Freitag, 26. August 2016

C. G. Jung „Antwort auf Hiob“ - 8

"Enoch",William Blake, 1807

Fröhlich und einfach gestrickte Menschen wissen oft nicht, worauf sie herum hüpfen, und wenn es der Fall Roms war (die bösere Variante - sie wissen es und tun es eben deshalb). Diese lustigen Burschen haben ihren Spaß, und sei es im wurzelhaft Falschen.

"Ist doch alles richtig, wenn man sich so entschieden hat…und entscheiden muss man sich. Mir ist diese Haltung immer noch sehr viel lieber als diese dürftige glaubenslose Religiosität auf Sozialarbeiterniveau, in die hinein sich der Protestantismus verliert!!!"

Meinte Herr R., und recht hat er. Das Gruselige an diesen Neu-Goten (was die Goten ins Unrecht setzt, denn da war ja noch einiges intakt; und das ist, wie gesagt die freundlichere Variante) ist, sie haben nicht einmal einen Schimmer von Ahnung von dem, was vor ihnen war, und von wie mühselig errungener Bedeutung und Einsicht. Etwas, das hoffentlich bestehen wird, selbst wenn wir in dieser Hoffnung sehr stark sein müssen.

Der erwähnte junge Mann hat seine eigene Sicht auf die Zumutungen, die von seinesgleichen überwiegend erst geschaffen wurden: „Und eine Mythologie, die 2000 Jahre alt ist und von einer primitiven Hirtenkultur entwickelt wurde, wird uns dabei nicht weiterhelfen.“

Wir wollen einmal schauen, wie primitiv diese sehr spezielle Kultur war:

Ich wiederhole etwas aus meinem vorigen Beitrag: „Auch hier, wo man restlos den Menschen empfinden könne, sei der göttliche Mythus ebenso eindrucksvoll gegenwärtig. Und beides sei eines und dasselbe. Wie wolle man da die Gestalt Christi 'entmythologisieren'? 'Ein solcher rationalistischer Versuch würde ja das ganze Geheimnis dieser Persönlichkeit herauslaugen, und was übrig bliebe, wäre nicht mehr die Geburt und das Schicksal eines Gottes in der Zeit, sondern ein historisch schlecht beglaubigter religiöser Lehrer, ein jüdischer Reformator, der hellenistisch gedeutet und mißverstanden wurde - etwa ein Pythagoras oder meinetwegen ein Buddha oder ein Mohammed, aber keinesfalls ein Sohn Gottes oder ein Mensch gewordener Gott.'“

Wir fahren fort (und es wird sehr lang werden, eine Warnung, ich hasse Derartiges eigentlich, aber es geht nicht anders).

In meinem vorigen Beitrag meinte ich noch, das Christus-Kapitel würde abfallen, womöglich habe Jung sich nur warmgelaufen. Es ist alles schon zugleich ein Eintauchen in eine vertraute wie zugleich verstörend fremde Geisteswelt, doch mein Gefühl sagt mir, es sei nicht wirkungslos.

Die Tatsache der göttlichen „Unbewußtheit“ werfe ein eigenartiges Licht auf die Erlösungslehre: „Die Menschheit wird keineswegs von ihren Sünden befreit..., sondern von der Furcht vor den Folgen der Sünde, nämlich dem Gotteszorn. Das Erlösungswerk will also den Menschen von der Gottesfurcht erlösen, was dort gewiß möglich ist, wo der Glaube an den liebenden Vater, der seinen eingeborenen Sohn zur Rettung des Menschengeschlechtes gesandt hat, den deutlich persistierenden Jahwe mit seinen gefährlichen Affekten verdrängt.“

Ein derartiger Glaube setze aber einen Mangel an Reflexion oder ein sacrificium intellectus voraus, von denen es zweifelhaft sei, ob sie noch moralisch verantwortet werden könnten. Man dürfe nicht vergessen, daß Christus selber es war, der uns gelehrt habe, mit den anvertrauten Pfunden zu wuchern und sie nicht zu vergraben. Man dürfe sich nicht dümmer und unbewußter stellen als man sei.

