisches Bewusstsein gebildet. Letztmalig war dies am 12. September 1683 am Kahlen Berge vor Wien deutlich unter Beweis gestellt geworden.

Die andere tödliche Gefahr war Europa aus dem Atheismus der Französischen Revolution nach 1789 erwachsen. In den Koalitionskriegen und später in den Befreiungskriegen schuf sich eine christlich-monarchische Solidarität, die geradezu als das Werte-Fundament für die drei Kaisermächte bezeichnet werden muss.

Das Zerbrechen ihres Einvernehmens 1890 markiert den Beginn des traurigen Abstiegs und des Weges in die Selbstzerstörung Europas, wie sie sich zwischen 1914 und 1945 militärisch und seitdem kulturell abgespielt haben.

Denn das Ende der Drei-Mächte-Konstellation zum Schutze Europas hatte ein Zusammengehen Russlands mit der revolutionären Macht Frankreich zur Folge und das Reich orientierte sich auf den Nahen Osten und wurde im Ergebnis Bündnispartner der Osmanen. Diese im wahrsten Sinne „über Kreuz liegenden“ Bündnisse, banden Europa gleichsam den Strick um den Hals.

Wer immer Europa schwächen oder auch nur schaden wollte, der musste von nun an nur noch an einem beliebigen Ende zu ziehen beginnen. Es war eine ganz und gar unnatürliche, geradezu widersinnige Situation entstanden.
Die Franzosen begannen für möglich zu halten, dass man die nach 1871 eingetretenen Realitäten wieder ändern könnte und Russland wiederum glaubte, dass der Weg nach Konstantinopel durch das Brandenburger Tor führen würde.

Das Ergebnis dieses Verhängnisses war nach dem Ersten Weltkrieg das völlige Verschwinden des traditionsreichen österreichischen Kaisertums und die extreme Schwächung der beiden anderen Mächte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland geteilt und es blieben ein nur scheinbar übermächtiges Sowjetrussland und der von Amerika dominierte Westen. Europa, in dem vor dem Ersten Weltkrieg fünf Großmächte bestanden, hatte Macht und Mitte verloren.

Eine Erholung oder gar eine Renaissance Europas war so bis 1990 verhindert. Mit der Einheit der Deutschen veränderte sich zum zweiten Male alles. Wie sehr das der Fall war, wird erst seit dem Beginn des Ukraine-Krieges vollständig sichtbar.

Statt einer Gesundung wird seit zwei Jahrzehnten eine Islamisierung des Kontinents, wenn nicht betrieben, dann doch zugelassen und die atheistische revolutionäre Ideologie ist inzwischen in fast allen Staaten geradezu Staatsräson. Das bedeutet nichts anderes als dass man die beiden großen Gefahren, gegen die sich das Abendland erwehren musste und aus deren Abwehr sich ein politisch-kulturelles Europa einstmals überhaupt erst gebildet hatte, ins Innere gelassen hat und die Auswirkungen ihrer Anwesenheit preist man als das neue Europa. Eine größere Perversion der Begriffe kann es kaum geben.

Ob überhaupt noch die Chance einer erneuten Abwehr besteht, ist mehr als ungewiss. Es müsste dazu ein Erwachen des Glaubens geben, wie wir es überhaupt noch nicht erlebt haben. Es bräuchte den Aufbruch des Christentums.

Die einzige bereits anstehende Aufgabe ist die der Bereitschaft zum ernsthaften Gebet. Betet darum, Brüder und Schwestern, dass Gott sich über Europa erbarmt. Jede weltliche Ordnung muss, wenn sie dauerhaft Legitimation besitzen will, Gleichnis und Verheißung von Gottes ewiger Ordnung sein. Überall, wo sich dieser Gedanke verliert, bleiben nur Ideologie und Willkür. 

Thomas Roloff


Sonntag, 22. Oktober 2023

Die letzten Kampfspiele - eine Oktobererinnerung

 



Die Stille zuvor




Es gibt sie noch, die wehrfähig wie willige Jugend.


Eine Veranstaltung im Neustrelitzer Slawendorf, gewissermaßen als Memorialversammlung, um den 21. Oktober herum...





… als ausgeübte Erinnerung daran gewissermaßen, wie es war, als man sich seiner noch zu erwehren wußte.

nachgetragen am 6. Dezember

Samstag, 8. April 2023

Dem Karfreitag nachgetragen und aus den Türkenkriegen

Cesare da Sesto, ca. 1515, von hier

Eine Geschichte aus Zeiten, als man sich noch zu wehren wußte, und vor allem wollte, und eine Vorstellung davon hatte, warum. Und noch wichtiger: Als nicht alles zerfallen war zwischen denen, die das Land, in das sie gemeinerweise hineingeboren worden sind, hassen, und denen, die, mühsam erwachend, nicht wissen, wie ihnen geschieht, und was sie mit all dem anfangen sollen.

Agnus Dei - Samuel Barber, von hier

 Bach - Agnus Dei - H - moll - Messe, BWV 232, von hier

  Bach - Agnus Dei - H - moll - Messe, BWV 232, Karl Richter, 1969 

von hier

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.


O Lamm Gottes, unschuldig

Unsere Geschichte handelt von einem geistlichen Lied, das in den Türkenkriegen eine überraschende Rolle gespielt hat. Es kommt vom Agnus – Dei – Hymnus her, von dem wir nicht nur die wunderbarsten Vertonungen besitzen, sondern eben auch deutsche Nachdichtungen. Und um eine solche handelt es sich im folgenden. Ich lasse nunmehr ausschließlich Herrn Paul Dorsch und sein deutsches evangelisches Kirchenlied in Geschichtsbildern zu Wort kommen.

"Die alte Kiche liebte besonders solche Lieder, welche ausschließlich Schriftgedanken und Bibelworte enthielten. So wurde denn auch das auf Joh. 1,29 gegründete 'Agnus Dei' schon im siebten Jahrhundert am Sonntagmorgen und bei der Abendmahlsfeier regelmäßig gesungen...

Der Gesang dieses Liedes, dessen heutige Textfassung... in einem Gesangbuch von 1531 erstmals erscheint, hat im Jahre 1717 einem von den Türken bereits gekreuzigten Christen das Leben gerettet. 

Kurfürst Max Emanuel und Ludwig von Baden in Ofen 

Aus dem durch die Familie Harms später rühmlich bekannt gewordenen Dorfe Hermannsburg in Hannover war ein Herr von Staffhorst mit zwei Reitknechten in den Türkenkrieg gezogen. Beim Sturm auf Belgrad fiel er, wie kurz zuvor der eine Knecht. Der andere aber, Peter Paasch, geriet in der Hitze der Verfolgung mitten unter die fliehenden Feinde, an denen er den Tod seines Herrn hatte rächen wollen. 

