Samstag, 16. Januar 2016

C. G. Jung „Antwort auf Hiob“ - 4

William Blake, „Adam findet Abel“

Die Verweise auf die vorausgegangenen Beiträge mag man hier nachlesen. Wir kämpfen uns jetzt weiter durch besagtes Buch. Und wer das vorige anstrengend fand, sei gewarnt, denn jetzt breitet Jung seine Arme aus und fliegt uns davon, und wir dürfen uns entscheiden, ob wir auf dem Boden verharren wollen oder ihm folgen. Wir könnten es ja versuchen, abstürzen können wir später immer noch.

Hagia Sophia, Konstantinopel, Maria, Fragment

Das Erscheinen der Weisheit Gottes

„Bevor wir uns nun der Frage zuwenden, wie der Keim der Unruhe sich weiter entwickelte, wollen wir unseren Blick rückwärts wenden auf die Zeit, in welcher das Hiobbuch verfaßt wurde. Leider ist die Datierung unsicher. Es wird angenommen, daß es zwischen 600 und 300 v. Chr. zustande gekommen ist, also zeitlich nicht allzu fern von den sogenannten Sprüchen Salomos (4. - 3. Jahrhundert). In letzteren nun begegnen wir einem Symptom griechischen Einflusses, der, wenn früher angesetzt, über Kleinasien, wenn später, über Alexandrien das jüdische Gebiet erreicht hat. Es ist die Idee der Σοφία oder Sapientia Dei, eines coaeternen, der Schöpfung praeexistenten, annähernd hypostasierten Pneuma weiblicher Natur: ... (Spr. VIII, 22 ff.).“

Unerfreulicherweise wissen wir seitdem nicht wesentlich mehr. Und ich muß noch einmal warnen, das Hiob-Kapitel war das einfachere. Gott entdeckt also die Weisheit, wieder, und weil Herr Jung das so schön beschreibt, folgt er erneut im Wortlaut:

„Gleichzeitig oder etwas später wird es ruchbar, was geschehen ist: er hat sich eines weiblichen Wesens, das ihm nicht minder gefällig ist als den Menschen, erinnert, einer Freundin und Gespielin seit der Urzeit, eines Erstlings aller Gottesgeschöpfe, eines fleckenlosen Abglanzes seiner Herrlichkeit von aller Ewigkeit her und einer Werkmeisterin der Schöpfung, seinem Herzen näher verwandt und vertraut als die späten Nachfahren des sekundär geschaffenen, mit der Gottesimago geprägten Protoplasten (Urmensch). Es ist wohl eine dira necessitas, welche den Grund zu dieser Anamnesis der Sophia bildet: es konnte nicht mehr so weitergehen wie bisher; der 'gerechte' Gott konnte nicht mehr selber Ungerechtigkeiten begehen und der 'Allwissende' sich nicht mehr so verhalten, wie ein ahnungs- und gedankenloser Mensch. Selbstreflexion wird zur gebieterischen Notwendigkeit, und dazu braucht es Weisheit: Jahwe muss sich seines absoluten Wissens erinnern. Denn, wenn Hiob Gott erkennt, dann muß auch Gott sich selber erkennen. Es konnte nicht sein, daß aller Welt Jahwes Doppelnatur ruchbar wurde und nur ihm selber verborgen blieb. Wer Gott erkennt, wirkt auf ihn. Das Scheitern des Versuches, Hiob zu verderben, hat Jahwe gewandelt.“

„Weisheitssprüche scheinen an der Tagesordnung zu sein, und ein eigentliches Novum, nämlich apokalyptische Mitteilungen, macht sich bemerkbar. Das deutet auf metaphysische Erkenntnisakte, das heißt auf 'konstellierte' unbewußte Inhalte, die bereit sind, ins Bewußtsein durchzubrechen. In allem ist, wie schon gesagt, Sophias hilfreiche Hand am Werke.“

Wenn man Jahwes Verhalten bis zum Wiederauftreten der Sophia im Ganzen betrachte, so falle die eine unzweifelhafte Tatsache auf, daß sein Handeln von einer inferioren Bewußtheit begleitet sei. Immer wieder vermisse man die Reflexion und die Bezugnahme auf das absolute Wissen. Seine Bewußtheit scheine nicht viel mehr als eine primitive „awareness“ (wofür es leider kein deutsches Wort gäbe) zu sein.