Diese Obliegenheiten schärften unvermeidlicherweise den Verstand, die Wahrheitsliebe und den Erkenntnisdrang, die ebenso wohl genuine menschliche Tugenden, wie Wirkungen jenes Geistes, der „selbst die Tiefen der Gottheit erforscht“, sein könnten. Diese intellektuellen und moralischen Kräfte seien selber göttlicher Natur und könnten und dürften deshalb nicht abgeschnitten werden.

(Man kann wahrlich nicht behaupten, daß Jung hier nicht mit seinen Pfunden zu wuchern suchen würde, auf diese Erklärung für den Opfertod Christi ist zuvor niemand gekommen.)

Die Tatsache, daß christliche Ethik in Pflichtenkollisionen hineinführe, spräche zu ihren Gunsten. „Indem sie unlösbare Konflikte und damit eine 'afflictio animae' erzeugt, bringt sie den Menschen der Gotteserkenntnis näher: Aller Gegensatz ist Gottes, darum muß sich der Mensch damit belasten, und indem er es tut, hat Gott mit seiner Gegensätzlichkeit von ihm Besitz ergriffen, d. h. sich inkarniert. Der Mensch wird erfüllt vom göttlichen Konflikt.“

Wir verbänden mit Recht die Idee des Leidens mit einem Zustand, in welchem Gegensätze schmerzlich aufeinanderprallten, und scheuten uns, eine solche Erfahrung als Erlöstheit zu bezeichnen. Das große Symbol des christlichen Glaubens, das Kreuz, an dem die Leidensgestalt des Erlösers hängt, werde aber seit beinahe zweitausend Jahren dem Christen eindrücklich vor Augen geführt, ergänzt durch die beiden Schächer, von denen der eine in die Hölle fahre, der andere ins Paradies eingehe.

Man könne die Gegensätzlichkeit des christlichen Zentralsymbols wohl nicht besser darstellen. Wieso dieses Erlösung bedeuten solle, sei schwierig einzusehen, wenn nicht gerade das Bewußtwerden des Gegensatzes, so schmerzhaft diese Erkenntnis im Moment auch sein mag, die unmittelbare Empfindung der Erlöstheit mit sich führe.

„Es ist einerseits die Erlösung aus dem qualvollen Zustand dumpfer und hilfloser Unbewußtheit, andererseits das Innewerden der göttlichen Gegensätzlichkeit, deren der Mensch teilhaft werden kann, sofern er sich der Verwundung durch das trennende Schwert, welches Christus ist, nicht entzieht. Eben gerade im äußersten und bedrohlichsten Konflikt erfährt der Christ die Erlösung zur Göttlichkeit, sofern er daran nicht zerbricht, sondern die Last, ein Gezeichneter zu sein, auf sich nimmt. So und einzig auf diese Weise verwirklicht sich in ihm die imago Dei, die Menschwerdung Gottes.“

Die siebente Bitte des Vaterunser: „Und erlöse uns von dem Bösen“ sei dabei in dem Sinne zu verstehen, welcher der Bitte Christi in Gethsemane: „Wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch an mir vorübergehen“, zugrunde liege. Im Prinzip scheine es nämlich nicht der Absicht Gottes zu entsprechen, den Menschen mit dem Konflikt und so mit dem Bösen zu verschonen. Es sei daher zwar menschlich, einen derartigen Wunsch auszusprechen, aber er dürfe nicht zum Prinzip erhoben werden, weil er sich gegen den göttlichen Willen richte und nur auf menschlicher Schwäche und Furcht beruhe. Letztere sei allerdings in gewissem Sinne berechtigt, denn, um den Konflikt zu vervollständigen, müsse der Zweifel und die Unsicherheit bestehen, ob nicht der Mensch am Ende überfordert werde.

Die traditionelle Auffassung des Erlösungswerkes entspräche einer einseitigen Betrachtungsweise. „Die andere Ansicht, welche das Versöhnungswerk nicht als das Abtragen einer menschlichen Schuld an Gott, sondern vielmehr als die Wiedergutmachung eines göttlichen Unrechtes am Menschen betrachtet, haben wir oben skizziert.“ Letztere Auffassung scheine den tatsächlichen Machtverhältnissen besser angepaßt zu sein.