Er wurde von ihnen gefangengenommen. Aller Kleider beraubt und an den Schweif seines Pferdes, das jetzt ein Türke ritt, gebunden, mußte er barfuß mitspringen über Stock und Stein, bis am Abend ein Wald erreicht war, der den Türken eine gewisse Sicherheit zu bieten schien. 

Wie die Türcken mit den gefangenen Christen handlen, Erhard Schön, nach 1530, von hier

Hier wurde Paasch unter schrecklichen Drohungen aufgefordert, ein Kreuz, das sie schnell aus Baumzweigen zusammengefügt hatten, anzuspucken, und damit den Herrn Christus zu verleugnen. Er aber weigerte sich dessen und schlug seinerseits jeden, der dies tat, ins Gesicht. 

Verlangten die Türken, daß er den Namen 'Mohammed' ausspreche, so sagte er: 'Jesus Christus'. Da schlugen sie ihn mit Peitschen und Stöcken, stachen ihn mit Messern und Dolchen, nagelten ihm zuletzt beide Hände über den Kopf an einen Baumstamm und zündeten zu seinen Füßen ein Feuer an, um ihn entweder zur Verleugnung zu zwingen oder dem Feuertode zu überantworten. 

Er hatte im Kampfe mehrere aus dieser Türkenschar niedergehauen, daher kam der besondere Haß gegen ihn. Ruhig erwartete Paasch sein Ende. Er betet laut das Vaterunser, hernach begann er, da ein rechter Geist der Freudigkeit über ihn gekommen war, für seine Mörder zu beten und mit heller Stimme zu singen: 'O Lamm Gottes unschuldig, am Stamm ds Kreuzes geschlachtet.' 

Kaum war er mit Vers 3 zu Ende gekommeen, da hörte man von draußen vor dem Walde Trompetengeschmetter, und deutsche Reiter stürmten heran. Zur Verfolgung ausgesandt, hatten sie den Gesang im Walde gehört und zueinander gesagt: ' Drauf! Das muß ein Christ sein!'. So kamen sie gerade noch rechtzeitig, um den treuen Paasch, der ohnmächtig und aus vielen Wunden blutend in ihre Arme fiel, vom Tode zu erretten. Prinz Eugen von Savoyen, der berühmte Feldherr, ließ den Verwundeten aufs beste verpflegen, besuchte ihn selbst mehrmals im Feldspital und freute sich über seinen kindlichen, einfältigen Glauben.

 Jacob van Schuppen, Prinz Eugen von Savoyen, 1718, von hier

Aber mit dem Kriegsdienst war es nun doch nichts mehr bei Paasch. Dafür wurde ihm eine fröhliche Heimkehr zuteil nach seiner Wiederherstellung. Er starb 1727 auf seinem Paaschenhof, nachdem er eben noch zum letzenmal gesungen: 'O Lamm Gottes unschuldig."

aus Paul Dorsch: "Das deutsche evangelische Kirchenlied in Geschichtsbildern", 3. Aufl. Stuttgart 1940

Was mir nur noch in den Sinn kam: Gegen Irrsinn und Gewalt auch dieser Zeit kommt man am Ende mit Vernunft nicht an, sondern nur mit Glauben.

nachgetragen am 4. Mai

Donnerstag, 23. März 2023

Heute vor 90 Jahren im Reichstag

Berliner Krolloper um 1890

Nachdem am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, brannte bereits in der Nacht zum 28. Februar 1933 der Reichstag: In der Wahl vom 5. März gewannen NSDAP und DNVP gemeinsam die absolute Mehrheit der Sitze. Da der bisherige Tagungsort nicht nutzbar war, wich man auf die nahe gelegene Krolloper aus. Sie ist der Ort der nachfolgenden Ereignisse.

Am 23. März 1933 wurde gegen die Stimmen der SPD, aber mit denen aller übrigen Parteien (aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat waren die Mandate der KPD annulliert worden) das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“ beschlossen, das die Reichregierung ermächtigte, ohne das Parlament Gesetze zu erlassen. Es wurde mehrfach verlängert. Infolgedessen diente der Reichstag in den seltenen folgenden Zusammenkünften der Parlamentarier nur noch als Podium für öffentliche Auftritte Adolf Hitlers, so etwa am 6. Oktober 1939 bei der Verkündung des Sieges über Polen.

Adolf Hitler vor dem Reichstag in der Kroll-Oper zum Abschluß des Feldzugs gegen Polen, Quelle Bundesarchiv 

Es mag verwundern, wenn ich nachfolgend die Rede eines einmal führenden Politikers der SPD vollständig anbringe. Aber der für manchen überraschende, in jedem Fall aufschlußreiche Inhalt rechtfertigt dies vollauf, vom Anlaß völlig abgesehen. 

Es handelt sich um die Rede des Reichstagsabgeordneten und SPD-Vorsitzenden Otto Wels in der Sitzung des Reichstags vom 23. März 1933 in der Debatte über das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (Ermächtigungsgesetz).

Otto Wels (1873 – 1939) 1924, von hier

Otto Wels (SPD) Rede zur Begründung der Ablehnung des Ermächtigunsgesetzes

"Meine Damen und Herren! Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten umso nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben.

Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, dass ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der Berner Konferenz, am 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin.

Der Versailler Vertrag wurde am 28. Juni 1919 zwischen dem Deutschen Reich einerseits sowie Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten andererseits geschlossen und beendete den Ersten Weltkrieg, er war ohne Beteiligung Deutschlands ausgehandelt worden und stellte die alleinige Schuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ausbruch des Weltkriegs fest, verpflichtete es zu Gebietsabtretungen, Reparationszahlungen an die Siegermächte und stark reduzierten eigenen Verteidigungskräften. 

William Orpen: Vertragsunterzeichnung in der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles 1919, von hier

Nie hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten.

Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben. Er lautet: 'Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft.' Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder.

Am 21. März 1933 fand in der Potsdamer Garnisonkirche ein Staatsakt zur Eröffnung des aus den Wahlen vom 5. März 1933 hervorgegangen Reichstages statt. Otto Wels zitiert aus der Ansprache Hitlers bei diesem Anlaß. Bild: Reichskanzler Adolf Hitler verneigt sich vor Reichspräsident Paul von Hindenburg und reicht ihm die Hand. Photo von hier.

Auch hier ist die Theorie von ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichskanzler sagte, ein Aberwitz. Das Wort des Herrn Reichskanzlers erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: 'Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos.'

'Gewiss, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber dass dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzen Atemzug.'

-- Das steht in einer Erklärung, die eine sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den Weitervormarsch der Feinde zu verhindern. - Zu dem Ausspruch des Herrn Reichskanzlers bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung. Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen; Im Innern erst recht nicht.

