Sonntag, 19. August 2018

Über Wunder, Heilung & das rechte Beten – eine Predigt

Tempel des Herodes (von Osten), hier gefunden

Predigt zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext findet sich in der Apostelgeschichte im 3. Kapitel:

Die Heilung des Gelähmten

1 Petrus aber und Johannes gingen miteinander hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, da man pflegt zu beten. 2 Und es war ein Mann, lahm von Mutterleibe, der ließ sich tragen; und sie setzten ihn täglich vor des Tempels Tür, die da heißt "die schöne", daß er bettelte das Almosen von denen, die in den Tempel gingen. 3 Da er nun sah Petrus und Johannes, daß sie wollten zum Tempel hineingehen, bat er um ein Almosen. 
4 Petrus aber sah ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 
5 Und er sah sie an, wartete, daß er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Gold und Silber habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth stehe auf und wandle! 7 Und griff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Alsobald standen seine Schenkel und Knöchel fest; 8 sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, wandelte und sprang und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk wandeln und Gott loben. 
10 Sie kannten ihn auch, daß er's war, der um Almosen gesessen hatte vor der schönen Tür des Tempels; und sie wurden voll Wunderns und Entsetzens über das, was ihm widerfahren war. 
Amen

Jerusalem Tempel, Modell auf dem Dach der Aish haTorah-Jeschiwa

Liebe Gemeinde,

„heil werden“ – so lassen sich alle Texte des heutigen Sonntags zusammenfassen. Blinde sehen, Lahme gehen und Taube hören. Mich wühlen diese Geschichten immer wieder auf, weil ich sie glauben will, weil ich sie für wahr halten will, weil ich der Überzeugung bin, dass wir sie zu verkündigen haben, dass wir uns nicht aus ihnen herausmogeln dürfen.

Wer sich aus den Wundergeschichten herauszumogeln versucht, der stellt alles „heil werden“ in Frage. Darum wollen wir uns heute dieser Geschichte stellen und lesen: Petrus aber und Johannes gingen miteinander hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, da man pflegt zu beten.

Die neunte Stunde war bei den Juden die Stunde des Gebets. Es war die Stunde, in der in Jerusalem das Abendopfer gebracht wurde. Der Duft des Brandopfers und Speisopfers verbunden mit dem Räucherwerk stieg jeden Tag um diese Zeit als Wohlgeruch zu Gott auf, während das Volk offenbar vor dem Heiligtum draußen betete.

Gott hatte seine Freude daran, Gebete zu erhören, die zur neunten Stunde vor ihn kamen. Als Elia um die neunte Stunde auf dem Berg Karmel betete, fiel Feuer vom Himmel auf den Altar. Esra betete um dieselbe Zeit und bekannte die Sünde seines Volkes, und Gott schenkte eine Wiederherstellung. Auch Daniel bekam eine wunderbare Antwort auf sein Gebet zur neunten Stunde. Selbst für den erweckten heidnischen Hauptmann Kornelius, der sich offenbar an die jüdische Gebetszeit hielt, wurde die Gebetserhörung um die neunte Stunde zum Wendepunkt in seinem Leben.

Albert Joseph Moore, Elijah's Sacrifice

Die Wundergeschichte vom „heil werden“ eines Menschen gibt sich als Gebetsgeschichte zu erkennen. Und nicht nur das. Sie macht uns darauf aufmerksam, dass die aus dem Judentum stammenden Apostel der Urkirche an den Ordnungen ihres Glaubens festgehalten haben. Aus diesen Ordnungen wiederum hat sich weitgehend auch die Liturgie der Kirche geformt. Sie gingen also hinauf zum Tempel zu der Stunde, da man zu beten pflegte.

Schlagartig wird deutlich: Das Gebet ist der Kern der Glaubenspraxis. Das Gebet ist der größte Schatz der Kirche. Es vermag Menschen zur Gemeinschaft zusammenzuschließen, denken wir allein an die verbindende Kraft des „Vater unser“. Es formt aber auch in seiner Intimität erst eigentlich die Individualität des Menschen.

Das Gebet braucht beides, Ordnung und Inbrunst, es braucht die Gemeinschaft der Kirche und die Ergriffenheit des Herzens. Ich sage gern, dass in den geformten Gebeten der Kirche wir uns in den Glauben von Generationen stellen, die in den Jahrtausenden vor uns Gott gesucht, gefunden und verkündet haben. So nimmt das Gebet Gestalt an, so wie Christus in den Ikonen eine geistige Gestalt annimmt. Oder noch orthodoxer gesagt: Wir stellen uns in den Strom der Heiligkeit und lassen uns von ihm tragen.

Christus Pantocrator, Katharinenkloster (Sinai), 6. Jh.

Und, liebe Gemeinde, das, was wir Menschen vielfach aus dem Gebet machen, offenbart auch erbarmungslos unsere tiefe Sündhaftigkeit. Sünde ist schlicht Gottesferne. Die Sünde will nicht respektieren, dass nur Gott Gott ist. Nichts demaskiert Menschen vollständiger als Sünder, als ihre Weise zu beten.

Wie oft verfallen wir Menschen dem heidnischen Irrtum, das Gebet wäre der Weg, um Gott den eigenen Willen aufzuzwingen. Wie oft beten wir statt des gebotenen „dein Wille geschehe“ ein heimliches von Goethe gedichtetes „nun erfülle meinen Willen“. Dort begegnen wir keinem Glauben, sondern Zauberei. Der Zauberer versucht sich der höheren Mächte zu bedienen, durch seine Klugheit will er über ihnen stehen, sie beherrschen.

