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Sonntag, 30. Juli 2023

Zum 125. Todestag Otto von Bismarcks

Franz von Lenbach, Fürst Otto von Bismarck, 1895, von hier

Zum 125. Todestag Otto von Bismarcks richtete der Altmärkische Heimatbund eine Veranstaltung auf Schloß Döbbelin aus (ein paar der beigefügten Bilder geben von dem Ort einen Eindruck), das einem Mitglied der Familie Bismarck gehört, Alexander von Bismarck. 

Ob es sonst noch nennenswerte Gedenkveranstaltungen in dem besten aller Deutschlands gegeben hat, weiß ich nicht. Von seiten des Auswärtigen Amtes jedenfalls offenkundig nicht. Aber die dort gegenwärtig Bestimmenden sind ja auch hinreichend mit Ausradierungs- und Umschreibungsarbeiten an der politischen und kulturellen Tiefenerinnerung dieses „Volkes“ ausgelastet.

Otto von Bismarck hat unter widrigsten und schwierigsten Umständen, die Deutschland förmlich anzuziehen scheint, etwas unerwartet immer noch Dauerndes und Gutes geschaffen, was ihm die Anhänglichkeit von Generationen gewann. Und was die vernachlässigenswerten anderen ihn andauernd so hassen läßt.

Daß dieser Nachtrag so auffallend spät ausfällt, erlaubt mir, auf zwei regionale Artikel zu verweisen, die erfreulich zu lesen sind. Dem einen durfte ich entnehmen,daß der Zeitgeist-Mob nun auch durch die Kantinen stürmt. 

„‘Die Zeiten ändern sich.‘ Mit dieser Aussage verbannte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Februar 2023 den Bismarckhering von der Speisekarte der Kantine im Auswärtigen Amt.“ Diese „Anekdote“, vorgetragen von Prof. Konrad Breitenborn durfte ich dem einen Artikel entnehmen. Aber was diese geschichtswissens-unbefleckten Gestalten nicht ahnen, weil sie gar nicht wissen wollen, selbst wenn sie es denn könnten: Die Zeiten ändern sich ständig.

Es gibt dort auch ein Bild der Vorgetragen-Habenden. Rührend ist dieser andere Artikel, in dem u.a. ein Getreuer aus dem Geburtsort Bismarcks, nämlich Schönhausen, auftaucht, der einstige Wehrleiter Karl-Heinz Pick, 

Im folgenden dokumentiere ich den Vortrag des Herrn Roloff, der hier mittlerweile öfters auftaucht als ich selbst. Das wird dem Niveau eher keinen Abbruch tun.

Otto von Bismarck, Postkarte von A. Fischer, 1890, von hier


Bismarck und Russland oder wie der Reichskanzler um Europas Frieden rang

Wenn man Bismarck ehren und seine Leistungen würdigen will, dann bietet sich geradezu an, seine Politik gegenüber Russland zu vergegenwärtigen. Das Verhältnis zu Russland bildete den Schlüssel zu einer europäischen Ordnung, die unter den Großmächten 43 Jahre den Frieden gesichert hat. Die Haltung Bismarcks gegenüber Russland hatte ihre Grundlage in der traditionellen Verbindung Preußens und Russlands, die aus der napoleonischen Zeit erwachsen ist und in der Funktion, die eine Macht in der Mitte erfüllen muss. Auf diese beiden Aspekte kommt es mir in der Hauptsache an und nicht auf einzelne Bestrebungen.


Denn ganz am Anfang unseres Zusammenhangs steht die Französische Revolution. Schon an ihr wird deutlich, selbst wenn sie von allen mit den besten Absichten begonnen worden wäre, dann führte sie dennoch in eine schwere Katastrophe der europäischen Staatenwelt, in Mord und Unrecht. Es ist nur schwer zu verstehen, warum man ihr dennoch bis heute fast ausschließlich das Etikett von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ anhängt, obwohl sie das genaue Gegenteil bewirkte. Mag es auch zuvor Unrecht und Missstände gegeben haben. Sie wurden bei weitem durch das in den Schatten gestellt, was die Revolution an Mordtaten, Kriegen und kulturellen Verwüstungen hervorgebracht hat.

„The Zenith of French Glory“ von James Gillray, 12.02.1793, von hier

Es brauchte erst einen Napoleon, um den fortschreitenden Terror und die rücksichtslose Zerstörung des Gemeinwesens einzudämmen und die entfesselten Gewalten in die Verwirklichung eines imperialen Gedankens von der Neuordnung Europas zu lenken.

Dies zustande gebracht zu haben, macht die Größe Napoleons aus. Er lenkte die gewaltigen Energien seines entfesselten Landes in beinahe alle Richtungen. Mit dem Rheinbund und Italien stellte sich fast so etwas wie das Reich Karls des Großen wieder her. Das ist ganz erstaunlich nach beinahe einem Jahrtausend getrennter Geschichte. Es zeigt zweierlei. Napoleon wusste die Schwäche des Reiches auszunutzen und machte sich auch die erwachenden nationalen Bestrebungen der Italiener und Polen zu eigen. Er verband so ganz geschickt die beiden, seine Zeit bestimmenden Tendenzen, den Abstieg der universalen Gewalt von Reich und Kirche und die aufsteigenden nationalen Stimmungen.

Um diesen gewonnenen Zustand dann aber tatsächlich zu ordnen, bedurfte es doch wieder der alten Reichsidee, die sich als lebendig erwies. Napoleon nahm den Namen eines Kaisers an und formte, allerdings ein französisches Imperium. Er warf damit seinen fast ausschließlich national motivierten Interessen den Mantel des Reiches um und begann ein kurzes Jahrzehnt großer Herrschaft.
Die Vorherrschaft einer Nation fast über den gesamten Kontinent war nur möglich geworden durch die Schwäche der übernationalen und überstaatlichen Gewalt. Der Rausch der Revolution trat in gewisser Weise an die Stelle der Verbundenheit im christlichen Glauben.

Allerdings wurde Napoleon sehr schnell gewahr, dass er mithilfe der französischen Militärmacht alle beherrschen musste, wenn seine Konstruktion Dauer erreichen sollte. Das verführte ihn in das russische Abenteuer mit seinem bekannten Ausgang. Man kann die Idee des Reiches nämlich nicht beliebig usurpieren, denn an ihr hängt nicht nur der Name des Kaisers, sondern auch eine für die Mitte Europas ganz und gar unverzichtbare Funktion, von der zu reden sein wird. Napoleon jedenfalls beherrschte für einen historischen Augenblick Europa, er gab ihm aber keine Mitte.

Es war deshalb nicht überraschend, dass Europa die napoleonische Zeit mehr und mehr als Fremdherrschaft erlebte und mit den Befreiungskriegen antwortete. Ich erinnere daran, weil mit ihnen eine für Bismarck ganz entscheidende Prägung verbunden ist, die er in Schönhausen erfahren hat. Er ist dort nicht nur während der hundert Tage des Korsen geboren, sondern trug auch die Beinamen Leopold und Eduard. Das waren zwei nahe Verwandte, die in den Befreiungskriegen gefallen sind.

Das Erlebnis der Befreiungskriege hat die Erziehung und die Vorstellungswelt der Deutschen ein reichliches Jahrhundert stark geprägt. Das machten auch die Jahrhundertfeiern 1913 nochmal deutlich und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig und die Jahrhunderthalle in Breslau sind dafür bis heute prägnante architektonische Zeugnisse.