Eine wirkliche Volksgemeinschaft lässt sich auf ihn nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag sie Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten selbst mit Strenge verhindern. Das mag geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht, und wenn man es unterläßt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei.

Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.

Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht.

Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muss sich umso schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.

Meine Damen und Herren! Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es auch nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: Wir haben weder in Paris um Intervention gebeten, noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht.

Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inlande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen scheidet.

Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, dass die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei.

Das, meine Herren, liegt bei Ihnen.

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesen ist und auch bleiben wird. Sollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz.

Eine erdrückende Mehrheit wäre Ihnen in diesem Hause gewiß. Jeder von Ihnen im Interesse der Arbeiter, der Bauern, der Angestellten, der Beamten oder des Mittelstandes gezielte Antrag könnte auf Annahme rechnen, wenn nicht einstimmig, so doch mit gewaltiger Majorität.

Aber dennoch wollen Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es wartet auf durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt herrscht.

Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden.

Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen.

Beisetzung von Essener Opfern am 10. April 1923, Bild von hier

Otto Wels spricht die Besetzung des Ruhrgebiets an: Ab 8. März 1921 besetzten französische und belgische Truppen die Städte Duisburg und Düsseldorf, ab 11. Januar 1923 dann das gesamte Ruhrgebiet bis Dortmund, vorübergehend auch Teile des bergischen Industriegebiets (Remscheid und Lennep) sowie Barmen. Die Alliierten hatten inzwischen statt Reparationen in Form von Geld, Sachleistungen (Stahl, Holz, Kohle) gefordert. Am 9. Januar 1923 erklärte die alliierte Reparationskommission, Deutschland halte absichtlich Lieferungen zurück (unter anderem seien 1922 nur 11,7 Millionen statt der geforderten 13,8 Millionen Tonnen Kohle und nur 65.000 statt 200.000 Telegraphenmasten geliefert worden). Dies nahm Frankreich zum Anlaß, in das Ruhrgebiet einzumarschieren. Die Besetzung, die auch mehrfach zu Toten unter der deutschen Zivilbevölkerung geführt hatte, endete im August 1925.

Denkmal für die belgische Besatzung am Niederrhein in Kleve-Kellen bei Haus Schmithausen. Vorderseite: "Zur Erinnerung an schwere Besatzungszeit 1918 - 1926", Bild von hier

Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.

Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben.

Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.

Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.

Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.

Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht -- verbürgen eine hellere Zukunft."

Freitag, 25. März 2022

George - eine alte Frau, die wie ein alter Mann aussieht - Lektüreempfehlung

Hans Makart, Charlotte Wolter als „Messalina“, ca.1875, Bild von hier

Herr Klonovsky bespricht in einem seiner jüngsten Beiträge vor allem das Buch „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten” von Friedrich Torberg. Es handele vom Wien und Prag der Vor- und Zwischenkriegszeit. Für Torberg, von dem die hinreißende Wortprägung vom „inneren Doppeladler” stamme, sei der „Untergang Österreichs eine der katastrophalsten Humorlosigkeiten der Weltgeschichte” gewesen.

Es scheint ihm eine Art Trostbuch geworden zu sein, „als jemand, der die heutigen kulturlosen und geistfeindlichen Verhältnisse, unter denen es den woken Garden so kannibalisch wohl geht als wie fünfhundert Säuen, mit angewidertem Hohn betrachtet.“ 

Wiener Café Griensteidl vor 1897, Photo für die Illustrierte "Die vornehme Welt“, Bild von hier

Tatsächlich kann die Melancholie, die einen angesichts des Verlusts der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) befällt, auch etwas schmerzlich Tröstliches haben. Vielleicht, weil sie einem so ganz Anderes ins Bewußtsein ruft und die Umklammerung der Gegenwart dabei für diesen Augenblick lockert, indem sie die Weiten des Möglichen aufzeigt, und zwar einmal real gewordenem Möglichen.

Ihm ist es also gelungen, was mir gegenwärtig eher versagt ist, angesichts des Grusels der Zeiten mit aufbauend Unterhaltsamem aufzutreten.

Wien, Café Central

Da bei ihm besonders die Wiener Kaffeehauskultur gerühmt wird, will ich doch an eine bekannte Anekdote erinnern, die der Herr Bruno Kreisky in einer Pressekonferenz in die Welt gesetzt hat: Sein Vater, während des Ersten Weltkriegs Stammgast im Café Central, habe sie mit eigenen Ohren gehört. 

Heinrich Graf Clam-Martinic soll nämlich auf die Nachricht von der Revolution in Rußland hin erwidert haben:„Gehen S’! Wer soll denn in Rußland Revolution machen? Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?“. Lew Dawidowitsch Bronstein, schachspielender Stammgast in besagtem Haus, ist geläufiger unter seinem Künstlernamen Leo Trotzki. 

Das nur als Erinnerung, daß auch kultur- und geistvolle Orte nicht davor gefeit sind, daß an ihnen recht Übles ausgebrütet wird. Wir wollen die Idylle also nicht auf die Spitze treiben.

Nachfolgend weiter unkommentiert 4 der Anekdoten. Mehr als eine Einladung, den ganzen Beitrag dort zu lesen.

***

„Rudolf Kommer, eine Art Faktotum des Regisseurs Max Reinhardt, stammte aus Czernowitz und wurde wegen seiner Herkunft und seines Idioms oft geneckt. Als Reinhardt einen seiner berühmten Empfänge auf Schloss Leopoldskron anlässlich der Salzburger Festspiele gab, wir verweilen Anfang der 1930er, befand sich unter den Gästen der Generaloberst Hans von Seeckt, ‚ein ungemein artikulierter, feinsinniger, dem Theatermann Reinhardt verehrungsvoll zugetaner Kunstfreund‘. Kommer war auch an diesem Abend mit Anspielungen auf Czernowitz gehänselt worden und fühlte sich bemüßigt, dem Besucher aus Preußen die Hintergründe zu erklären.