„Man kann den Begriff mit 'bloß wahrnehmendes Bewußtsein' umschreiben. Awareness kennt keine Reflexion und keine Moralität. Man nimmt bloß wahr und handelt blind, das heißt ohne bewußt reflektierte Einbeziehung des Subjektes, dessen individuelle Existenz unproblematisch ist. Heutzutage würde man einen solchen Zustand psychologisch als 'unbewußt'« und juristisch als 'unzurechnungsfähig' bezeichnen.“

Die Tatsache, daß das Bewußtsein keine Denkakte vollziehe, beweise aber nicht, daß solche nicht vorhanden seien. Sie verliefen bloß unbewußt und machten sich indirekt bemerkbar in Träumen, Visionen, Offenbarungen und „instinktiven“ Bewußtseinsveränderungen, aus deren Natur man erkennen könne, daß sie von einem „unbewußten“ Wissen herrührten und durch unbewußte Urteilsakte und Schlüsse zustande gekommen seien.

„Etwas derartiges beobachten wir in der merkwürdigen Veränderung, die nach der Hiobepisode sich im Verhalten Jahwes eingestellt hat. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß ihm die moralische Niederlage, die er sich Hiob gegenüber zugezogen hat, zunächst nicht zum Bewußtsein gekommen war. In seiner Allwissenheit stand diese Tatsache allerdings schon seit jeher fest, und es ist nicht undenkbar, daß dieses Wissen ihn unbewußt allmählich in die Lage gebracht hat, so unbedenklich mit Hiob zu verfahren, um durch die Auseinandersetzung mit letzterem sich etwas bewußt zu machen und eine Erkenntnis zu gewinnen.“

Wie immer, wenn ein äußeres Ereignis an ein unbewußtes Wissen rühre, könne letzteres bewußt werden. Man erkenne das Ereignis als ein „deja vu“ und erinnere sich an ein präexistentes Wissen darum. Etwas derartiges müsse mit Jahwe geschehen sein. Die Überlegenheit Hiobs könne nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Damit sei eine Situation entstanden, die nun wirklich des Nachdenkens und der Reflexion bedürfe. Aus diesem Grunde greife Sophia ein. Sie unterstütze die nötige Selbstbesinnung und ermögliche dadurch den Entschluß Jahwes, nun selber Mensch zu werden. Damit falle eine folgenschwere Entscheidung: er erhebe sich über seinen früheren primitiven Bewußtseinszustand, indem er indirekt anerkenne, daß der Mensch Hiob ihm moralisch überlegen sei und daß er deshalb das Menschsein noch nachzuholen habe.

Gott will Mensch werden...


Hätte er diesen Entschluß nicht gefaßt, so wäre er in flagranten Gegensatz zu seiner Allwissenheit geraten. Jahwe müsse Mensch werden, denn diesem habe er Unrecht getan. Er, als der Hüter der Gerechtigkeit, wisse, daß jedes Unrecht gesühnt werden müsse, und die Weisheit wisse, daß auch über ihm das moralische Gesetz walte. „Weil sein Geschöpf ihn überholt hat, muß er sich erneuern.“

„Es sind eigentlich erst die sorgfältigen und vorausschauenden Vorbereitungen zur Geburt Christi, welche erkennen lassen, daß die Allwissenheit anfängt, einen nennenswerten Einfluss auf Jahwes Handeln zu gewinnen. Ein gewisser philanthropischer und universalistischer Zug macht sich bemerkbar. Die 'Kinder Israel' treten gegenüber den Menschenkindern etwas in den Hintergrund, auch hören wir seit Hiob zunächst nichts mehr von neuen Bünden.“

Die Annäherung der Sophia bedeute neue Schöpfung. (Übrigens tritt sie schon im Hiob-Buch selbst kurz auf, das nur nebenbei.) Diesmal solle aber nicht die Welt geändert werden, sondern Gott wolle sein eigenes Wesen wandeln. Die Menschheit solle nicht, wie früher, vernichtet, sondern gerettet werden. Man erkenne in diesem Entschluß den menschenfreundlichen Einfluß der Sophia: es sollen keine neuen Menschen geschaffen werden, sondern nur Einer, der Gottmensch. Wie gesagt, jetzt müssen wir sozusagen Jung konzentriert ertragen.

...und die Hl. Jungfrau hilft dabei


Zu diesem Zwecke müsse ein umgekehrtes Verfahren angewendet werden. Der männliche Adam secundus solle nicht als Erster unmittelbar aus der Hand des Schöpfers hervorgehen, sondern aus dem menschlichen Weibe geboren werden. Die Priorität falle diesmal also der Eva secunda zu, und zwar nicht etwa nur in zeitlichem, sondern auch in substantiellem Sinne.