(Zur traditionellen Überzeugung) - „Was ist das für ein Vater, der lieber den Sohn abschlachtet, als dass er seinen übelberatenen und von seinem Satan verführten Geschöpfen großmütig verzeiht? Was soll mit diesem grausamen und archaischen Sohnesopfer demonstriert werden? Etwa die Liebe Gottes? Oder seine Unversöhnlichkeit?“

Wir wüßten, daß Jahwe eine Tendenz habe, solche Mittel, wie Tötung des Sohnes und der Erstgeburt, entweder als Test oder zur Geltendmachung seines Willens anzuwenden, obschon seine Allwissenheit und seine Allmacht derart grausame Prozeduren gar nicht nötig hätten. Es sei begreiflich, daß ein naiver Verstand Neigung bekunde, vor solchen Fragen Reißaus zu nehmen und diese Notmaßnahme als sacrificium intellectus zu beschönigen.

„Der Glaube an Gott als das Summum Bonum ist einem reflektierenden Bewußtsein unmöglich. Es fühlt sich keineswegs von der Gottesfurcht erlöst und fragt sich daher mit Recht, was ihm Christus eigentlich bedeute. Das ist in der Tat die große Frage: kann Christus heute überhaupt noch interpretiert werden? Oder muß man sich mit der historischen Deutung begnügen?“

Eines lasse sich wohl nicht bezweifeln: Christus sei eine höchst numinose Figur. Damit stehe die Deutung als Gott und Gottessohn im Einklang. „Die alte Anschauung, die auf seine eigene Auffassung zurückgeht, behauptet, daß er zur Errettung des von Gott bedrohten Menschen in die Welt gekommen, gelitten habe und gestorben sei. Außerdem bedeute seine leibliche Auferstehung, daß alle Gotteskinder dieser Zukunft gewiß seien.“

Jung betont erneut, wie seltsam sich die Rettungsaktion Gottes ausnähme. „Er tut ja in der Tat nichts anderes, als daß er selber in der Gestalt seines Sohnes die Menschheit vor sich selber errettet. Dieser Gedanke ist so skurril wie die alte rabbinische Anschauung von Jahwe, der die Gerechten vor seinem Zorn unter seinem Thron verbirgt, wo er sie nämlich nicht sieht.“

Es sei geradezu so, als ob Gottvater ein anderer Gott wäre, als der Sohn. Es bestehe aber keine psychologische Notwendigkeit zu einer derartigen Annahme, denn die unzweifelhafte Unreflektiertheit des göttlichen Bewußtseins genüge zur Erklärung seines merkwürdigen Verhaltens.

Mit Recht gelte darum die Gottesfurcht als der Anfang aller Weisheit. Auf der anderen Seite dürfe man die hochgepriesene Güte, Liebe und Gerechtigkeit Gottes nicht als bloße Propitiierung auffassen, sondern müsse sie als genuine Erfahrung anerkennen, denn Gott sei eine coincidentia oppositorum. Beides sei berechtigt: die Furcht vor und die Liebe zu Gott.

(Ich würde an dieser Stelle gern abbrechen, aber alle Hauskatzen haben sich gerade erwartungsvoll um mich versammelt, schweigend, aber interessiert. Ein grausames Gefühl. Ich hatte die Terrassentür offengelassen. Sie müssen erst einmal fort und danach bin ich voraussichtlich wieder wacher.)

Einem differenzierteren Bewußtsein müsse dies auf die Dauer schwer ankommen,  einen Gott als gütigen Vater zu lieben, den man wegen seines unberechenbaren Jähzorns, seiner Unzuverlässigkeit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit fürchten müsse.

Daß der Mensch allzumenschliche Inkonsequenzen und Schwächen an seinen Göttern nicht schätze, habe der Verfall der antiken Götter zur Genüge bewiesen.

So habe wohl auch die moralische Niederlage Jahwes Hiob gegenüber ihre geheimen Folgen gehabt: einerseits die unbeabsichtigte Erhöhung des Menschen, andererseits eine Beunruhigung des Unbewußten.

„Unter diesen Umständen entwickelt sich ein Gefälle vom Unbewußten zum Bewußtsein hin, und ersteres bricht in Gestalt von Träumen, Visionen und Offenbarungen in letzteres ein.“ Exemplifiziert wird dies an Ezechiel.

„Rein klinisch betrachtet sind die Visionen Ezechiels von archetypischer Natur und in keinerlei Weise krankhaft verzerrt.“ Es bestehe kein Anlaß, sie für pathologisch anzusehen, wie es überhaupt ein Irrtum sei, anzunehmen, eine Vision sei eo ipso krankhaft.

„Das erste große Gesicht besteht in zwei wohlgeordneten und zusammengefaßten Quaternitäten, d.h. Ganzheitsvorstellungen, wie wir sie auch heute noch vielfach als spontane Phänomene beobachten. Ihre quinta essentia ist dargestellt durch eine 'Gestalt, wie ein Mensch anzusehen'. Ezechiel hat hier den wesentlichen Inhalt des Unbewußten geschaut, nämlich die Idee des höheren Menschen, vor dem Jahwe moralisch unterlag und zu dem er später werden wollte.“ [sic!]

Ezechiel habe die Annäherung Jahwes an den Menschen im Symbol erfaßt, zudem täte bei Ezechiel zum ersten Mal der Titel 'Menschensohn' auf, mit dem Jahwe bezeichnenderweise den Propheten anrede und damit vermutlich andeute, daß er ein Sohn des 'Menschen' auf dem Throne seit; eine Präfiguration der viel späteren Christusoffenbarung! Mit größtem Recht seien daher die vier Seraphim des Gottesthrones zu den Evangelistenemblemen geworden, denn sie bildeten die Quaternität, welche die Ganzheit Christi ausdrücke, wie die Evangelien die vier Säulen seines Thrones darstellten.“

Ausführlicher sei das um 100 a. Chr. n. zu datierende Buch Henoch. Es gäbe uns einen aufschlußreichen Bericht über jenen präfigurierenden Vorstoß der Gottessöhne in die Menschenwelt, welchen man als „Engelsturz“ bezeichnet habe. Die Engel lehrten den Menschen Wissenschaften und Künste. Sie hätten sich als besonders fortschrittliche Elemente erwiesen, welche das menschliche Bewußtsein erweiterten und entwickelten, wie schon der böse Kain gegenüber Abel den Fortschritt repräsentiert habe. „Sie vergrößerten dadurch die Bedeutung des Menschen ins 'Riesenhafte', was auf eine Inflation des damaligen Kulturbewußtseins hindeutet.“

Eine Inflation sei aber immer von einem Gegenschlag des Unbewußten bedroht, der dann auch in der Gestalt der Sintflut eingetreten wäre. Die Invasion der Menschenwelt durch die Gottessöhne hätte also bedenkliche Folgen gehabt, welche die von Jahwe ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen vor seinem eigenen Erscheinen in der Menschenwelt um so begreiflicher mache. „Der Mensch war eben der göttlichen Übermacht nicht von ferne gewachsen.“

Es sei nun von höchstem Interesse, zu verfolgen, wie sich Jahwe in dieser Angelegenheit verhielte. 200 Gottessöhne hätten den väterlichen Hofstaat zu verlassen gehabt, um in der Menschenwelt zu experimentieren. Wessen Folgen überraschen unbemerkt blieben zunächst. „Erst nachdem die Riesen schon längst gezeugt und bereits daran waren, die Menschen totzuschlagen und aufzufressen, hörten, wie zufällig, vier Erzengel das Klagegeschrei der Menschen und entdeckten nun, was auf Erden geschah.“

„Diesmal fühlten sich die Erzengel doch veranlasst, mit folgender Rede vor Gott zu treten: 'Alles ist vor Dir aufgedeckt und offenbar; Du siehst alles, und nichts kann sich vor Dir verbergen. Du hast gesehen, was Asasel getan hat, wie er allerlei Ungerechtigkeit auf Erden gelehrt und die himmlischen Geheimnisse der Urzeit geoffenbart hat... Du aber weißt alles, bevor es geschieht. Du siehst dies und lässest sie gewähren und sagst nicht, was wir deswegen mit ihnen tun sollen.'“

Entweder sei das, was die Engel sagen, gelogen, oder Jahwe habe aus seiner Allwissenheit keine Schlüsse gezogen, oder die Engel müßten ihn daran erinnern, daß er es wieder vorgezogen habe, von seiner Allwissenheit nichts zu wissen. Auf alle Fälle löse erst ihre Intervention eine umfassende Racheaktion aus, aber keine wirklich gerechte Strafe, denn er ersäufe gleich die ganze lebendige Kreatur mit Ausnahme von Noah und dessen Angehörigen. Dieses Intermezzo beweise, dass die Gottessöhne irgendwie vigilanter, fortschrittlicher und bewußter als ihr Vater seien. Umso höher sei die spätere Wandlung Jahwes zu veranschlagen.

„Die Vorbereitungen zu seiner Inkarnation machen tatsächlich den Eindruck, daß er aus der Erfahrung gelernt hat und bewußter zu Werke geht als früher. Zu dieser Bewußtseinsvermehrung trägt unzweifelhaft die Wiedererinnerung an die Sophia bei.

In der Tat erblickt Henoch die vier 'Gesichter' Gottes. Drei davon beschäftigen sich mit Lobpreisen, Beten und Bitten, das vierte aber 'wehrte die Satane ab und gestattete ihnen nicht, vor den Herrn der Geister zu treten, um die Bewohner des Festlandes anzuklagen'.“

Die Vision stelle eine wesentliche Differenzierung des Gottesbildes dar: Gott habe vier Engel des Angesichtes, Hypostasen oder Emanationen, wovon die eine ausschließlich damit beschäftigt sei, den Gottessohn Satan von Gott fernzuhalten.

Der Vater wolle Sohn, Gott Mensch, der Amoralische ausschließlich gut und der Unbewußte bewußt verantwortlich werden. Aber all dies befände sich erst in statu nascendi.

„Henoch erweist sich als dermaßen vom göttlichen Drama ergriffen und beeinflusst, dass man von ihm ein ganz besonderes Verständnis der kommenden Gottesinkarnation beinahe voraussetzen kann: der bei dem 'Hochbetagten' befindliche 'Menschensohn' sieht einem Engel... gleich... 'bei ihm wohnt die Gerechtigkeit'; der Herr der Geister hat ihn 'auserwählt'; 'sein Los hat alles durch Rechtschaffenheit übertroffen.'“

Es sei wohl kein Zufall, daß gerade die Gerechtigkeit so sehr hervorgehoben werde, denn sie sei jene Eigenschaft, deren Jahwe ermangele.

„Unter der Herrschaft des Menschensohnes wird 'das Gebet des Gerechten erhört'... Henoch erblickt einen 'Brunnen der Gerechtigkeit, der unerschöpflich war'. Der Menschensohn 'wird ein Stab für die Gerechten und Heiligen sein'.“ Zu diesem Zwecke sei er auserwählt worden und verborgen vor Gott, bevor die Welt geschaffen wurde, und er werde bis in Ewigkeit vor ihm sein.

„In der Endzeit hält der Menschensohn Gericht über alle Geschöpfe. Sogar 'die Finsternis wird vernichtet' und 'unaufhörlich wird das Licht sein'.“

Es sei bemerkenswert, daß der Menschensohn immer wieder mit der Gerechtigkeit zusammengebracht werde. „Niemand, nur Gott, kann in nennenswerter Weise Gerechtigkeit austeilen und gerade in Bezug auf ihn besteht berechtigterweise die Furcht, er möchte seine Gerechtigkeit vergessen. In diesem Falle würde dann sein gerechter Sohn bei ihm für die Menschen eintreten. So werden 'die Gerechten Frieden haben'. Die Gerechtigkeit, die unter dem Sohn herrschen wird, ist dermaßen hervorgehoben, dass der Eindruck entsteht, als ob früher unter der Herrschaft des Vaters das Unrecht den Vorrang gehabt hätte, und erst mit dem Sohne ein Zeitalter des Rechtes angebrochen wäre. Es scheint, als ob Henoch hiermit auf Hiob unbewußt Antwort gäbe.“

Gott wolle etwas in den Hintergrund treten und dem Sohne die Regierung der Menschenwelt mehr und mehr überlassen, woraus eine gerechtere Ordnung erhofft werde. „Man sieht aus alledem, daß irgendwo ein seelisches Trauma, die Erinnerung an eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, nachwirkt und das Vertrauensverhältnis zu Gott trübt. Gott selber will einen Sohn haben, und man wünscht sich einen Sohn, daß er den Vater ersetze. Dieser Sohn muß...  unbedingt gerecht sein und dies vor allen anderen Tugenden. Gott und Mensch wollen der blinden Ungerechtigkeit entgehen.“

„Hiob selbst ahnt etwas derartiges, wenn er bekennt: 'Ich weiß, dass mein Anwalt lebt'.“ Diese höchst merkwürdige Äußerung könne sich unter den damaligen Umständen nur auf den gütigen Jahwe beziehen. Die traditionelle christliche Deutung dieser Stelle als einer Antizipation Christi bestehe aber insofern zu Recht, als Jahwes wohlwollender Aspekt als eigene Hypostase sich im Menschensohn inkarniere, und dieser sich bei Henoch als ein Vertreter der Gerechtigkeit und im Christentum als Rechtfertiger des Menschen erweise.  Zudem sei der Menschensohn präexistent.

„Trotz Widerspruch hat man begreiflicherweise in diesen messianischen Vorstellungen Henochs christliche Interpolationen sehen wollen. Aus psychologischen Gründen scheint mir dieser Verdacht aber ungerechtfertigt zu sein. Man sollte sich nur Rechenschaft darüber geben, was die Ungerechtigkeit, ja Amoralität Jahwes einem frommen Denker bedeuten mußte! Es war ein allerschwerstes Stück, mit einer derartigen Gottesvorstellung belastet zu sein. Noch ein spätes Zeugnis erzählt uns von einem frommen Menschen, der nie den 89sten Psalm lesen konnte, 'weil er ihm zu schwer fiel'. Wenn man berücksichtigt, mit welcher Intensität und Ausschließlichkeit nicht nur die Lehre Christi, sondern auch die Kirchenlehre der nachfolgenden Jahrhunderte... die Güte des liebenden Vaters im Himmel, die Erlösung von der Angst, das Summum Bonum und die privatio boni vertraten, so kann man daraus ermessen, welche Inkompatibilität die Gestalt Jahwes bedeutet, und wie unerträglich eine derartige Paradoxie dem religiösen Bewußstsein erscheint. Dem war wohl schon immer so seit den Tagen Hiobs.“

Die innere Instabilität Jahwes sei Voraussetzung nicht nur der Weltschöpfung, sondern auch des pleromatischen Dramas, dessen tragischen Chor die Menschheit bilde. Die Auseinandersetzung mit der Kreatur wandele den Schöpfer.

Hiob sei der ungerecht Leidende, Ezechiel aber schaue die Vermenschlichung und Differenzierung Jahwes, und durch die Anrede 'Menschensohn' werde ihm bereits angedeutet, dass die Inkarnation und Quaternität Gottes sozusagen das pleromatische Vorbild dafür sei, was dem Menschen schlechthin, nicht bloß dem seit Ewigkeit vorgesehenen Gottessohn, durch die Wandlung und Menschwerdung Gottes geschehen werde.

„Das Buch Henoch antizipierte in großem Stile, aber alles hing noch in der Luft als bloße Offenbarung, die nirgends den Boden erreichte. Man kann Anbetrachts dieser Tatsachen beim besten Willen nicht einsehen, wieso das Christentum, wie man immer wieder hören kann, als absolutes Novum in die Weltgeschichte eingebrochen sei. Wenn etwas je historisch vorbereitet und von den schon bestehenden Anschauungen der Umwelt getragen und unterstützt war, so bildet das Christentum hiefür ein schlagendes Beispiel.“

„Jesus tritt zunächst als jüdischer Reformator und als Prophet eines ausschließlich guten Gottes auf. Damit rettet er den bedrohten religiösen Zusammenhang. In dieser Beziehung erweist er sich in der Tat als σωτήρ. Er bewahrt die Menschheit vor dem Verluste der Gottesgemeinschaft und dem Verlorengehen ins bloße Bewußtsein und dessen 'Vernünftigkeit'.

Das hätte so viel wie eine Dissoziation zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten bedeutet, also einen unnatürlichen bzw. pathologischen Zustand, einen sog. 'Seelenverlust', von dem der Mensch seit Urzeit immer wieder bedroht ist. Immer wieder und in steigendem Maße gerät er in die Gefahr, die irrationalen Gegebenheiten und Notwendigkeiten seiner Psyche zu übersehen und sich einzubilden, mit Willen und Vernunft alles zu beherrschen, und damit die Rechnung ohne den Wirt zu machen, was am deutlichsten bei den großen sozialpolitischen Bestrebungen, wie Sozialismus und Kommunismus zu sehen ist: unter ersterem leidet der Staat und unter letzterem der Mensch.“

Jesus habe die vorhandene Tradition in seine persönliche Wirklichkeit übersetzt und verkünde: „Gott hat ein Wohlgefallen an der Menschheit. Er ist ein liebender Vater und liebt euch, so wie ich euch liebe, und hat mich als seinen Sohn gesandt, euch von der alten Schuld loszukaufen.“ Er selber biete sich als das Sühnopfer an, welches die Versöhnung mit Gott herbeiführen solle. Man müsse sich allerdings vor Augen halten: der Gott des Guten sei dermaßen unversöhnlich, daß er sich nur durch ein Menschenopfer beschwichtigen lasse!

„Christus erweist sich in doppelter Hinsicht als Mittler: Er hilft dem Menschen gegenüber Gott und beschwichtigt die Angst, die man vor diesem Wesen empfindet. Er nimmt eine wichtige Mittelstellung zwischen den zwei schwer vereinbaren Extremen Gott und Mensch ein.“ Christus aber sei (conceptio immaculata) kein kreatürlicher Mensch und habe daher keine Neigung zur Sünde. „Die Infektion des Bösen wurde durch die Vorbereitung der Inkarnation bei ihm ausgeschaltet. Christus steht daher mehr auf der göttlichen als auf der menschlichen Seite. Er inkarniert den guten Gotteswillen ausschließlich und steht darum nicht genau in der Mitte, denn das Essentielle des kreatürlichen Menschen, die Sünde, erreicht ihn nicht.“

[Als Christ gesprochen, denke ich, hier irrt Jung, der Mensch wurde eben nicht sündhaft geschaffen, sondern wurde es, wie auch immer, aber ist nicht seine erste und eigentliche Natur.]

„Obschon im allgemeinen angenommen wird, daß das einmalige Opfer Christi den Fluch der Erbsünde gebrochen und Gott endgültig versöhnt habe, so scheint Christus in dieser Hinsicht doch etwelche Besorgnisse empfunden zu haben.“ Er verspräche ihnen über seine immerwährende Gegenwart hinaus einen παράχλητος, der ihnen beistehen und ewig bei ihnen bleiben werde.

(Wir sind beim Heiligen Geist angelangt.) Der Paraklet (von dem Christus übrigens gerade nicht gezeugt worden ist, sondern eher andersherum, kleiner dogmatischer Irrtum) sei der Geist der physischen und geistigen Zeugung, der von nun an in den kreatürlichen Menschen seine Wohnung aufschlagen solle. Da er die dritte Person der Gottheit darstelle, so heiße das soviel, als daß Gott im kreatürlichen Menschen gezeugt werde. „Das bedeutet eine gewaltige Veränderung im Status des Menschen, indem er dadurch in gewissem Sinne zur Sohnschaft und zur Gottmenschlichkeit erhoben wird.“

„Die zukünftige Einwohnung des Hl. Geistes im Menschen bedeutet soviel als eine fortschreitende Inkarnation Gottes. Christus als der gezeugte Gottessohn und als präexistenter Mittler ist ein Erstling und ein göttliches Paradigma, das gefolgt wird von weiteren Inkarnationen des Hl. Geistes im wirklichen Menschen. Dieser Mensch aber hat Teil am Dunkel der Welt, und darum entsteht nun mit dem Tode Christi eine kritische Situation, die wohl zu Besorgnissen Anlass geben kann. Bei der Menschwerdung wurde ja das Dunkle und Böse überall sorgfältig draußen gehalten.“

Je inniger die Verbindung mit Gott sich aber gestalte, desto mehr nähere sich der Zusammenstoß mit dem Bösen. „Aus einer schon früh bestehenden Ahnung heraus entwickelt sich nun die Erwartung, dass auf die lichte Manifestation eine entsprechend dunkle und auf Christus ein Antichristus folgen werde.“

„Der gute Gotteswille hat einen guten und hilfreichen Sohn gezeugt und das Bild eines guten Vaters von sich geprägt; leider - wie man sagen muß - wieder einmal ohne Berücksichtigung des Umstandes, daß ein Wissen um eine anders lautende Wahrheit vorhanden war. Hätte er sich Rechenschaft über sich selber gegeben, so hätte er sehen müssen, in was für eine Dissoziation er durch seine Menschwerdung gerät. Wo ist denn seine Dunkelheit hingekommen, vermöge welcher Satan stets der verdienten Strafe entgeht? Glaubt er, er sei ganz gewandelt und seine Amoralität sei von ihm abgefallen?“

Dem Parakleten falle die Aufgabe zu, in menschlichen Individuen zu wohnen und zu wirken, um sie daran zu erinnern, was Christus gelehrt, und um sie in die Klarheit zu führen. „Ein gutes Beispiel für diese Tätigkeit des Hl. Geistes ist Paulus, der den Herrn nicht gekannt und sein Evangelium nicht von den Aposteln, sondern durch Offenbarung empfangen hat. Er gehört zu denen, deren Unbewußtes beunruhigt war und offenbarende Ekstasen verursachte. Das Leben des Hl. Geistes zeigt sich eben darin, dass er tätig ist und Wirkungen hat, welche nicht bloß Vorhandenes bestätigen, sondern noch darüber hinaus führen.“

Man könne hier auch die eigenartige Tatsache anführen, daß Christus gerade den Petrus, der wenig Selbstbeherrschung und einen wankelmütigen Charakter besitze, zum Felsen und Fundament seiner Kirche machen wolle. „Dies scheinen mir Züge zu sein, die auf eine Einbeziehung des Bösen in eine moralisch differenzierende Betrachtungsweise hindeuten. Z. B. gut ist, wenn das Böse vernünftigerweise verhüllt wird; böse ist die Unbewußtheit des Handelns.“
„Der Böse ist keineswegs angekettet, auch wenn die Tage seiner Herrschaft gezählt sind. Noch immer zögert Gott, dem Satan Gewalt anzutun. Man muß annehmen, daß er offenbar noch immer nicht darum weiß, wie seine eigene dunkle Seite den bösen Engel begünstigt.“ Dem „Geist der Wahrheit“, der im Menschen seine Wohnung genommen habe, könne diese Sachlage auf die Dauer natürlich nicht verborgen bleiben. „Er stört darum das Unbewußte des Menschen und verursacht noch in der christlichen Urzeit eine weitere große Offenbarung, die, um ihrer Dunkelheit willen, in der Folgezeit zu vielen Deutungen und Mißdeutungen Anlaß gab. Es ist die Offenbarung Johannis.“

Bis hierher sind wir gekommen. Aber darüber hinaus wollen wir heute Nacht nicht weiter. Vielleicht ist es auch so, wenn Gott sich im Menschlichen inkarniert, nimmt er ebenso die Schwäche des Menschlichen an. Ich bin mir in all dem nicht sicher.

Herr Jung hat viele höchst eigentümliche Gedanken, denen man als braver Christ schnell widersprechen will. Aber wenn er eines hat, dann Einsicht in die menschliche Seele, worin immer sie wurzeln mag.

Ändert sich Gott? Zieht er den Menschen zu sich und läßt ihn einfach reden? Vielleicht gibt es ein Drittes, dem sich C.G. Jung und P. Tillich auf sehr verschiedenen Wegen angenähert haben (beide von meinem orthodoxen Gewissen mißtrauisch, aber doch immer noch interessiert beäugt). In seinem „Mut zum Sein“ spricht letzterer von einem Gott über Gott und endet: „Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist“.

2 Kommentare:

Walter A. Aue hat gesagt…

Ah, das muss ich mir noch ein paar Mal zu Gemuete fuehren, bevor ich es verstehe. Wenn ueberhaupt. Aber eines ist klar: Aeusserst interessant! Danke!

MartininBroda hat gesagt…

Nun, den Gefallen wollte ich Ihnen denn doch tun. Ich müßte es selbst noch einmal lesen, denn ich hab es wieder nächtens geschrieben, und da kommt doch auch viel Unsinn zusammen. Obwohl ich nur nur versucht habe zu referieren. Interessent ist es desungeachtet in der Tat.