‚Sie müssen wissen, Exzellenz, daß ich aus Czernowitz stamme‘, begann er. ‚Czernowitz liegt im Osten der ehemaligen Habsburgermonarchie und steht im Ruf –‚

Seeckt wehrte mit einer knappen Handbewegung ab. ‚Danke‘, schnarrte er. ‚Habe die Stadt zweimal eingenommen.‘”

***

Anton Kuh, ein „literarische(r) Bohemien und geniale(r) Stegreifredner beschrieb ein Porträt von Stefan George mit den Worten: ‚Er sieht aus wie eine alte Frau, die wie ein alter Mann aussieht.‘”

Stefan George, Photo von Theodor Hilsdorf

***

„Ein anderer Emigranten-Stoßseufzer aus London: ‚Regnen – das können sie!‘

Oder:

‚Na, wie gefällt’s Ihnen in New York, Frau Zwicker?‘

‚Wie soll es mir gefallen am Balkan?‘”

***

Sándor Hevesi, Direktor des ungarischen Nationaltheaters nahm die Klage eines jungen Regisseurs entgegen, der vor seinem Hauptdarsteller in einer Inszenierung des King Lear geflohen war. “Hevesi hört sich seine Beschwerde ruhig an und sagt beschwichtigend: ‚Lieber junger Freund, Sie dürfen sich nicht kränken, und Sie dürfen sich nicht wundern. Bedenken Sie doch, mit wem Sie es zu tun haben: ein erwachsener Mensch, der sich jeden Abend einen Bart ins Gesicht klebt – schreit, daß er der König ist – und glaubt’s!‘”

Gibson-Zimmer im Café Museum, 19. April 1899 (Tag der Eröffnung), Adolf Loos am rechten Bildrand stehend, Bild von hier

Freitag, 27. August 2021

Mecklenburgische Mythen

Vergil, Detail aus dem Monnus-Mosaik, 3. Jh., Trier, hier gefunden

Die mecklenburgischen Herzöge haben sich zwar keine Aeneis schreiben lassen, aber ein wenig doch. Nicolaus Marschalk war ihr Publius Vergilius Maro, mit einer in Deutsch gefaßten Reimchronik, die wir übergehen, und mit seinem Annalium Herulorum et Vandalorum von 1521, offenkundig die Textgrundlage für eine aufwendige Bilderhandschrift von 1526. In dieser wird eine beeindruckende Ahnenreihe ausgebreitet. Das Geschlecht der mecklenburgischen Herzöge reicht nämlich zurück bis in die Zeit Alexanders des Großen! Aus der wollen wir den Anthyrius Crullus vorstellen, mit dem alles beginnt:  

Anthyrius Crullus & Symbullam

„Anthyrius, der eine Amazonin zur Mutter gehabt, ist gewesen ein Heruler von denen, so gewohnet haben oberhalb der Donau in der Gegend des Tanais, des Maeotischen Meeres und des Cimmerischen Bosphori, deren Lage ist gewesen, wie Procopius aufgezeichnet hat, an sumpfigten Oertern, welche die Griechen Haelae nennen; vermöge Jornandis ad Castalium ist er ein Kriegesobrister unter dem Macedonischen Alexander, so der Grosse genennet wurde, gewesen, und zwar so lange, bis dass derselbe durch Gift hingerichtet ward, welches in Macedonien ein Brunn, der Sucistyges heist, herfürbringet, wie der Q. Curtius im neunten Buch von den Geschichten des grossen Alexander berichtet, der mit keinem Metall, sondern nur allein mit Horn von Viehe könte gehandhabet werden; selbiges hat Cassander, des Antipaters Sohn, welcher stets nach der königlichen Hoheit trachtete, überbracht, seinem Bruder, dem Jolla, übergeben und damit des Königs letzten Tranck zu Babylon beschmitzet. 

Alexandermosaik (Ausschnitt), Haus des Fauns, Pompeji,

Als nun nach verflossenen sieben Tagen, mittelst welcher Zeit der königliche Leichnam auf dem Throne lag, unter den Vornehmsten ein Missverstand sich erhub von wegen des Königreichs und Nachfolgers in der Regierung und jedweder auf seine Wohlfahrt bedacht war, da dann ein Theil mit Gewalt sich aufzuwerfen, ein Theil - weil ihrer eine grosse Anzahl sich befand - neue Sitze und Wohnungen sich zu suchen entschlossen war, hat auch der Anthyrius sich belieben lassen davonzugehen.“

[Wir wollen die Giftmordthese nicht weiter kommentieren, nur anzeigen, daß wir seine Schilderung der Diadochenkämpfe nach dem Tode Alexanders auslassen -  es ist mehr eine ermüdende Aufzählung - und fahren fort.]

Alexanders Leichenwagen in einer Rekonstruktion aus dem 19. Jahrhundert, hier gefunden

„Hierum nun, wie der Anthyrius dieses vermercket, hat er beschlossen, nach den alten Grentzen der Herulen, wovon ihn seine Vorfahren benachrichtiget hatten, sich zu wenden. Derowegen, nachdem er in den 30 folgenden Tagen ein Kriegesvolck zusammen beschrieben, ist er mit einigen hierzu bereiteten Schiffen davongegangen und zum Könige erwehlet worden von den Seinen, welche von wegen der bunten Farbe und Zierlichkeit der Kleider oder der Waffen Obotriten sind benahmet worden, massen solches nicht ungewöhnlich war denen, die unterm Alexander Krieg führeten, wie bey dessen wegen ihrer silbernen und bunten Waffen Argiraspidae genannten Soldaten auch anzunehmen.

In diesem Kriegesheer war mit Barvanus ein Sohn des Gothischen Königs, welcher gleichmässig unter dem Alexandro gedienet hatte. Es sind etliche, welche bejahen, dass sie in den Schiffsflaggen bei ihrer Wegreise geführet haben den Kopf des Bucephali; solcher war ein Pferd des Alexanders, welches er überaus lieb hatte und damahls ritte, wie er vermittelst eines sonderbahren Kampfes den auf einem Elephanten sitzenden frechen Indianischen König Porum überwandt; da denn der Bucephalus tödlich verwundet und des Orts begraben, auch daselbst zu seinem Gedächtniss die Stadt Bucephalea gebauet worden. Es war aber dem Bucephalo auf die Beine ein Büffelskopf gebrannt, wie solches der Solinus in seiner mancherley Geschichtbeschreibung meldet, und gedencket unter andern desselbigen der Strabo im 15ten Buch der Welbeschreibung und Curtius in seinem siebenten und achten Buche. 

Die Nachkommen haben anstatt des Bucephali Kopfes aus einem Irrthum des Nahmens, wie es in uralten Dingen zu geschehen pfleget, sich gebrauchet eines Büffelskopfs, dessen sich annoch die Fürsten beyderseits gebrauchen; wiewohl die vormahls weissen Büffelshörner durch Begnadigung des Römischen Kaysers und Böhmischen Königes Caroli IV in güldene verwandelt und mit einer güldenen Crone gezieret zur nachrichtlichen Erinnerung der vor Zeiten gehabten königlichen Würde. Sie halten gleichfalls davor, dass das Vordertheil gemeldeten Schiffes bezeichnet gewesen mit einem güldenen Greiffe im blauen Felde, welches Wappens sich dann bisanhero meistens die Wenden bedienet. Des Barvani von seinen Vor-Eltern anererbtes Wappen stand hinten am Schiffe.