„Mit Berufung auf das sog. Proto-Evangelium, nämlich speziell Genesis 3, 15, entspricht die zweite Eva dem 'Weibe und seinem Samen', das der Schlange 'den Kopf zertreten' wird. Wie Adam als ursprünglich hermaphroditisch gilt, so gilt auch das 'Weib und sein Samen' als ein Menschenpaar, nämlich als die Regina coelestis und Gottesmutter einerseits und der göttliche Sohn, der keinen menschlichen Vater hat, andererseits.“

So werde Maria, die Jungfrau, als reines Gefäß für die kommende Gottesgeburt auserwählt. Ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Manne werde durch ihre prinzipielle Jungfrauschaft hervorgehoben. Sie sei eine 'Gottestochter', die, wie später dogmatisch festgestellt werden wird, von allem Anfang an schon durch das Privileg der unbefleckten Empfängnis ausgezeichnet und damit von der Befleckung der Erbsünde befreit sei. Ihre Zugehörigkeit zum „status ante lapsum“ sei daher evident. Damit würde ein neuer Anfang gesetzt.

Die göttliche Makellosigkeit ihres Zustandes lasse ohne weiteres erkennen, daß sie nicht nur die imago Dei in ungeminderter Reinheit trage, sondern daß sie als Gottesbraut auch ihren Prototypus, die Sophia, inkarniere. Ihre in den alten Dokumenten ausführlich hervorgehobene Menschenfreundlichkeit lasse vermuten, daß Jahwe in dieser seiner neuesten Schöpfung sich von Sophia in wesentlichen Stücken habe bestimmen lassen. Denn Maria, die „gebenedeite unter den Weibern“, sei eine Freundin und Fürbitterin der Sünder, welche die Menschen allesamt seien. Sie sei wie Sophia eine Mediatrix, die zu Gott führe und den Menschen dadurch das Heil der Unsterblichkeit sichere. Ihre Assumptio sei das Vorbild für die leibliche Auferstehung des Menschen. Als Gottesbraut und Himmelskönigin habe sie die Stelle der alttestamentlichen Sophia inne.

Maria würde durch die Anwendung besonderer Schutzmaßnahmen sozusagen zum Status einer Göttin erhoben und büße damit ihre volle Menschlichkeit ein: Sie würde ihr Kind nicht wie alle anderen Mütter in der Sünde empfangen und daher würde es auch nie ein Mensch, sondern ein Gott sein. Man habe seines Wissens nie gesehen, daß damit die wirkliche Menschwerdung Gottes in Frage gestellt bzw. nur teilweise vollzogen würde. Beide, Mutter und Sohn, seien keine wirklichen Menschen, sondern Götter.

Diese Veranstaltung bedeute zwar eine Erhöhung der Persönlichkeit Mariae im männlichen Sinn, indem sie der Vollkommenheit Christi angenähert würde, aber zugleich auch eine Kränkung des weiblichen Prinzips der Unvollkommenheit bzw. der Vollständigkeit, indem dieses durch Perfektionierung bis auf jenen kleinen Rest, der Maria noch von Christus unterscheide, vermindert würde.

Ich denke, spätestens hier sind die meisten meiner geschätzten Leser innerlich ausgestiegen. Andere, aus dogmatischen Gründen, möglicherweise kurz zuvor. Daß Gott sich seiner bewußt wird und dazu die Weisheit heranzieht, das ist ein schöner Gedanke; daß das nicht ohne Folgen bleiben kann, liegt auf der Hand.

Diese Weisheit mit der allerseligsten Jungfrau in Verbindung zu bringen, gefällt meinem marianisch gestimmten Herzen. Aber wenigstens dieser eine theologische Einwand: Die volle Menschlichkeit wäre ja wohl die ursprüngliche, ursprünglich war der Mensch aber sündlos geschaffen. Eine sündlose Inkarnation stellt also die Menschlichkeit eben gerade wieder her. Doch zurück zu Jung:

“Obschon es sich bei der Geburt Christi um ein geschichtliches und einmaliges Ereignis handelt, so ist es doch immer schon in der Ewigkeit vorhanden gewesen. Dem Laien in diesen Dingen ist die Vorstellung der Identität eines unzeitlichen und ewigen mit einem einmaligen historischen Ereignis stets schwer gefallen. Er muss sich aber an den Gedanken gewöhnen, dass 'Zeit' ein relativer Begriff ist und eigentlich ergänzt werden sollte durch den Begriff einer 'gleichzeitigen' Bardo- oder pleromatischen Existenz aller geschichtlichen Vorgänge.“

Über die natürliche Erkenntnis Gottes 


„Als Jahwe die Welt aus seiner Urmaterie, dem sogenannten 'Nichts', schuf, konnte er gar nicht anders als sich selber in die Schöpfung, die er in jedem Stücke selber ist, hineingeheimnissen, wovon jede vernünftige Theologie schon längstens überzeugt ist. Daher kommt die Überzeugung, man könne Gott aus seiner Schöpfung erkennen. Wenn ich sage, er hätte nicht anders gekonnt, so bedeutet dies keine Einschränkung seiner Allmacht, sondern im Gegenteil die Anerkennung, daß alle Möglichkeiten in ihm beschlossen sind, und es daher gar keine anderen gibt als diejenigen, die ihn ausdrücken.“

„Alle Welt ist Gottes, und Gott ist in aller Welt von allem Anfang an. Wozu dann die große Veranstaltung der Inkarnation? fragt man sich erstaunt. Gott ist ja de facto in allem, und doch muß irgend etwas gefehlt haben, daß nunmehr ein sozusagen zweiter Eintritt in die Schöpfung mit soviel Umsicht und Sorgfalt inszeniert werden soll.“

„Man vergegenwärtige sich, was das heißt: Gott wird Mensch. Das bedeutet nichts weniger als weltumstürzende Wandlung Gottes. Es bedeutet etwas wie seinerzeit die Schöpfung, nämlich eine Objektivation Gottes. Damals offenbarte er sich in der Natur schlechthin; jetzt aber will er, noch spezifischer, gar zum Menschen werden.“

Gott stellt also mit seiner Inkarnation den Menschen in seinem Mensch-Sein wieder her und zugleich erlöst Gott sich selbst, indem er Mensch wird. Wir haben schon einen interessanten Gott als Archetypus in uns, wir Abendländer.

wird, sub conditione Jacobaea, fortgesetzt werden

4 Kommentare:

Walter A. Aue hat gesagt…

Darf ich Carl Gustav leicht paraphrasieren?

„Etwas derartiges beobachten wir in der merkwürdigen Veränderung, die nach der Koelner Silvesterepisode sich im Verhalten Merkels eingestellt hat. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß ihr die moralische Niederlage, die sie sich Deutschland gegenüber zugezogen hat, zunächst nicht zum Bewußtsein gekommen war. In ihrer Allwissenheit stand diese Tatsache allerdings schon seit jeher fest, und es ist nicht undenkbar, daß dieses Wissen sie unbewußt allmählich in die Lage gebracht hat, so unbedenklich mit Bundesbuergen, wie auch mit Fluechtlingen und Emigranten zu verfahren, um durch die Auseinandersetzung mit letzteren sich etwas bewußt zu machen und eine Erkenntnis zu gewinnen.“

Der Engel (Angela) auf der Couch. Nur schlimm, dass die Deutschen, die sich Psychoanalyse selber nicht leisten koennen, die Rechnung fuer den Erkenntnisgewinn der Gutgoettin bezahlen werden muessen. Von dem Schicksal der Fluechtlinge einmal ganz abgesehen.

Huetet Euch vor den Goettern, die die Welt schaffen und sie dann retten wollen...

MartininBroda hat gesagt…

Naja, Nr. 1 hatte ja gute Absichten... Und ja, ich denke inzwischen, sie ist die Heimsuchung, die wir unserer Sünden wegen auch redlich verdient haben, aber irgendwann muß auch mal gut sein.

Walter A. Aue hat gesagt…

Genau. Ein bisschen mehr Weisheit (Sophia) waere schon vor laengerer Zeit zu Nutzen gewesen. Aber, zumindestens wenn wir CGJ's Version glauben duerfen, hat es ja auch bei Yahweh eine lange Zeit gedauert, bevor Ihm ein Licht auf- und Er in Sich ging. Wie wir sehen, schuetzt auch Allwissenheit nicht vor Irrtum...

MartininBroda hat gesagt…

Ich zögere immer noch mit einer Antwort, aber am Ende sind wir vermutlich beide 20 Jahre älter, und ob das der Geistreichigkeit meiner Antwort bekömmlich wäre, ich bezweifle es.
Daß sich ein Naturwesen seiner selbst bewußt wird, und dann noch als Archetypus des Göttlichen, das muß so faszinierend wie schmerzhaft gewesen sein.
Ich glaube wirklich, daß Jung da echte Entdeckungen gemacht hat, wäre ihm doch auch nur ein wenig die Gabe mitgegeben worden, sich gewissermaßen mehr cartesianisch verständlich zu machen. Man hat mitunter das Gefühl, man haue mit der Machete durch den Urwald (war nie dort), aber vielleicht wartet am Ende eine Maya-Stadt. Obwohl, danke, das denn lieber doch nicht.