Im Zentrum dieser Tradition stand immer auch die Vorstellung von dem erfolgreichen Zusammenwirken mit Russland. Die drei konservativen Mächte Preußen, Österreich und Russland bilden die machtpolitische Grundlage des 19. Jahrhunderts. Mit der „Heiligen Allianz“ und später mit Bismarcks Bündniskonstruktionen des „Drei-Kaiser-Abkommens“ von 1873, des Zweibundes von 1879, des „Drei-Kaiser-Bundes“ von 1881 und des Rückversicherungsvertrages von 1887 bewegte er sich immer genau in diesem Zirkel der Nach-Napoleonischen-Zeit.


Warum war Bismarck hier so ganz festgelegt? Erneut müssen wir etwas weiter ausholen.

Europa lebt aus der Wechselwirkung zwischen einzelnen Herrschaften, aus denen sich viel später Nationalstaaten bildeten, und dem Reich in seiner nicht nur geographischen Mitte. Das Miteinander von Universalität und Partikularismus machte das Reich selbst, aber auch das Wesen ganz Europas aus.

Darin liegt der einzige Grund dafür, warum dem Reich, als Träger der universalen Macht, die Aufgabe der Verteidigung zufiel. Das Reich wurde zum Verteidiger der Kirche und des christlichen Glaubens und zum Verteidiger gegen diejenigen äußeren Feinde, denen einzelne Herrscher und Völker nicht gewachsen waren.

Die innere Struktur Europas war mithin geprägt durch die Bipolarität von Staaten und Nationen auf der einen und einer im Reich repräsentierten überstaatlichen und übernationalen Ordnung auf der anderen Seite. Genauso wie der Mensch selbst in der Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaft lebt, so lebte Europa aus der Beziehung zwischen den Staaten und dem Reich.

Das hatte auch einen zutiefst christlichen Hintergrund, der sich in einer der frühen Reden Bismarcks noch spiegelt: „Erkennt man die religiösen Grundlage des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein, entzieht man diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, …, seine Gesetzgebung würde sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und unbeständigen Begriffen von Humanität, wie sie sich gerade in den Köpfen derjenigen, welche an der Spitze stehen, gestalten.“

(Beinahe möchte man meinen, dass wir gegenwärtig so etwas wie den Höhepunkt der „vagen und unbeständigen Begriffe von Humanität“ in den Köpfen derjenigen, die an der Spitze stehen, erleben. Ich nenne nur die Stichworte Waffenlieferungen, Streumunition und militärisches Heldentum.)

Staatliche Ordnung war ohne religiöse Grundlage nicht zu denken und diese wurde vornehmlich durch das Reich repräsentiert.

Die Verantwortung des Reiches wuchs den Deutschen mehr zu, als dass sie sie suchten. Das war in der Hauptsache der geografischen Lage des Siedlungsraumes der Völkerschaften geschuldet, die einmal die Deutschen werden sollten. In der Mitte des Kontinents konnte man sich schwerlich auf sich selbst zurückziehen, war beeinflusst und durchzogen von den Nachbarn und ihren Kulturen. Man ließ sich aber auch beeinflussen und wurde in Vielem gleichsam zum Schmelztiegel. Immer wieder zeigte sich, dass der Kontinent die zwar nach und nach defensiver werdende, dennoch aber ordnende Gewalt des Reiches brauchte.

Erst der unglaubliche Macht- und Prestigegewinn der großen Kolonialmächte drohte ganz vergessen zu machen, wie sehr man in Europa aufeinander angewiesen, wie sehr das Abendland mit seiner Geistes-, Kultur- und Glaubensgeschichte ein Organismus war, der, wie jeder Organismus, immer nur ein gemeinsames Leben und Überleben gestattet.

Auch Weltreiche bedürfen der sie verbindenden Mitte einer gemeinsamen Identität. Was sie der Welt an Konstruktivem bringen wollten, konnten sie ihr nur gemeinsam bringen.

Der Deutsche Bund wurde diesem Zweck allerdings kaum noch gerecht. Er war ohne wirkliches Oberhaupt und wurde scheinbar zur Nebenbühne des heraufziehenden Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Es wurde mehr und mehr unmöglich, Preußen auf die Rolle eines Bundesstaates unter Österreichs Präsidium zu beschränken.

Dennoch erreichte dieses fragile Provisorium eine Lebenszeit von einem halben Jahrhundert. Diese war neben vielen Instabilitäten, die als Nachbeben der großen französischen Revolution zusammengefasst werden können, bestimmt durch neue Versuche der Nachbarn, sich auf Kosten von Bundesterritorien zu erweitern. Die Schleswig-Holstein-Frage und die Luxemburgkrise mögen dafür beispielgebend stehen.

Anders als zu vorherigen Zeiten, in denen es kaum mehr eine Rolle spielte, unter welcher Oberhoheit deutsche Territorien standen, trat nun aber die nationale Stimmung der im Erlebnis der Befreiungskriege zu Deutschen erwachten Landsmannschaften als politischer Faktor hervor.

Die Begehrlichkeiten der Nachbarn weckten und befeuerten den Nationalismus der Menschen, die nun das Ziel in den Blick nahmen, „von der Maas bis an die Memel und von der Etsch bis an den Belt“ zu vereinigen, was zu Deutschland gehörte. Ein wirkliches Reich der Deutschen erschien am Horizont.

Der rein nationale Gedanke war allerdings ein Sprengsatz am österreichischen Vielvölkerstaat und fand darum in diesem einen entschiedenen Gegner. Zum anderen sah Frankreich seine Aussichten auf Wiederaufstieg schwinden und um seine Sehnsucht nach der Rheingrenze getrogen, wenn es zu einem vereinten Deutschland käme und wurde so zum zweiten Feind deutschen Einheitsstrebens.

Philipp Veit, Allegorische Figur der Germania, 1834 bis 1836, von hier

Die Revolution von 1848/49 war zu ideenreich und gleichzeitig zu tatenarm, als dass sie ein geeintes und funktionierendes deutsches Staatswesen hätte instandsetzen können. Zusätzlich erwies sich Russland als selbstloser und treuer Bewahrer des legitimen monarchischen Gedankens und rettete den österreichischen Kaiserstaat durch sein Eingreifen in Ungarn. Dieser status quo hielt sich so noch knappe zwei Jahrzehnte. Und Österreich sollte die Welt durch seinen Undank in Staunen versetzen.

Das tatsächlich Gefährliche am deutschen Nationalismus war, dass er in einer gewissen Weise eben auch den Versuch der Deutschen darstellte, ihrer eigentlichen historischen Verantwortung zu entkommen. Ihnen war die Würde des Reiches zugefallen, von der sie Gründe hatten anzunehmen, dass sie ihnen kein Glück gebracht hatte. Die im Religiösen und im Idealismus verankerte Vorstellung einer Zusammengehörigkeit der europäischen Völker und eines gemeinsamen Suchens nach Recht und Gerechtigkeit, schien veraltet, überholt, tot. Die Nationalstaaten hatten gesiegt, beherrschten den Welthandel und waren dabei, Weltreiche zu errichten. Das wollten die Deutschen nun auch. Sie wollten einen Nationalstaat, der so ist, wie es alle anderen auch waren, und der diesen dann scheinbar nur noch als Konkurrent entgegentrat.

Mitten in dieser Situation erschuf Bismarck in der Mitte Europas ein Deutsches Reich. Im Norddeutschen Bund will die Geschichte bis heute gern den Anfang des deutschen Nationalstaats sehen. Man kommt der Wahrheit allerdings näher, wenn man in diesem Geschehen eher eine Teilung erkennt. Ein Nationalstaat aller Deutschen hätte nämlich die Zerstörung der Habsburgermonarchie nach sich gezogen und unabsehbare Folgen für den gesamten Donau- und Balkanraum mit sich geführt. Die Zerstörung Österreichs kam für Bismarck folglich nicht in Betracht. Er schonte den alten Kaiserstaat nach der Schlacht von Königgrätz.

Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1885, von hier

Mit der Kaiserproklamation in Versailles erstreckten sich dann „zwei deutsche Reiche“, wie man in Russland gerne sagte, in der Mitte Europas, die zusätzlich seit 1873 durch verschiedene Bündnisse eng miteinander verbunden waren. Dieses Bündnis war in gewisser Weise eine Form der Fortsetzung des Deutschen Bundes und stellte das neu geschaffene Reich sogleich hinsichtlich seiner Verteidigung und Sicherheit wieder in eine übernationale Position.

Der Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 schuf für ein knappes halbes Jahrhundert eine neue europäische Ordnung. Benjamin Disraeli erkannte rasch, dass dieser Einschnitt in die europäische Geschichte tiefer sein würde, als es derjenige der französischen Revolution gewesen ist. In einer gewissen Weise waren die Reichsgründung und das aus ihr erwachsende Einvernehmen der konservativen Kaisermächte die eigentliche Gegenrevolution. Disraeli sprach sogar von der „deutschen Revolution“ als Gegensatz zur „französischen Revolution“. Ihr Kern lag darin, die Verhältnisse nicht zu zerstören, sondern an die innere Struktur wieder anzuknüpfen und sie gleichsam lebensfähig zu machen. War also die französische Revolution ein Angriff auf das alte Europa, so war die deutsche der Versuch einer Wiederherstellung.

Mit dem Bündnis zwischen dem Reich und Österreich hat Bismarck den Deutschen Bund wiederaufgenommen, nicht der Form, sehr wohl aber seiner Funktion nach.

Bismarck selbst sagt dazu in seinen Gedanken und Erinnerungen: „Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für niemanden etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige Assekuranz beider in dem deutschen Bundesverhältnis von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.“

Er spricht selbst von den „beiden deutschen Reichen“ und nimmt Bezug auf den Bund. Das Zitat ist übrigens Teil seiner Argumentation gegenüber seinem Kaiser, der das Bündnis mit Österreich 1879 zunächst mehr als Gefahr für das Einvernehmen mit Russland angesehen hat und es darum ablehnte. Er sollte sich irren, denn das Bündnis mit Österreich zog dann 1881 den Drei-Kaiser-Bund gleichsam nach sich.

Zwei Bestrebungen trafen nämlich seit 1871 radikal und kontrovers aufeinander. Das neue Reich hatte jedes Interesse daran, den gewonnenen Bestand zu bewahren, seine friedliche Entwicklung in jeder Hinsicht zu fördern und zu diesem Zweck sich jeder Unterstützung zu versichern, die es bekommen konnte. Bismarcks defensive Bündnispolitik war dafür das beste Indiz.

Frankreich hingegen verfolgte verbissen die Revision des Frankfurter Friedens, was ohne die Zerstörung des preußisch-deutschen Staates aber nicht möglich war.

Alle anderen Mächte vertrauten zunächst vollständig den friedlichen und Frieden stiftenden Absichten Bismarcks. Der Berliner Kongress 1878 und die Kongokonferenz 1884/85 waren dafür wichtige Beispiele. Bismarcks Bestreben war es tatsächlich, das Reich im Konzert der europäischen Mächte als „ehrlichen Makler“ zu platzieren. Darüber hinaus gelang es dem Fürsten, das Einvernehmen der drei Kaisermächte immer wieder herzustellen. 

Anton von Werner, Berliner Kongreß, 1892, von hier

Das war insbesondere auf dem Berliner Kongress von 1878 nicht ganz leicht. Eine Schilderung des Fürsten lässt es uns ahnen und gibt darüber hinaus ein wunderschönes Beispiel für seine eindrucksvoll bildreiche Sprache: „Meine angedeutete, endlich ausgesprochene Forderung, die russischen Wünsche uns vertraulich, aber deutlich auszusprechen und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den Eindruck, dass Fürst Gortschakow von mir, wie eine Dame von ihrem Verehrer, erwartete, dass ich die russischen Wünsche erraten und vertreten würde, ohne dass Russland selbst sie auszusprechen und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte.“

Dennoch gelang es Bismarck immer wieder, den Faden zu Russland weiterzuspinnen und auch die Konflikte zwischen Österreich und Russland so weit wie möglich und nötig auszugleichen.

Dies gründete in seiner ehrlichen Überzeugung davon, dass für das Reich auch ein gewonnener Krieg keinen Siegespreis mehr in Aussicht stellte, der es wert wäre, ihn zu führen.

Das vorwiegend protestantische Deutsche Reich begann, mit seiner Rolle als Mitte und Vermittler und im Bündnis mit dem katholischen Österreich-Ungarn und dem orthodoxen Russland etwas von dem zurückzugewinnen, was die Bedeutung des alten Reiches ausgemacht hat. Auch die Symbolik der drei Kaiser und der drei Konfessionen spricht hier für sich.

Die Situation Europas war dadurch gekennzeichnet, dass es keine äußeren Feinde hatte, sondern nur sich selbst durch Revolution und Nationalismus zum Feind werden konnte und genau das galt es zu verhindern.

Das Einvernehmen mit Österreich-Ungarn und ein verlässliches Verhältnis zu Russland waren dazu zwingend erforderlich, weil ein Ausgleich mit Frankreich unmöglich blieb, solange es die Realitäten des Frankfurter Friedens nicht anerkannte. Ohne Bündnis mit Russland drohte also der Zwei-Fronten-Krieg. Ohne Bündnis mit Russland entstand die gefährliche Situation, die dann auch 1914 in die Katastrophe führen sollte.

Für Bismarck war immer maßgeblich, was er am 5. Dezember 1888 dem kolonialbegeisterten Eugen Wolf, der ihm eine Karte Afrikas zeigte, sagte: „Ihre Karte ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.“

Weil also ein Bündnis mit Frankreich ausgeschlossen blieb, war das Einvernehmen mir Russland immer existenziell und nie nur irgendwie sentimental. Die drei Kaisermächte konnten den Frieden immer nur gemeinsam wahren. Sie waren das Rückgrat einer antirevolutionären Ordnung, wenn dieses Rückgrat brach, dann drohten schlimmere Umbrüche als die der vorangegangenen Revolutionen. Deshalb musste auch Russland immer wieder verdeutlicht werden, dass es vom Frieden am meisten profitieren würde und jeder Krieg es in seiner Existenz bedroht. Der Fortgang der Geschichte hat die Richtigkeit dieser Einschätzung wieder und wieder bestätigt.

Die anderen europäischen Mächte nutzten allerdings die zugegebener Maßen ungewöhnliche Situation, dass das Reich in der Mitte, die naturgemäß vermittelnde Gewalt, im Gewand eines Nationalstaats daherkam, um diese zu unterminieren und zu diskreditieren. Das war aber erfolgreich nur möglich, nachdem 1890 das Einvernehmen mit Russland aufgegeben und der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert worden war.

Man war in Berlin sogar so naiv oder dumm, die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, der ja ein Geheimvertrag gewesen ist, nach London zu melden, vermutlich in der Erwartung, dafür Sympathie zu ernten.

Die britische Reaktion war aber abwägend kühl, denn Deutschland hatte durch diese Entscheidung deutlich an Gewicht verloren und war für ein festes Bündnis sogar weniger attraktiv.

Bismarck Denkmal im alten Elbpark in Hamburg, von hier

Der Fortgang der Geschichte ist so bekannt wie tragisch. Insbesondere nach den Marokkokrisen wurde der Vorwurf stereotyp erhoben, dass das Reich nach der Vorherrschaft in Europa strebe und es wurde immer wieder das unscharfe Argument von der Störung des Gleichgewichts in Europa erhoben, und das, obwohl den „beiden deutschen Reichen“ seit 1908 die verbündeten Weltreiche Großbritanniens, Frankreichs und Russlands gegenüberstanden. Eine merkwürdige Vorstellung vom Gleichgewicht.