Ahnengalerie der Herzöge von Mecklenburg im Schweriner Schloß, Johann IV. mit Wappenschild, hier gefunden

Zu Anfang landeten sie an das Gothische Ufer, woselbsten sie gar willkommen waren und etliche Tage feyerlich zubrachten, und befand sich die mit vortrefflicher Schönheit begabte Symbulla, des Königs Tochter und Barvani Schwester, mit zugegen an der königlichen Tafel. Nachgehends kamen sie vermittelst guten Windes in die zwischen dem Cimberschen Meere und der Elbe gelegene Gegend, woselbst der Cl. Ptolomaeus im elften Kapitel seines zweiten Buches die Pharodinen setzet, davon nicht weit die Vindaler, also geheissen von Vindus (oder der Oder), wie solches der C. Plinius zu verstehen giebet in seinen Büchern von der Welt. Hiervon haben die Vandalen den Nahmen, und daher sind entstanden der Wenden Könige und deren anjetzo fürhandene fürstliche Nachkommen.

Anfangs haben sie eine grosse, mehr als fünf Meilen Weges im Umkreis sich erstreckende Stadt angeleget, welche sie Megapolis genennet, zusamt einem (nachmahls schönen und fest erbaueten) Schlosses nicht weit von der Ostsse, wovon noch alte Kennzeichen vorhanden und zum Gedächtnis annoch Megapolis geheissen wird, davon auch die Herrschaften noch heut zu Tage ihren Nahmen führen, darum dass sie auch mit den Gothen und Schweden in Bündnis sich eingelassen; ingleichen vermöge der Heyrathungen, und dass sie vermittelst Krieges anderer Oerter sich bemächtiget. 

Da sie nun anfangs von den Herulen und Wenden benennet werden, nachgehends den königlichen Titul über die Schweden und Sarmater auch erlanget haben, dass den um soviel weniger zu verwundern, weil von selbigen Fürsten noch innerhalb 100 Jahren Hertzog Albrecht zu Mecklenburg besessen hat das Königreich Schweden, das Reich, so Plinius in den Büchern von der Welt das Schwedische, das Land aber an sich selbst der Cornelius Tacitus Sveviam nennet. Über die Stadt Megapolis ist Herula (Werlen) erbauet, wovon nur der nechste Platz an der Warne noch verhanden, imgleichen noch auf einem hohen Berge das noch daselbst befindliche Stargard.

Nachdem der Anthyrius nun solcher Gestalt seinen Sitz und Königreich bestätiget, hat der Gothen Könige nicht übel gedaucht, seine Tochter, die Symbullam, ihme zu versprechen, mit welcher er viele Kinder gezeuget, worunter männliches Geschlechtes Sicherus, Anthyrius, Visibertus, Barvanus, Anavas, Domicus, Brandebardus, Friedebaldus, Thenericus, Radagasus. Der Sicherus, so von seiner Mutter Bruder mit Finnland beschencket, hat sein Vaterland verlassen. Anthyrius mit dem Zunahmen der Jüngere hat in dem Kriege, welchen er mit den Cimbern geführet, sein Leben eingebüsset; ingleichen ist auch der Barvanus, wie es mit 16 Schiffen in die Ostsee, um Feindseligkeit zu verüben, gieng, ersoffen und geblieben. Friedebaldus hat die Vandalen unter seine Herrschaft bekommen. Den Visibertum aber haben die in der Gegend der Insel Schonen wohnende Gothen erfodert und bey sich behalten.“

(Marschalk, Annalen II,I)

Nikolaus Marschalk, hier gefunden

Zusammengefaßt: Ein Offizier Alexander des Großen wandert nach dessen Tod mit seinen Leuten, die ihn zum König erheben, nach Norden, gründet eine große Stadt, begründet eine Dynastie und heiratet die Tochter des Gotenkönigs. Der Büffelkopf im Wappen ist eigentlich ein Mißverständnis, eigentlich gehört dort ein Pferdekopf hinein, von wegen des Bukephalos (von altgriechisch βουκέφαλος, „Ochsenköpfiger“, aufgrund des Brandzeichens), des Pferds Alexanders. Diese erbauliche Geschichte ist eine komplette Erfindung, jedenfalls was die Gestalt des Anthyrius angeht, allerdings eine unterhaltsame.

Dabei ist ihr Urheber nicht einmal unbedingt eine dubiose Gestalt gewesen. Nikolaus Marschalk, mit dem Zunamen Thurius (aus Thüringen), kam nach Mecklenburg als herzoglicher Rat und starb 1525 als Professor für Geschichte, Astronomie und Naturgeschichte an der Universität Rostock. Hier werden seine „zu ihrer Zeit bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen… auf dem Gebiet der lateinischen und griechischen Philologie“ gerühmt, wer also mehr zu ihm wissen will, suche dort.

Heinrich V., Herzog zu Mecklenburg, hier gefunden

Warum also diese schmeichelhafte Fiktion. Sein Dienstherr Herzog Heinrich V., wurde nicht nur zurecht als der Friedfertige gerühmt, so förderte er die Reformation in umsichtiger Weise (während der Ehrgeiz seines Bruders und Mitregenten Albrecht VII. nur noch von dessen Erfolglosigkeit übertroffen wurde), er war auch sehr an genealogischen Fragen interessiert. Und was erhöht den Ruhm eines Hauses mehr als eine weit zurückreichende Ahnenreihe?

Wenn man dann dabei selbst bis in das Sinn und Würde stiftende Altertum gelangen kann, wird die eigene Dynastie und die eigene Herkunft zu einem Teil der großen abendländischen Erzählung. Man darf mutmaßen, daß Herr Marschalk sich hier einfühlsam, entgegenkommend und erfindungsreich der Hoffnungen des Herzogs annahm. Nun mag man das tadeln, und nachdem seine Erfindungen zunächst begierig aufgegriffen und auch literarisch weitergesponnen worden sind, ist das deutlich später von seriösen Landeshistorikern auch heftig geschehen.

Aber einmal ist Gefälligkeitswissenschaft auch heutzutage nicht ganz unbekannt und dann dürfte der Schaden gegenwärtig deutlich höher liegen, während bei Marschalk ein paar Papier- und Pergamentseiten verbraucht wurden und die historische Wahrheit etwas Schaden nahm, nun ja.

Nun sind diese aufgeplusterten Ahnenreihen an sich keine originäre Erfindung Marschalks. Widukind von Corvey etwa läßt die Sachsen von Alexanders Geschlecht abstammen, Sachsenchronik und Sachsenspiegel (um 1230 entstanden) lassen sie in Alexanders Heer dienen und nach dessen Tod auswandern. 

Marschalk hat diese Erzählung gewisser als Blaupause genommen und auf die Obotriten übertragen. Er geht auch sehr geschickt vor, rollt bekanntes Historisches aus, zitiert ständig Autoritäten, wie z.B. Quintus Curtius Rufus mit seiner Alexandergeschichte oder die Gotengeschichte des Jordanes und fügt dort seine Inventiones ein, so daß man gar nicht auf den Gedanken kommt, vieles könnte frei erfunden sein oder doch „abgewandelt“.

„So ist gleich der Name des Stammvaters Anthyrius aus Orosius [Paulus Orosius, ein hispanischer Historiker und Theologe († um 418), der die erste christliche Weltgeschichte schrieb.] entlehnt und geht zurück auf den aus Herodot bekannten Skythenkönig Idanthyrsos, der den Perserkönig Darius Hystaspis in die pontischen Steppen lockte und so zum schmählichen Rückzug zwang.“ [Adolph Hofmeister: Das Lied vom König Anthyrius, in Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 61 (1896)]

Bei Hofmeister findet sich auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Marschalk und seinen Nachwirkungen. Und wir haben ja auch nur den Anfang der langen Reihe, die bei ihm noch folgt, in Augenschein genommen.

Man mag das alles als Kuriosum abtun oder als gelehrte Scharlatanerie. Aber man kann darin auch einen rührenden Versuch sehen, für Mecklenburg und sein ja tatsächlich altes Fürstenhaus einen Bogen hin zur antiken Überlieferung zu schlagen, der eine Art Rückbindung an das Innerste abendländischen Herkommens zu liefern vermag. Eine Fiktion, sicherlich. 

Aber wie sehr unterscheiden wir uns eigentlich, wenn wir uns die Geschichte gewissermaßen heimisch machen, indem wir unsere Traditionslinien in sie zu zeichnen suchen?

Paulus Orosius, 11. Jh., hier gefunden

Mittwoch, 22. Juni 2016

Saule, Pērkons, Daugava


Saule, Pērkons, Daugava

Unter dem Datum des 18. Juni 2016 schrieb Herr Klonovsky „Wir – und ich habe keine Ahnung, wen genau ich damit meine, wer noch alles aus welchem Teil der Welt dazustoßen wird, ich bin ja ein gänzlich unrassistischer Chauvinist – wir Europäer sind noch lange nicht besiegt.“

Dies war seine sichtlich beeindruckte Reaktion auf die Darbietung von „Saule, Pērkons, Daugava“ durch einen lettischen Chor. Ich kann das durchaus verstehen, bin aber von so pedantischer Natur, daß ich gern genauer wissen will, was mich da zu überwältigen sucht. Es war recht mühsam.

Zunächst zum Text. Der Dichter Rainis (eigentlich Jānis Pliekšāns), eine offenbar reichlich widersprüchlich Gestalt, einerseits Sozialist mit Revolutionsambitionen, fühlte er sich andererseits den nationalen Mythen und Traditionen seines Landes tief verbunden, so daß er am Ende als angesehener Politiker und Literat im unabhängigen Lettland landete und nicht etwa wie sein zeitweiliger Weggefährte Pēteris Stučka als erster Volkskommissar der Justiz der UdSSR.

1916 schrieb er die patriotische Ballade Daugava, aus der das obige Stück stammt. Es spielte wohl eine Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung am Ende des 1. Weltkriegs, aber soweit ich das nachvollziehen kann, ist bis 1989 die tatsächliche Bekanntheit eher fraglich. Das änderte sich jedenfalls während der 2. lettischen Unabhängigkeitsbewegung, als der Musiker und Komponist Mārtiņš Brauns 1988 „Saule, Pērkons, Daugava“ schuf, das bald in den Rang einer inoffizieller Nationalhymne aufstieg und bis heute populär blieb.


Saule, Pērkons, Daugava

Ich habe keine deutsche Übersetzung gefunden, zwar eine französische, die mir, da ich die Sprache nicht beherrsche, nicht wirklich half, aber auf einem Blog (der etwas verwaist wirkte, aber offenkundig über junge Menschen aus Nordeuropa handelte) sah ich in den Kommentaren immerhin endlich eine englische Übersetzung.

Die nun wiederum ins Deutsche zu übertragen, wäre eher albern; daher läuft es im folgenden weitgehend auf deren Inhaltsangabe hinaus (wobei andere englische Übersetzungen, die ich dann doch noch fand, teilweise recht abweichend übertragen, das Gedicht scheint ausgesprochen interpretationsoffen zu sein).

Es treten auf "Saule" (die Sonne), „Pērkons“ (der Donner) als alte lettische Naturgottheiten.  Der Fluß Daugava (Düna), der als eine Art lettischer Schicksalsfluß gilt, und „Latve“, die lettische Nation:

Saule setzte Latve dorthin, wo sich die Enden treffen, weißes Meer, grüne Erde, für Latve - der Schlüssel der Tore.
Für Latve - der Schlüssel der Tore, Daugava - der Wächter. Fremde Menschen stürmten die Tore. Ins Meer fiel der Schlüssel.
Blau leuchtender Donner nahm den Schlüssel von den Teufeln, Tod und Leben sind weggeschlossen. Weißes Meer, grüne Erde.
Saule setze Latve an das Ufer eines weißen Meeres, die Winde wirbelten Sand. Was sollen die lettischen Kinder trinken?
Saule bat Gott, die Daugava zu graben, Tiere gruben, Gott ergoß das Wasser des Lebens aus einer Wolke.
Das Wasser des Lebens, das Wasser des Todes strömten zusammen in der Daugava. Ich tauchte die Spitze eines Fingers hinein und fühlte beides in der Seele.
Das Wasser des Lebens, das Wasser des Todes, Wir fühlen beides in unserer Seele.
Saule ist unsere Mutter, Daugava lindert den Schmerz, Donner, der Töter des Teufels – er ist unser Vater.

Reichlich kryptisch und überraschend pagan. Eher eine Anrufung dieser längst versunkenen Götter, ein Heraufbeschwören der alten lettischen Mythen. Die Erwähltheit Lettlands macht es für fremde Mächte, Eindringlinge, „Dämonen“ begehrenswert. Das Land leidet an seiner Erwähltheit.

Offenkundig eine Anspielung auf die wechselhafte Geschichte des Landes, in der die herrschenden, aber auch (in unterschiedlichem Maße) kulturtragenden Schichten deutsch, schwedisch, polnisch und am Ende russisch sprachen, die Letten stellten vor allem die Landbevölkerung. Die nationale Selbstfindung begann spät im 19. Jahrhundert, es ist unklar, ab wann sich die Letten überhaupt als Nation empfanden. Die Unabhängigkeit im frühen 20. Jahrhundert endete bald in der Katrastophe, es war lange unklar, ob diese Nation bestehen bleiben würde.