Ferdinand Barth, "Der Zauberlehrling" in "Goethe's Werke", 1882

Es ist eine verhängnisvolle und dann auch nur scheinbare Form der Frömmigkeit, in der, gleichsam durch die Steigerung der Intensität des Gebets, Gott unter den eigenen Willen gezwungen und zum Erfüllen unserer Wünsche und Absichten gebracht werden soll. Da begegnen wir dann oft dem Machen vieler Worte, als müsse man Gott ermüden, damit er den Beter irgendwann gleichsam aus Erschöpfung erhört. Nein, alles das ist kein rechtes Beten!

Was aber ist richtiges Beten? Was ist ein Gebet?

Das Gebet ist ein Wunder! Bereits das Beten ist das Wunder! Weil wir beten dürfen, darum können wir Menschen auch ganz und gar vernünftig an Wunder glauben. Das Gebet ist die unmögliche Möglichkeit, sich mit dem allmächtigen Gott, mit dem Schöpfer aller Dinge zu verständigen. Das rechte Gebet lobt den Schöpfer, und der Mensch bekennt sich in ihm als Geschöpf. Wir dürfen denjenigen anreden, rufen und loben, der die ganze Welt umschließt und durchdringt.

Wir dürfen das, weil wir Geist von seinem Geist sind und unser Leben aus seiner Lebendigkeit erschaffen und ins Sein gerufen wurde. Im Menschen ist somit etwas in der Welt gegenwärtig, was nicht der Schöpfung angehört, sondern Gott.

Ich bin davon überzeugt, dass diese Entdeckung oder nennen wir es Offenbarung, den Menschen hat erst zum wahren Menschsein gleichsam erwachen lassen.

In unserer Hinwendung zu Gott werden wir erst in rechter Weise zum Menschen. Diese Hinwendung, diese Umkehr zu Gott, vollzieht der Mensch im Gebet. Erst im Gebet hat sich auch unsere Sprache geformt. Des Menschen Wort ist in seinem Ursprung Antwort auf Gottes Gegenwart.

Das Gebet ist immer eine Suche. Es geht keineswegs darum, Gottes Willen zu beeinflussen, sondern allein darum, seinen Willen zu erforschen und sich immer wieder mit ihm in Übereinstimmung zu bringen.

Ist das Gebet also eine Form der Selbstheiligung? Das wäre Sünde. Vielmehr reden wir hier vom genauen Gegenteil. Im Gebet setze ich mich ganz bewusst dem Handeln Gottes aus. Denn das ist immer seine Antwort auf jedes Gebet, dass sein Wille geschieht. Dort wo sein Wille an mir geschieht, da ist auch mein Gebet erhört.

Dort, wo Gottes Wille geschieht, da findet der Mensch zu seiner Bestimmung. Genau das ist der zweite Teil unseres Predigttextes, und es wurde auch in den anderen Lesungen deutlich. Der Gelähmte wird aufgerichtet, der Kranke wird gesund, Paulus wird wieder sehend und dem Taubstummen wird die Zunge gelöst und die Ohren werden geöffnet. Das Geschehen lässt uns staunen, verstellt uns aber gleichzeitig die Sicht auf das Eigentliche.

„Gold und Silber habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir.“ Nicht die Gesundheit ist das große Geschenk. Die Geheilten gewinnen den Namen des Erlösers der Welt und werden ihn nicht mehr verlieren. Sie loben und preisen Gott und legen Zeugnis ab vor der Welt. Paulus wird der Apostel der Völker. Wer nun den Namen Jesu hat, der kann ihn anrufen und ist hineingenommen, geradezu eingewohnt, in das rechte Beten, in dieses große Wunder. Darum sage ich auch euch: Betet und ihr werdet alle Wunder geschehen sehen. Betet, denn im Gebet richtet ihr euch zum Menschsein auf. Betet, und macht darin euer Leben zum Gebet – zum Wunder.

Und in jedem Gebet erinnern wir auch daran:

Um die neunte Stunde schrie auch unser Herr Jesus mit lauter Stimme: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber auf dieses Gebet bekam er scheinbar keine Antwort. Der Gott, der Elia, Esra und Daniel erhört hatte, schwieg. Sein Sohn, der wusste, dass der Vater ihn allezeit erhört, betete zu ihm und er antwortete nicht. Die Väter hatten zu Gott geschrien und waren errettet worden. „Ich aber bin ein Wurm und kein Mann“, klagt der Herr Jesus mit Worten des 22. Psalms. Das macht uns die ganze Unfassbarkeit von Golgatha deutlich. Sie liegt nämlich darin, dass Christus ganz Gott ist.

Sein Gehorsam ist die Antwort auf alle Gebete. Der Gehorsam in den göttlichen Willen ist ja die Antwort auf das Gebet Jesu. In seinem Gehorsam versöhnt er das menschliche Wesen mit dem göttlichen Willen. Der gekreuzigte Christus ist Gebet und Antwort.

Diese Gewissheit sollen wir fröhlich aller Welt und allen Völkern verkündigen. Die Evangelien, die Bekenntnisse der Kirche und die aus der Heiligen Schrift erwachsenen Traditionen, Feste und Gebräuche sind uns Hilfe und Wegweiser. Darum haben wir sie zu achten und zu lernen. Es ist nicht gut, wenn unser religiöses Leben verarmt und viele Menschen in unserem Lande die eigenen Feste nicht mehr kennen.
In all dem liegen nämlich die Übungen verborgen, die uns helfen können, unser ganzes Leben zum Gebet zu machen und es dadurch für die neunte Stunde zu bereiten, in der wir Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen werden.

Amen

Und der Frieden Gottes, der höher ist denn alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn.

Amen
Thomas Roloff

Flurkreuz auf dem Hochtannbergpass

nachgetragen am 20. August

Keine Kommentare: