Donnerstag, 23. September 2010

Christa Wolf


Ist dies nicht ein herzerwärmendes Photo von einer vor der Vernichtung bewahrten kleinen Schönheit? Jemand, den ich sehr schätze, hat es gerade veröffentlicht (und ich habe erst einen Tag später angezeigt, daß ich mir da etwas ausgeborgt hatte), dabei kämpfe ich noch darum, etwas über Christa Wolf zu schreiben, die einen Abend vor ihrer Auszeichnung mit dem Uwe-Johnson-Preis in diesem Neubrandenburg anwesend war.

Ach, ich lasse das so stehen jetzt (einen Tag später). Ich wurde mehr durch äußere Umstände behindert, dies eher fertigzuschreiben. Es sind schließlich einfach nur Notizen, ein Versuch, bedeutsam schreiben zu wollen, weil man Bedeutsamem begegnete, wäre doch zu albern.

Ich erinnere mich, wie ich einmal an einem Altjahresabend in einem Gottesdienst in St. Nikolai zu Potsdam fast zu heulen begann, es hatte mich selbst überrascht, ich neige nicht zu derartigen Ausbrüchen in der Öffentlichkeit, sie sind mir augenblicklich peinlich, derartiges ist mir erneut begegnet, aber dazu später.

Ein Erzähler muß nicht durch Meinungen beeindrucken. Nun, es ist natürlich schön, wenn einen Einsichten überraschen, und ich muß gestehen, das letzte Buch Christa Wolfs ("Stadt der Engel oder The overcoat of Dr. Freud") lag mir etwas quer, ich hatte es nur halb gelesen. Aber an diesem Abend hat sie mich sozusagen mit ihrem Werk wieder ins Reine gebracht.

Sie hatte einen Abschnitt ausgewählt, man muß, glaube ich, kein großes Thema daraus machen, wie sehr dies alles autobiographisch ist, der den Moment beschreibt, als sie auf einmal zu einer „umstrittenen“, „verstrickten“ und also zweifelhaften Figur wurde.

Vor allem in den 90er Jahren bereitete es manchen ein diebisches Vergnügen, Personen, die es vom Osten her zu einem gewissen Ansehen gebracht hatten („Im Westen wäre ich ohne Schuld gewesen“ - sie berichtete von der fiktiven Möglichkeit, weiter westlich aufgewachsen zu sein, wenn die Pferde bei der Flucht am Ende des Krieges länger durchgehalten hätten, wahrscheinlich wäre sie dort Lehrerin geworden; hätte sie dann auch geschrieben, fragte sie sich und wußte es nicht, aber sie brauche den Widerspruch dafür, also wahrscheinlich nein), von ihrem Sockel zu stürzen oder es zumindest zu versuchen, natürlich aus einem hochmoralischen Anliegen. So wie auch die reformierten Eiferer, die Madonnenfiguren zerschlugen, aus höchsten Motiven handelten oder die Taliban, die gottlose Bildwerke zerstörten, zumindest eint all jene das Vergnügen am Zerstören aus ehrenwerten Motiven.

Daß wir ohne Erinnerung nicht leben könnten, aber auch nicht ohne das Vergessen, meinte sie, nun, das ist natürlich richtig. Und daß Erinnerung ein lebendiger und darum verändernder Prozeß sei. Auch daß man sich nicht in jedes Schwert stürzen müsse, das einem entgegengehalten würde.

Es sind nicht unbedingt ihre Meinungen, die, weil so originell, beeindrucken. Sie selbst winkte einmal ab und sagte, sich selbst unterbrechend, das klinge alles so weise.

„Frühere Entwürfe fingen anders an: mit der Flucht – als das Kind fast sechzehn war – oder mit dem Versuch, die Arbeit des Gedächtnisses zu beschreiben, als Krebsgang, als mühsame rückwärts gerichtete Bewegung, als Fallen in einen Zeitschacht, auf dessen Grund das Kind in aller Unschuld auf einer Steinstufe sitzt und zum erstenmal in seinem Leben in Gedanken zu sich selbst ICH sagt… Aber wer wüßte heutzutage nicht, daß Kindheitsstätten die Angewohnheit haben zu schrumpfen? “ (Kindheitsmuster)

Der eher peinliche Impresario/Moderator brachte die Frage auf, ob man Barbarisches brauchen würde, um interessant schreiben zu können. Sie widersprach und bekannte dabei ihre Angst vor dem Zurückfallen in vorzivilisatorische Zustände. Und auch, wenn sie auf mythologische Stoffe zurückgegriffen hätte in ihrem Schreiben, verkörpere die angesprochene Zeitebene doch bereits eine gewisse zivilisatorische Stufe.

Das Schreiben brauche ein Mindestmaß an Kultur, und sie verwies darauf, daß beim geistigen Werden der Menschheit sehr früh zuerst das Beschwören und später das Erzählen gemeinschaftsbildend entstanden wären.

Und auf ihren Schreibstil angesprochen, es habe sie immer unbefriedigt gelassen, daß man üblicherweise nur linear erzählen könne, dabei würden die Gedanken doch meist gleichzeitig auftauchen, also versuche sie mit ihrem Schreiben etwas zu leisten, das dem Gewebe unseres Lebens entgegenzukommen suche und es abbilden wolle.

„Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde.“ (Medea)

Die Ich-Erzählerin in ihrem Buch berichtet von einem Abend, an dem sie ein Artikel erreicht, der alles Bisherige an Auslöschungsbemühungen in den Schatten stellte (nach ihrem Empfinden, warum sie dieses so nah an sich heranließ, darüber könnte man weidlich streiten, aber nicht heute). In der Nacht ihrer bezweckten Erniedrigung also hatte sie sich in den Schlaf gesungen, über Stunden, „Steige hoch du roter Adler“ neben „Spaniens Himmel“, „Ein feste Burg“ und „Wir lagen vor Madagaskar“ (es gab mitunter ein Raunen im Publikum) und „O Straßburg, du wunderschöne Stadt“, eine gefühlt unendliche Liederliste, die sie, die Autorin, aus ihrem Buch vortragend, dort aufzählte, später sagte sie, sie hätte wohl das dreifache mehr gewußt, und wie da so das Kampflied neben dem Choral und dem Liebeslied aus ganz verschiedenen Haltungen und Zeiten sich beieinander fand, das war wie ein Seelenspiegel des zerrissenen deutschen Gemüts, und da hätte es mir fast die Fassung geraubt, weil es so wahr war.

Ich machte mir anschließend ein paar Notizen, um meine Gedanken zu ordnen, und habe dann auch das folgende niedergeschrieben, und denke nun, warum nicht, was ich also wenige Minuten später aufgewühlt im Dunklen draußen in mein Notizbuch schrieb war:

Der nächste der über ihre Verstrickungen berichtet, soll ein vorzeitiges Ziehen in seinen Gliedern bemerken, und seine Reproduktionsorgane sollen überraschend versagen, und sein Hund soll ihn verlassen, und die Farbe der Verzweiflung, die ihm aus dem Morgenspiegel anspringt, soll kräftig erblühen über den Tag.

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