Alles das ist heute aber schon gar nicht mehr unser Thema. Ein bloßer Blick auf die Landkarte lässt deutlich werden, wie dramatisch die Folgen davon waren, dass man in Deutschland glaubte, einer „Welt von Feinden“ durch militärische Stärke und allein mit Österreich-Ungarn trotzen zu können. Dass Russland im panslawistischen Wahn glauben wollte, dass der Weg nach Konstantinopel durch das Brandenburger Tor führt und dass Frankreich für Revanche und Elsass-Lothringen kein Preis zu hoch war.

Erst 1990, genau 100 Jahre nachdem das Einvernehmen mit Russland aufgegeben worden war, öffnete sich die Tür zu einem neuen Versuch, die Gestalt Europas zurückzugewinnen. Aber er scheint auch diesmal zu scheitern.

Wir meinen gern, heute wäre das Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten und zu Amerika ein anderes und wir wären von Freunden umgeben.

Der Ukrainekrieg muss uns aber nachdenklich machen, weil neben dem Angriff auf die Ukraine nach wie vor der Angriff auf deutsche Infrastruktur in der Ostsee steht. Wer auch immer verlangt, dass politische Interessen in Europa nicht mehr gewaltsam und mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden dürfen, der sollte an keinem dieser Angriffe beteiligt gewesen sein.

Mir ging es heute einzig darum aufzuzeigen, wie sehr Bismarck in der geschichtlichen Wirklichkeit zuhause war und wie umsichtig und verantwortungsvoll er dem Reich und Europa gedient hat. Die von ihm geschaffene Ordnung des Frankfurter Friedens hatte Europa in die Situation gebracht, dass es keine Feinde mehr hatte außer den Krieg selbst. Es war ihm gelungen, die Funktion des Reiches durch die Konstruktion der verbündeten beiden deutschen Mächte und die „Heiligen Allianz“ durch ihre Übersetzung in die Erfordernisse der modernen Staatenwelt wiederherzustellen und durch sie beide den Frieden zu sichern. 

Wie weit unsere Gegenwart von diesen Vorstellungswelten entfernt ist zeigt ein Zitat von Ernst Moritz Arndt, mit dem ich schließen möchte: „Und weil ihr das Herz sein solltet von Europa, seid ihr mir lieb gewesen, wie mein eigenes Herz, und werdet mir lieb bleiben ewiglich.“

Otto von Bismarck um 1881, von hier

nachgetragen am 6. August

Montag, 10. Mai 2021

Der Friede von Frankfurt


Adolph von Menzel, Abreise König Wilhelms I. zur Armee 
am 31. Juli 1870, hier gefunden

Vor 150 Jahren, also am 10. Mai 1871, wurde in Frankfurt am Main ein Friedensvertrag unterzeichnet, der den Krieg zwischen der Französischen Republik und dem Deutschen Reich beendete. Begonnen hatte er als ein Krieg des französischen Kaiserreichs gegen Preußen, da, wie es in der französischen Kriegserklärung vom 19. Juli 1870 hieß, dessen Regierung, die Verpflichtung zu haben glaubte, „für die Verteidigung ihrer Ehre und ihrer verletzten Interessen zu sorgen“. Der Kriegsgrund war ein vorgeschobener und vermochte außerhalb Frankreichs auch niemanden recht zu überzeugen. Nicht von ungefähr blieb es ohne Bündnispartner, nach denen es emsig Ausschau gehalten hatte.

„Solange der französische Bonapartismus, der sich in der damaligen Lage nur an der Macht halten konnte, wenn er die endgültige Schaffung eines gesamtdeutschen Staates verhinderte und dabei möglichst noch die französische Grenze allmählich nach dem Osten vorschob, noch nicht geschlagen war, führte Deutschland einen gerechten Verteidigungskrieg.“ So schrieb der Historiker und Marxist Engelberg in seiner zweibändigen maßstabsetzenden Bismarck-Biographie. 

Neu-Deutsche Historiker verteidigen dagegen gern den französischen Imperialismus, indem sie einen deutschen unterstellen. Der eine schaute noch auf die Wirklichkeit, selbstredend aus der Perspektive seiner Überzeugungen. Die gegenwärtig Modischen sind getrieben von Übel-Wollen und dreister Unbildung.

„Gestern haben wir endlich unterzeichnet, mehr erreicht als ich für meine persönliche politische Berechnung für nützlich halte. Aber ich muß nach oben und nach unten Stimmungen berücksichtigen, die eben nicht rechnen. Wir nehmen Elsaß und Deutsch-Lothringen, dazu auch Metz mit sehr unverdaulichen Elementen, und über 1300 Millionen Thaler.“ So Bismarck schon am 27. Februar an seine Frau (über den Vorfrieden, der nunmehr im Wesentlichen bestätigt wurde).

Das ist es, was heute, wenn überhaupt noch, als Inhalt des Vertrages bekannt ist, die Kriegsentschädigungen durch Frankreich und dessen Gebietsabtretungen. Bismarck war aus pragmatischen Gründen über den Gebietszuwachs wenig begeistert, da er immer schon die neuen möglichen Schwierigkeiten sah. Etwa später: Warum Kolonien, wenn man keine Flotte hat, sie zu schützen, die aber, wenn man sie sich zulegte, nur die Briten in ihrem Meeresherrschaftswahn zum Übelnehmen einladen würde. Wie es dann ja auch kam.

Ansicht Straßburgs von 1644, hier gefunden

Aber Bismarck war hier wohl zu überbedachtsam. Die Franzosen waren beleidigt, weil sie den Krieg verloren hatten, der Verlust Elsaß-Lothringens war da nur ein guter zusätzlicher Vorwand. Es handelte sich übrigens um überwiegend deutschsprachige Gebiete, die Frankreich aufgrund der Schwäche des Reiches nach und nach okkupiert hatte, so Straßburg mitten im Frieden 1681 während das Reich mit der Abwehr der Türkengefahr beschäftigt war.

Überhaupt hatte Frankreich ein langanhaltendes starkes Bedürfnis, seine Grenzen gen Osten auszudehnen. Und als dies etwa bei der Pfalz nicht gelingen wollte, brannte man wenigstens die Gegend gründlich nieder, so etwa die Kaiserdome in Speyer und Worms oder die Stadt Heidelberg. Mit anderen Worten: Diese Grenze des Reiches war seit Jahrhunderten, vom Dreißigjährigen, über die sog. Reunionskriege, den Pfälzischen Erbfolgekrieg bis zu Napoleon I., wo selbst Hamburg französisch wurde, Angriffen aus dem Westen ausgesetzt und nun sollte es auf einmal andersherum sein? Das war zuviel für das französische Selbstbewußtsein und verletzte die Ehre der „Großen Nation“ in unerträglichem Maße 

Ezéchiel du Mas, comte de Mélac, Befehlshaber der Rheinarmee Ludwig XIV., hier gefunden

Der Rückschlag der Befreiungskriege, wie die Deutschen sie nannten, mochte in der kollektiven französischen Erinnerung mehr wie ein Unfall der Geschichte aussehen, den Napoleon III. nun eben ungeschehen zu machen versucht hatte.

Europa 1812, vor Napeoleons Rußlandfeldzug, hier gefunden

Das war alles auf deutscher Seite gerade in den rheinnahen süddeutschen Gebieten aber noch nicht wirklich in Vergessenheit geraten, weder die Verheerungen noch das Bewußtsein, daß auf der ganzen anderen Rheinseite deutschsprachige Gebiete lagen. Und auf militärisch verantwortlicher Ebene wollte man an der Westgrenze eine festere Garantie gegen künftige französische Ambitionen. Das erklärt vielleicht die Stimmungen von oben und unten, auf die sich Bismarck bezieht. 

Dennoch war der Frankfurter Friede ein mäßiger und nicht darauf ausgelegt, den besiegten Kriegsgegner zu zerstören, wie es der Versailler später dann zu betreiben suchte. Die rund 1,33 Milliarden Preußischen Taler Kriegsentschädigung brachte Frankreich schneller auf als erwartet und so zogen schon im September 1873 die letzten deutschen Truppen ab.

Die Bewohner Elsaß-Lothringens, die für Frankreich optieren wollten, behielten „ihren auf den mit Deutschland vereinigten Gebieten belegenen Grundbesitz“. Und Artikel II bestimmt ferner:

„Kein Bewohner der abgetretenen Gebiete darf in seiner Person oder seinem Vermögen wegen seiner politischen oder militairischen Handlungen während des Krieges verfolgt, gestört oder zur Untersuchung gezogen werden.“

Welch deutsche Perfidie!

Lorenz Clasen, Germania auf der Wacht am Rhein, 

Es war ein letztes Muster eines Friedens, der den Kriegsgegner immer noch respektierte. Für die Deutschen, deren II. Kaiserreich eben geschaffen worden war, begann ein Aufschwung auf kulturellem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet, wie er kein Beispiel in der deutschen Geschichte kennt.

Und so wurde nicht nur hier, sondern auch in Magdeburg am Denkmal für die Einigungskriege im Park am Fürstenwall dieses heute eher vergessenen Ereignisses gedacht.



Robert Schumann, Nikolaus Becker, Rheinlied, hier gefunden

Robert Schumann, Nikolaus Becker, Sie sollen ihn nicht haben den freien deutschen Rhein, hier gefunden

nachgetragen am 17. Mai


Nachtrag am 18. Mai

Eben lese ich in einem Stück von glorifizierendem Revolutionskitsch, daß der Sturz der Napoleon-Säule am Place Vendôme auf die Nachricht von der Ratifizierung hin erfolgt sein soll. Welch Ironie! Und, woraus man alles etwas lernen kann.

Pariser Kommune 1871 beim Sturz der Colonne Vendôme, hier gefunden

Samstag, 3. Oktober 2015

Zum 3. Oktober


Wir wollten an diesem merkwürdigen Tag milde beginnen. Daher eingangs und nachfolgend ein Bild von dem, was es heute mittags gab, ich kann nicht gerade erklären, daß ich ein Fan Thüringer Rostbratwürste bin. Aber es sollte ein recht deutsches Essen werden. Und da muß man halt einiges auch einfach hinnehmen. Das Sauerkraut hingegen mag ich zwar, vertrage es aber selten (diesmal mit Äpfeln, Piment, Pfefferkörnern, Nelken, Lorbeerblatt sowie mit dem Bratenfond der in Butterschmalz gebratenen Würste). Wir wechseln über zum anderen Teil.


Vor 2 Jahren schrieb ich einen eher geharnischten Beitrag zur Völkerschlacht bei Leipzig. Warum ich darauf wieder stieß, will ich gleich erklären. Aber die Zitate, die mich da wohl motivierten, waren zu eindrücklich:

Wie ein Raubvogel blicke der steinerne Erzengel Michael, Schutzpatron der Deutschen, den Besuchern des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig entgegen. Dumpf und düster beherrsche das 91 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal den Leipziger Südosten. Ein Monument der Nekrophilie und des Verfolgungswahns der Deutschen, die „stets zu Schutz und Trutze“ gegen irgendeinen Feind brüderlich zusammenhalten müßten. Anschließend erging man sich in Sprengphantasien, nun darin hat dieser Menschenschlag ja nicht nur gedankliche Übung.

Ich brauchte einen kleinen Kontrast für die ehernen Worte des Herrn Roloff, die gleich folgen werden, so wird manches vielleicht auch nachvollziehbarer. Zum Tag selbst mag ich eigentlich nichts weiter anmerken, nicht, daß mir nicht vieles durch den Kopf ging. Nur dies noch: Anfang der Woche bin ich daran gescheitert, etwas über den Erzengel Michael zu schreiben, wie mir das früher bisweilen gelungen ist, er ist schon recht ledern (so kam ich auf den alten Beitrag).

Und dann, ich darf das so sagen, die nachfolgende Predigt des Herrn Roloff aus Anlaß dieses Tages ist im Grunde eine Meditation über die Weihnachtsansprache , die der Hl. Vater Benedikt am 21. Dezember 2012, offenkundig im Bewußtsein seines bevorstehenden Rückzugs, hielt.

Erzengel Michael am Völkerschlachtdenkmal


Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit 2015 in Schönhausen


Der Geist des Herrn ist über mir, darum daß mich der Herr gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß ihnen geöffnet werde, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsers Gottes, zu trösten alle Traurigen, zu schaffen den Traurigen zu Zion, daß ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden, daß sie genannt werden die Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn zum Preise.

Sie werden die alten Wüstungen bauen, und was vorzeiten zerstört ist, aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte, so für und für zerstört gelegen sind, erneuen.
Jes. 61, 1-4

Da aber die Pharisäer hörten, wie er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und sprach:
Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?
Jesus aber sprach zu ihm: "Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte."
Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich; Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Matth. 22, 34-40

Friede sei mit Euch!

Liebe Gemeinde,

„Das Bewusstsein seiner Einheit war dem deutschen Volke, wenn auch verhüllt, doch stets lebendig.“

Das ist kein Zitat aus dem 20. Jahrhundert, es stammt vielmehr bereits aus dem 19. Jahrhundert. Kaiser Wilhelm I. hat es gesagt und macht uns damit auf die Tatsache aufmerksam, dass die Frage nach der nationalen Einheit in beiden Jahrhunderten gestellt war und durch unser Volk beantwortet werden musste.

Wir sollten darum auch diesen Tag in einem größeren Zusammenhang als dem unserer jüngsten Geschichte begehen. Darum ist es vielleicht so sinnfällig, dass die 25 Jahre Deutscher Einheit mit dem 200. Geburtstag des Fürsten zusammenfallen.

Als Christen sind wir es gewohnt, auf geschichtliche Zusammenhänge so zurückzublicken, dass sie uns immer auch etwas für die Gegenwart sagen. Das Kirchenjahr ist durchzogen von Festen und Gedenktagen, in denen sich die Herrschaft Gottes über die Geschichte ausdrückt. Gott ist der Herr über die ganze Geschichte der Menschen.

Darum ist es von größtem Interesse, was aus christlichem Verständnis zur staatlichen Ordnung und zu den inneren Beziehungen eines Landes beigetragen werden kann und muss.

Damit wir diesem Gedanken nachgehen können, habe ich den Matthäustext ausgesucht, den wir als Evangelium gehört haben. Es geht dort um die Frage nach dem höchsten Gebot. Es versteht sich von selbst, dass diesem höchsten Gebot schlicht alles und alle unterworfen sind, sonst wäre es nicht das höchste Gebot.

Christus, genau nach diesem höchsten Gebot gefragt, gibt die uns als Christen noch immer sehr vertraute Antwort:

"Du sollst lieben Gott, deinen HERRN, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten."

Dieses Doppelgebot der Liebe ist die christliche Antwort auch auf die Frage nach den Ordnungen in der Welt. Es beschreibt, wie sich die Beziehung des Menschen zu Gott gestalten soll.

Wir sollen Gott lieben bedeutet, wir dürfen uns zu ihm in Beziehung setzen und werden gerade darin gewahr, wer wir sind. Wir sind Geschöpfe seiner Liebe. Unsere Liebe ist die Antwort auf sein Tun. Alles was wir tun, soll nun zur Antwort auf seine Liebe werden.

In diesem Gebot ist die Rede von einer grundlegenden, unser Menschsein stiftenden Beziehung, nämlich der zwischen Mensch und Gott. Diese Beziehung ist grundlegend und darum auch lebenslang. Das ist unserer Antwort auf die heute durchaus bereits vorherrschende Meinung, als gäbe es keine lebenslangen Beziehungen mehr. Man hat den Menschen eingeredet, Bindung für ein Leben lang sei ein Gegensatz zur Freiheit, und Freiheit ist doch der entscheidende Leitbegriff unserer Zeit.

Die Absage aber an eine lebenslange Bindung bedeutet, dass der Mensch für sich bleibt und nur noch Beziehungen eingeht, die er jederzeit wieder beenden kann. Wir begegnen hier einem ganz und gar falschen Verständnis der Freiheit. Wir Christen bekennen, erst in der Liebe zu Gott, in der unlöslichen Beziehung zu ihm, finden wir unser Menschsein und unsere Freiheit.

Nun leben wir als Menschen aber natürlich nicht nur allein mit Gott, sondern immer auch miteinander.

Darum bleibt selbst das Gebot zur Gottesliebe unvollständig, wenn es nicht in dem Gebot zur Nächstenliebe seine Vervollständigung fände. Wo immer Menschen miteinander leben, da ist ihnen die Fürsorge umeinander gleichsam zur Pflicht gemacht. Wir sind füreinander verantwortlich, und dieser Verantwortung werden wir nur gerecht, wenn wir den Mut haben, uns zueinander in Beziehung zu setzen, und uns zu lieben.

Auch diese Liebe verlangt von uns den Mut zur Lebenslänglichkeit, denn nur dann verharren wir nicht in unserem Ich, sondern wir überschreiten es. „Nur im Geben seiner Selbst kommt der Mensch zu sich selbst“, so hat es Benedikt XVI. formuliert.

Liebe Gemeinde,

täuschen wir uns nicht. Ein Gebot ist nicht ein gut gemeinter Ratschlag, den man befolgen kann oder auch nicht. Mit den Geboten treten wir Christen nicht in einen lauen Diskurs, sondern wir beugen uns dem unwiderstehlichen Imperativ Gottes.

Darum haben wir bekannt: Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, und wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten anerkennen.

Wir verwerfen die falsche Lehre. Wir treten in Zeiten hinein, wo genau das unsere Aufgabe ist.

Wenn es nun also um unsere staatlichen Ordnungen geht und um die Gestaltung unseres Zusammenlebens, dann sind wir berufen, diesen unseren Glauben beispielgebend vorzuleben, und seine Stellung in unserem Gemeinwesen zu verteidigen.

Für uns ist die Verantwortung vor Gott, mit der das Grundgesetz sich eröffnet, keine Floskel, sondern eine Konstituante dieses Staates. Für uns gründet der Schutz von Ehe und Familie in der Tatsache, dass der Mensch eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat, die für sein Wesen kennzeichnend ist. Die Dualität des Menschen als Mann und Frau, von der wir im Schöpfungsbericht hören, ist etwas, das wir annehmen müssen, und nicht etwas, über das wir selbst entscheiden könnten.

Werden wir in diesen Zusammenhängen wirklich noch gehört? Spricht die Kirche, die protestantische Kirche, hier noch mit vernehmbarer und klarer Stimme?

Darf man diese Frage so überhaupt stellen? Kern von Luthers Reformation ist doch das Priestertum aller Gläubigen. Wir haben also gar nicht die Berechtigung, auf andere zu warten. Der Protestant steht allein und unmittelbar vor seinem Gott. Luther hat den Gläubigen die Bibel in die Hand gegeben, damit sie auch gelesen wird. Das was wir dort lesen, können und müssen wir in das Gemeinwesen tragen. Es wird nicht durch andere getan. Die Reformation hat den Menschen zur Verantwortung befreit. Vielleicht ist das sogar der eigentliche Kern der Reformation und das größte Verdienst Martin Luthers.

Bismarck wiederum hat schon bei der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 das allgemeine Männerwahlrecht zum Reichstag eingeführt – das weitest gehende Wahlrecht jener Zeit. Er hat dadurch einen gewaltigen Schritt gewagt, um aus Untertanen Bürger zu machen. Das Entscheidende wiederum am Bürgersein ist die Übernahme von Mitverantwortung. Wahlen räumen eben nicht nur ein Recht ein, sie nehmen den Bürger auch in die Pflicht für seine Entscheidung, die doch auch immer eine Entscheidung zum gemeinsamen Wohl oder zur „allgemeinen Wohlfahrt“ ist, wie es in der Bismarck-Verfassung noch hieß.

Durch sie war tatsächlich viel von dem Wirklichkeit geworden, was Bismarck schon in jungen Jahren als Bekenntnis im Landtag vortrug: „Erkennt man die religiösen Grundlagen des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein. Entziehen wir diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, … Seine Gesetzgebung wird sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und wandelbaren Begriffen von Humanität, wie sie sich gerade in den Köpfen derjenigen, welche an der Spitze stehen, gestalten.“

Liebe Gemeinde,

täuschen wir uns nicht, genau in diesem Prozess sind wir inzwischen weit fortgeschritten. Es lohnt sich vielleicht gerade darum, an Luther und Bismarck zu erinnern, denn noch immer ist unser Gott eine feste Burg, auch wenn es mit der Gottesfurcht in diesem Lande nicht weit her zu sein scheint.

Darum noch einmal die Warnung vor dem vergifteten Freiheitsbegriff unserer Zeit, der suggeriert, der Mensch könne alles und auch sich selbst machen. Darin wird der Schöpfer geleugnet und in der Folge der Mensch als Geschöpf Gottes, als sein Ebenbild auch. So aber wird der Mensch eben nicht befreit, sondern er wird im Eigentlichen seines Seins vollständig entwürdigt und damit in seinem Wesen vernichtet.

Es geht in diesem inzwischen entfesselten Kampf um den Menschen selbst.

Nun ist ganz und gar sichtbar, dass dort, wo Gott geleugnet wird, auch die Würde des Menschen sich auflöst. Ohne die unbedingte Liebe zu Gott gibt es auch keine Nächstenliebe, keine Mitmenschlichkeit und keine gültige Bindung, die uns einen Ort in der Schöpfung einräumen könnte. Darum: Wer Gott verteidigt, verteidigt den Menschen.

Amen

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn.

Amen.
Thomas Roloff

Donnerstag, 2. April 2015

Auf dem Weg zu Bismarck - Tangermünde


Tangermünde hat etwas von einem Traum. Es ist die selten gewordene Vorstellung einer intakt gebliebenen deutschen Stadt, mit ihren Brüchen und Fehlstellen, aber doch nie bis zur Gesichtslosigkeit. Und welcher Reichtum an Gewachsenem springt einen förmlich an dabei. Es ist vor allem ein Ort, der im Kern sehr vorneuzeitlich wirkt, dabei sind die meisten Häuser erst aus dem 17. Jahrhundert.

Schönhausen liegt gewissermaßen fast gegenüber, nur durch die Elbe getrennt, es sind wenige Kilometer. Die Stadt ist eine verhinderte Metropole, Kaiser Karl IV. begann, sie zur Nebenresidenz für das Reich zu machen; und selbst diese wenigen Jahre sind immer noch spürbar. Es ist gewissermaßen das vor-hohernzollernsche Brandenburg, das uns hier entgegentritt.

Und wie sinnbildlich für die Neuzeit, drängt sich dann irgendwann ein quietschgelber Lieferwagen in die imposant ehrwürdige Uferszenerie.














nachgetragen am 8. April

Auf dem Weg zu Bismarck (oder auch von ihm weg)


Auf unserem Weg zum Geburtsort des Reichskanzlers blieben wir an 2 Orten länger, die emblematischer für Brandenburg kaum sein könnten (gut, Havelberg wurde auch durchquert, aber dies ist schließlich nur ein Blog) - Neuruppin und Tangermünde.

Neuruppin, da genügt es, die Namen Schinkel und Fontane zu nennen, die beide hier geboren wurden. Was die Stadt baukünstlerisch so merkwürdig macht, ist ihre weiträumige Anlage und ihr noch weitgehend erhaltener klassizistischer Stil, der vom Wiederaufbau nach einem verheerenden Stadtbrand 1787 herrührt. Aber lassen wir Fontane selbst zu Wort kommen:

„Die Stadt Ruppin hat eine schöne Lage ... Nach dem großen Feuer, von dem sie fast ganz verzehrt ward (wie wenn man von einem runden Brot die beiden Kanten übrig läßt), wurde sie in einer Art Residenzstil wieder aufgebaut. Lange, breite Straßen durchschneiden die Stadt, nur unterbrochen durch stattliche Plätze, auf deren Areal unsere Vorvordern selbst wieder kleine Städte errichtet hätten. Für eine reiche Residenz voller Paläste und hoher Häuser, voll Leben und Verkehr, mag solche Anlage die empfehlenswertheste sein; für eine kleine Provinzialstadt aber ist sie bedenklich. Sie gleicht einem auf Auswuchs gemachten Staatsrock, in den sich der Betreffende nie hineinwachsen kann. Dadurch entsteht eine Oede und Leere, die zuletzt zu dem Gefühl einer versteinerten Langeweile führt.“

Der hier zu sehende Bau einer eher seltenen klassizistischen Kirche steht auf einem dieser gerade harsch bemängelten großzügigen Plätze, obwohl er nur noch der Historie nach eine Kirche ist, „Veranstaltungszentrum Sankt Marien“ nennt er sich jetzt. Tatsächlich gibt es in dieser Stadt viel leeren Raum, aber solange an seinen Rändern zumeist wohlproportionierte, bescheiden liebenswürdige Häuser auftauchen, nehme ich ihn gern in Kauf. Überhaupt mag der Feinsinn, den Fontane mit seiner Kritik an den Tag bringt, zu seinen Tagen sein Recht gehabt haben, für uns, die wir reichlich gruseligere Plätze ertragen müssen, ist er kaum mehr leistbar.





Und nun haben wir auch schon den berühmtesten Sohn des Ortes, wenn er auch nur bis zu seiner frühesten Jugend dort verblieb; schuld war der erwähnte große Stadtbrand, an den er seinen Vater verlor. Gegenüber der Kirche hat er seit 1883 sein Denkmal. Fontane schreibt über ihn u.a. recht rührend:

„Diese zwei Zeichnungen... sind muthmaßlich alles, was die ganze Grafschaft Ruppin von dem bedeutendsten Manne besitzt, den sie je hervorgebracht hat; denn wie viel Tüchtiges auch, im Lauf der Jahrhunderte, an den Ufern des Ruppiner See’s emporgewachsen ist, keiner ragt an den Superintendenten-Sohn heran, der das alte Berlin in eine Stadt der Schönheit umgeschaffen und ihm hoffentlich für immer den Stempel seines Geistes aufgedrückt hat.“

Nun ja. Schinkels Geist ist sicher noch aufspürbar. Einer erneuten Epiphanie desselbigen harren wir aber noch.


Das nachfolgende war sicherlich keine derartige, obwohl das Gebäude nicht ohne Reiz ist. 1894/95 als Landratsamt erbaut, fungiert es heute wieder als solches; irgendwie haben gefühlte oder tatsächliche Kontinuitäten auch ihren Reiz. Aber man merkt schon, wie im Stilempfinden und -wollen um 1900 doch auch einiges recht durcheinander ging.



„... in Front des stattlichen Gymnasial-Gebäudes (mit seinem Laternenthurm und seiner Inschrift: »Civibus aevi futuri«) das Bronzebildnis König Friedrich Wilhelm’s II. ..., das die Stadt ihrem Wohlthäter und Wiedererbauer errichtete. Es heißt, es sei dies die einzige Statue des Königs im ganzen Preußenlande, König Friedrich Wilhelm II. besitze kein zweites Denkmal. Wenn dem so ist, dann um so besser, daß keine politische Erwägung, keine moralische Ueberhebung mit zu Rathe saß, als vor etwa 30 Jahren bürgerliche Dankbarkeit einfach aussprach: 'Wir schulden ihm ein Denkmal, weil er unser Wohlthäter war, und gedenken diese Schuld zu zahlen.' Die Statue, in etwas mehr denn Lebensgröße, ist eine Arbeit Friedrich Tiecks. Gedanklich ist sie ziemlich unbedeutend und alltäglich; zeigt aber doch in Form und Haltung jenes Maß und jene Einfachheit, die, wo andre Vorzüge fehlen, selbst schon als Vorzug gelten mögen.“


Das oben ist besagtes Gymnasium, 1790 eingeweiht und „den Bürgern des künftigen Zeitalters“ gewidmet; der Vorgängerbau war ebenfalls beim Stadtbrand 1787 vernichtet worden. Als Ortsunkundiger denkt man nicht sofort an ein Gymnasium, aber auch dies ist, recht betrachtet, ein Ausweis inzwischen selten anzutreffender Wertschätzung höherer Bildung.

Daß unser „dicker Lüderjahn“ doch noch sein Denkmal bekam und ausgerechnet in der Stadt, die man vielleicht zurecht die preußischste aller preußischen nennen könnte, ist denkwürdig. Aber es ist ja nun so, daß er in nicht selbstverständlicher Weise sich um ihre Wiederherstellung kümmerte. Und im Jahre 1829, als lange sein ihn wenig wertschätzender Sohn Friedrich Wilhelm III., der einstmalige Gatte unserer hochgeschätzten Königin Luise, regierte, war dies auch beim besten Willen kein Ausdruck von Opportunismus o.dgl., sondern, wie Fontane es beschreibt.

Übrigens, was dort so selbstverständlich dasteht, ist eine Kopie. Wie sollte uns das überraschen. 1947 wurde das Standbild entfernt und Karl Marx kam auf den verwaisten Sockel. Doch bald requirierten die sowjet-russischen Besatzer denselben für einen Lenin auf ihrem Neuruppiner Kasernengelände und Marx mußte einen Ersatzunterbau finden. Als der Spuk endlich vorbei war, fand sich der Sockel wieder, und seit 1998 gibt es also die Kopie auf dem Original-Sockel an alter Stelle. Tempora mutantur. Um manchmal in einer Art Kreisbewegung wieder am alten Ort anzukommen, äußerlich zumindest.



Denn allzu vieles von diesem Anknüpfen und Wiederherstellen hat offenkundig kaum tieferen Grund, da die Kenntnis nur noch oberflächlich und das Wohlwollen für den Gegenstand bestenfalls eingeübt und vorgestellt ist. Dazu paßt irgendwie, wenn auch etwas krumm, eine Äußerung, die Fontane in seinem Ruppin-Kapitel der „Wanderungen“ über die historische Unbildung weiter Bevölkerungsschichten macht:

„Die Unkenntnis und Indifferenz ist grenzenlos und sollte denen nachzudenken geben, die nicht müde werden, von dem Wissen und der Erleuchtetheit unserer Zeit zu sprechen. Erstaunlich ist es namentlich, wie absolut nichts unser Volk von jener Periode unsrer Geschichte weiß, die der vorlutherischen Zeit angehört. Man kennt weder die Dinge, noch die Bezeichnungen für die Dinge; die bloßen Worte sind unserer protestantischen Sprache wie verloren gegangen. Man mache die Probe und frage z. B. einen Märkischen Landbewohner, was der 'Krummstab' sei? Unter Zwanzigen wird es nicht Einer wissen. In der Ruppiner Klosterkirche fragte ich die Küstersfrau, welche Mönche hier früher gelebt hätten? worauf ich die Antwort erhielt: 'Mein Mann weeß et; ich jlobe, et sind kattolsche gewesen.'“

Berlin, Bismarck-Nationaldenkmal
hier gefunden

Und schon verlassen wir Neuruppin und sind bei einem anderen Denkmal (Tangermünde muß warten). Wir sahen gerade das Bismarck-Nationaldenkmal von 1901, das zunächst vor dem Reichstag stand, bis die  Herren des III. Reiches es 1938 in den Tiergarten gewissermaßen zwischen die Bäume abschoben. Dort ist das Werk von Reinhold Begas noch heute aufzufinden (neben manch anderem, das sich dort in die Nachbarschaft verirrt hat). So groß kann die behauptete Nähe also offensichtlich nicht gewesen sein, daß sie sich des Anblickes regelmäßig prominent aussetzen wollten.

Bismarck-Nationaldenkmal vor dem Reichstag, um 1900

Das öffentliche Gedenken an den 200. Geburtstag des Reichskanzlers war eine recht merkwürdige Melange aus bemühtem Vergessen, notorischem Ressentiment, stolz präsentiertem Nichtwissen, abgelieferten Pflichtakten (etwa in Form von Artikeln, die vor allem aus in Streifen geschnittenen und verschieden neu zusammengesetzten Agenturmeldungen bestanden, selbst in Zeitungen, die sich immer noch als seriös bezeichnen) und einigen erfreulichen Ausnahmen.

Die Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh, hatte zum 1. April nach Berlin zu einem Festakt ins Zeughaus geladen und der Bundesminister der Finanzen hielt dabei die Hauptrede. Man mag sie hier nachlesen, ich fand sie in ihrer offenen, fast frischen, durchaus nachdenklichen, in jedem Fall gut informierten Weise geradezu angenehm. Auch wenn ich einige gedankliche Prämissen nicht teile, aber man muß eine durchdachte Position auch für sich stehen lassen können, wenn sie eben das erkennbar ist. Z.B. mit Sätzen wie:

"Unsere Geschichte im 20. Jahrhundert hat uns emotional auch von unserer Geschichte im 19. Jahrhundert abgeschnitten. Es wäre ein anderes Verhältnis vorstellbar zu diesem Geburtsjahrhundert unserer heutigen Welt."

Oder: „Das ist die eine Konstante in seinem Leben und in seinem Jahrhundert: Das Ringen um beständige Ordnungen, um Stabilität, oft genug nach großen Umwälzungen und dramatischen Veränderungen...“

Und um wenigstens anzudeuten, wo meine Skepsis liegt, Herr Dr. Schäuble ist unverkennbar ein Protagonist transnationaler Ordnungen, zunächst und vor allem in Europa. Das gab es auch schon früher. Doch damit verbindet sich dann ein Zivilglaube (in meinen Augen) an eine Weltrechtsordnung, gewaltfreie Konfliktbewältigung, Kooperation statt Konfrontation...

Worauf er gezwungen ist, bedauernd zu konstatieren: "...da muss man ja leider erkennen, dass um uns herum die Welt noch einmal wieder der Welt Bismarcks ähnlicher geworden ist. Es ist einiges zurückgekommen, das wir fern gerückt glaubten: ein Denken in Einflusssphären, in Räumen und Reichen, eher altertümliche Vorstellungen von Macht, militärisch grundiert, Staaten, die sich gedemütigt fühlen und Genugtuung suchen.“ Da könne dann eine Beschäftigung mit Bismarcks Politik in seiner Zeit „zwar nicht klug für ein andermal, aber eben doch ein Stück weiser für den Umgang mit unseren heutigen Problemen“ machen.

Eine tatsächliche Dosis „Realpolitik“, also sich nicht die Wirklichkeit schönzureden, sondern auf die im Zweifel häßliche Realität zu schauen, wäre da schon ein Anfang. Aber das soll es dazu auch sein.


Bismarck-Nationaldenkmal im Tiergarten, von der Siegessäule

Um nur ein Beispiel eines der schauerlicheren Artikel zu bringen (an dem sich der Zeitgeist wie auf einem Barometer förmlich ablesen läßt), so schaue man hier.  Die Parole „Deutschland“ sei nur „Mittel zum großpreußischen Zweck“gewesen. Und dafür zerstörte Bismarck die schöne europäische Staatenordnung jener Zeit, die auf dem Gleichgewicht der Kräfte beruhte (und bekanntermaßen waren alle Akteure wohlgesittet und wären nie auf den Gedanken gekommen, die ausgedehnte Kleingartenanlage, wo man deutsch sprach, begehrlich ins Auge zu nehmen – Napoleon I wollte doch nur den Code civil über Europa bringen und die Menschenrechte - und warum wollten die Deutschen nur unbedingt in einem Staat leben, wo sie doch so viele davon haben konnten). Dann muß auch noch die Linie von Bismarck zu Hitler ein wenig aufgewärmt werden, und folglich wurde der deutsche Nationalstaat, der eben noch so überflüssig war, erst 1949 gegründet. Das lassen wir jetzt alles so stehen.

Bismarck, Nationaldenkmal, Berlin

Inzwischen sind wir in Schönhausen angekommen. Die Predigt des Herrn Roloff im Gedenkgottesdienst hatte ich immerhin noch dokumentiert. Ich wollte ihr eigentlich auch gar nichts hinzufügen, da sie mir ebenfalls sehr durchdacht erscheint (beiläufig bemerkt, habe ich persönlich meinen Respekt für Bismarck eher erarbeiten müssen, da ist mir Herr Roloff deutlich voraus, das nur nebenbei). Der Gottesdienst war würdevoll, außerordentlich gut besucht, nur hatte ich das Empfinden, es sei draußen deutlich wärmer als drinnen; insofern war jedes Ausharren ein deutlicher Akt der Tapferkeit, der allseits begangen wurde.

Am Geburtsort Bismarcks fand, abgesehen vom Gedenkgottesdienst, ansonsten an diesem Tage nichts statt. Am nächsten gab es immerhin noch eine launige Präsentation von Sonderbriefmarken und -münzen durch den vormaligen Ministerpräsidenten dieses Landes.

Und ja, ich vergaß, es würde auch noch ein buntes Fest der Demokratie gegen das Böse und für das Gute geben. Die Anzeichen war schon unübersehbar. Die diesen Ort Besetzenden sahen sich dabei offenkundig in einem nicht einmal Donquichotte-würdigen Abwehrkampf gegen das vor-vorige Jahrhundert. Und hatten daher die historischen Kanonen mit Plastikdeckchen eingehüllt, sozusagen als Abwehrzauber gegen das vergangene Mord-Lüsterne, also als Zeichen gegen Gewalt, der gerade in diesen ländlich schlichten vorgestrigen Landstrichen die unaufgeklärten Einheimischen schnell wieder anheimfallen könnten. Was ein Voodoo und gleichzeitig was für anthropologische Trouvaillen. Davon denn doch keine Bilder, nur eine Erinnerung.


nachgetragen am 8. April