Das ist nicht der Platz, um über lettische Geschichte zu räsonieren oder darüber zu spekulieren, wer mit den Dämonen denn nun wie gemeint sei. Noch mehr erstaunt, daß der Text vor den eigentlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstand, sie also gewissermaßen zu antizipieren scheint.

Wie auch immer, dies sollten nur ein paar Anmerkungen sein, damit man ggf. eine Ahnung erhält, was einen denn derart beeindruckt.


Martins Brauns - Saule Perkons Daugava

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Übrigens hatte ich  ja oben zum Artikel „Baltic religion“ in der Encyclopaedia Britannica verlinkt. So instruktiv der Artikel war, zwei Zitate kann ich nicht vorenthalten, bekanntlich gab es lange einen starken, auch kulturellen deutschen Einfluß auf die baltischen Gebiete, aber man darf das natürlich auch so sehen, nun ja:

„Historical documents, already partially compiled and published, could be expected to yield much more information. Their value, however, is made problematic by the fact that all such documents were written by foreigners, mainly Germans who, in the course of their centuries-long eastward expansion, subjugated the Baltic peoples and exterminated some of them.“

„Old religious beliefs have persisted because the Germans, after conquering the Baltic lands in the 13th and 14th centuries, made practically no attempt at Christianization and contented themselves with only economic gains.“

Samstag, 3. Oktober 2015

Zum 3. Oktober


Wir wollten an diesem merkwürdigen Tag milde beginnen. Daher eingangs und nachfolgend ein Bild von dem, was es heute mittags gab, ich kann nicht gerade erklären, daß ich ein Fan Thüringer Rostbratwürste bin. Aber es sollte ein recht deutsches Essen werden. Und da muß man halt einiges auch einfach hinnehmen. Das Sauerkraut hingegen mag ich zwar, vertrage es aber selten (diesmal mit Äpfeln, Piment, Pfefferkörnern, Nelken, Lorbeerblatt sowie mit dem Bratenfond der in Butterschmalz gebratenen Würste). Wir wechseln über zum anderen Teil.


Vor 2 Jahren schrieb ich einen eher geharnischten Beitrag zur Völkerschlacht bei Leipzig. Warum ich darauf wieder stieß, will ich gleich erklären. Aber die Zitate, die mich da wohl motivierten, waren zu eindrücklich:

Wie ein Raubvogel blicke der steinerne Erzengel Michael, Schutzpatron der Deutschen, den Besuchern des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig entgegen. Dumpf und düster beherrsche das 91 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal den Leipziger Südosten. Ein Monument der Nekrophilie und des Verfolgungswahns der Deutschen, die „stets zu Schutz und Trutze“ gegen irgendeinen Feind brüderlich zusammenhalten müßten. Anschließend erging man sich in Sprengphantasien, nun darin hat dieser Menschenschlag ja nicht nur gedankliche Übung.

Ich brauchte einen kleinen Kontrast für die ehernen Worte des Herrn Roloff, die gleich folgen werden, so wird manches vielleicht auch nachvollziehbarer. Zum Tag selbst mag ich eigentlich nichts weiter anmerken, nicht, daß mir nicht vieles durch den Kopf ging. Nur dies noch: Anfang der Woche bin ich daran gescheitert, etwas über den Erzengel Michael zu schreiben, wie mir das früher bisweilen gelungen ist, er ist schon recht ledern (so kam ich auf den alten Beitrag).

Und dann, ich darf das so sagen, die nachfolgende Predigt des Herrn Roloff aus Anlaß dieses Tages ist im Grunde eine Meditation über die Weihnachtsansprache , die der Hl. Vater Benedikt am 21. Dezember 2012, offenkundig im Bewußtsein seines bevorstehenden Rückzugs, hielt.

Erzengel Michael am Völkerschlachtdenkmal


Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit 2015 in Schönhausen


Der Geist des Herrn ist über mir, darum daß mich der Herr gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß ihnen geöffnet werde, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsers Gottes, zu trösten alle Traurigen, zu schaffen den Traurigen zu Zion, daß ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden, daß sie genannt werden die Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn zum Preise.

Sie werden die alten Wüstungen bauen, und was vorzeiten zerstört ist, aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte, so für und für zerstört gelegen sind, erneuen.
Jes. 61, 1-4

Da aber die Pharisäer hörten, wie er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und sprach:
Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?
Jesus aber sprach zu ihm: "Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte."
Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich; Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Matth. 22, 34-40

Friede sei mit Euch!

Liebe Gemeinde,

„Das Bewusstsein seiner Einheit war dem deutschen Volke, wenn auch verhüllt, doch stets lebendig.“

Das ist kein Zitat aus dem 20. Jahrhundert, es stammt vielmehr bereits aus dem 19. Jahrhundert. Kaiser Wilhelm I. hat es gesagt und macht uns damit auf die Tatsache aufmerksam, dass die Frage nach der nationalen Einheit in beiden Jahrhunderten gestellt war und durch unser Volk beantwortet werden musste.

Wir sollten darum auch diesen Tag in einem größeren Zusammenhang als dem unserer jüngsten Geschichte begehen. Darum ist es vielleicht so sinnfällig, dass die 25 Jahre Deutscher Einheit mit dem 200. Geburtstag des Fürsten zusammenfallen.

Als Christen sind wir es gewohnt, auf geschichtliche Zusammenhänge so zurückzublicken, dass sie uns immer auch etwas für die Gegenwart sagen. Das Kirchenjahr ist durchzogen von Festen und Gedenktagen, in denen sich die Herrschaft Gottes über die Geschichte ausdrückt. Gott ist der Herr über die ganze Geschichte der Menschen.

Darum ist es von größtem Interesse, was aus christlichem Verständnis zur staatlichen Ordnung und zu den inneren Beziehungen eines Landes beigetragen werden kann und muss.

Damit wir diesem Gedanken nachgehen können, habe ich den Matthäustext ausgesucht, den wir als Evangelium gehört haben. Es geht dort um die Frage nach dem höchsten Gebot. Es versteht sich von selbst, dass diesem höchsten Gebot schlicht alles und alle unterworfen sind, sonst wäre es nicht das höchste Gebot.

Christus, genau nach diesem höchsten Gebot gefragt, gibt die uns als Christen noch immer sehr vertraute Antwort:

"Du sollst lieben Gott, deinen HERRN, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten."

Dieses Doppelgebot der Liebe ist die christliche Antwort auch auf die Frage nach den Ordnungen in der Welt. Es beschreibt, wie sich die Beziehung des Menschen zu Gott gestalten soll.

Wir sollen Gott lieben bedeutet, wir dürfen uns zu ihm in Beziehung setzen und werden gerade darin gewahr, wer wir sind. Wir sind Geschöpfe seiner Liebe. Unsere Liebe ist die Antwort auf sein Tun. Alles was wir tun, soll nun zur Antwort auf seine Liebe werden.

In diesem Gebot ist die Rede von einer grundlegenden, unser Menschsein stiftenden Beziehung, nämlich der zwischen Mensch und Gott. Diese Beziehung ist grundlegend und darum auch lebenslang. Das ist unserer Antwort auf die heute durchaus bereits vorherrschende Meinung, als gäbe es keine lebenslangen Beziehungen mehr. Man hat den Menschen eingeredet, Bindung für ein Leben lang sei ein Gegensatz zur Freiheit, und Freiheit ist doch der entscheidende Leitbegriff unserer Zeit.

Die Absage aber an eine lebenslange Bindung bedeutet, dass der Mensch für sich bleibt und nur noch Beziehungen eingeht, die er jederzeit wieder beenden kann. Wir begegnen hier einem ganz und gar falschen Verständnis der Freiheit. Wir Christen bekennen, erst in der Liebe zu Gott, in der unlöslichen Beziehung zu ihm, finden wir unser Menschsein und unsere Freiheit.

Nun leben wir als Menschen aber natürlich nicht nur allein mit Gott, sondern immer auch miteinander.

Darum bleibt selbst das Gebot zur Gottesliebe unvollständig, wenn es nicht in dem Gebot zur Nächstenliebe seine Vervollständigung fände. Wo immer Menschen miteinander leben, da ist ihnen die Fürsorge umeinander gleichsam zur Pflicht gemacht. Wir sind füreinander verantwortlich, und dieser Verantwortung werden wir nur gerecht, wenn wir den Mut haben, uns zueinander in Beziehung zu setzen, und uns zu lieben.

Auch diese Liebe verlangt von uns den Mut zur Lebenslänglichkeit, denn nur dann verharren wir nicht in unserem Ich, sondern wir überschreiten es. „Nur im Geben seiner Selbst kommt der Mensch zu sich selbst“, so hat es Benedikt XVI. formuliert.

Liebe Gemeinde,

täuschen wir uns nicht. Ein Gebot ist nicht ein gut gemeinter Ratschlag, den man befolgen kann oder auch nicht. Mit den Geboten treten wir Christen nicht in einen lauen Diskurs, sondern wir beugen uns dem unwiderstehlichen Imperativ Gottes.

Darum haben wir bekannt: Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, und wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten anerkennen.

Wir verwerfen die falsche Lehre. Wir treten in Zeiten hinein, wo genau das unsere Aufgabe ist.

Wenn es nun also um unsere staatlichen Ordnungen geht und um die Gestaltung unseres Zusammenlebens, dann sind wir berufen, diesen unseren Glauben beispielgebend vorzuleben, und seine Stellung in unserem Gemeinwesen zu verteidigen.

Für uns ist die Verantwortung vor Gott, mit der das Grundgesetz sich eröffnet, keine Floskel, sondern eine Konstituante dieses Staates. Für uns gründet der Schutz von Ehe und Familie in der Tatsache, dass der Mensch eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat, die für sein Wesen kennzeichnend ist. Die Dualität des Menschen als Mann und Frau, von der wir im Schöpfungsbericht hören, ist etwas, das wir annehmen müssen, und nicht etwas, über das wir selbst entscheiden könnten.

Werden wir in diesen Zusammenhängen wirklich noch gehört? Spricht die Kirche, die protestantische Kirche, hier noch mit vernehmbarer und klarer Stimme?

Darf man diese Frage so überhaupt stellen? Kern von Luthers Reformation ist doch das Priestertum aller Gläubigen. Wir haben also gar nicht die Berechtigung, auf andere zu warten. Der Protestant steht allein und unmittelbar vor seinem Gott. Luther hat den Gläubigen die Bibel in die Hand gegeben, damit sie auch gelesen wird. Das was wir dort lesen, können und müssen wir in das Gemeinwesen tragen. Es wird nicht durch andere getan. Die Reformation hat den Menschen zur Verantwortung befreit. Vielleicht ist das sogar der eigentliche Kern der Reformation und das größte Verdienst Martin Luthers.

Bismarck wiederum hat schon bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 das allgemeine Männerwahlrecht zum Reichstag eingeführt – das weitest gehende Wahlrecht jener Zeit. Er hat dadurch einen gewaltigen Schritt gewagt, um aus Untertanen Bürger zu machen. Das Entscheidende wiederum am Bürgersein ist die Übernahme von Mitverantwortung. Wahlen räumen eben nicht nur ein Recht ein, sie nehmen den Bürger auch in die Pflicht für seine Entscheidung, die doch auch immer eine Entscheidung zum gemeinsamen Wohl oder zur „allgemeinen Wohlfahrt“ ist, wie es in der Bismarck-Verfassung noch hieß.

Durch sie war tatsächlich viel von dem Wirklichkeit geworden, was Bismarck schon in jungen Jahren als Bekenntnis im Landtag vortrug: „Erkennt man die religiösen Grundlagen des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein. Entziehen wir diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, … Seine Gesetzgebung wird sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und wandelbaren Begriffen von Humanität, wie sie sich gerade in den Köpfen derjenigen, welche an der Spitze stehen, gestalten.“

Liebe Gemeinde,

täuschen wir uns nicht, genau in diesem Prozess sind wir inzwischen weit fortgeschritten. Es lohnt sich vielleicht gerade darum, an Luther und Bismarck zu erinnern, denn noch immer ist unser Gott eine feste Burg, auch wenn es mit der Gottesfurcht in diesem Lande nicht weit her zu sein scheint.

Darum noch einmal die Warnung vor dem vergifteten Freiheitsbegriff unserer Zeit, der suggeriert, der Mensch könne alles und auch sich selbst machen. Darin wird der Schöpfer geleugnet und in der Folge der Mensch als Geschöpf Gottes, als sein Ebenbild auch. So aber wird der Mensch eben nicht befreit, sondern er wird im Eigentlichen seines Seins vollständig entwürdigt und damit in seinem Wesen vernichtet.

Es geht in diesem inzwischen entfesselten Kampf um den Menschen selbst.

Nun ist ganz und gar sichtbar, dass dort, wo Gott geleugnet wird, auch die Würde des Menschen sich auflöst. Ohne die unbedingte Liebe zu Gott gibt es auch keine Nächstenliebe, keine Mitmenschlichkeit und keine gültige Bindung, die uns einen Ort in der Schöpfung einräumen könnte. Darum: Wer Gott verteidigt, verteidigt den Menschen.

Amen

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn.

Amen.
Thomas Roloff