Samstag, 16. September 2023

Beobachtungen in Bad Doberan

Doberan 1845, aus „Meklenburg in Bildern“, von Georg Christian Friedrich Lisch, Rostock: J. G. Tiedemann'sche Hof-Steindruckerei, von hier

Bad Doberan ist im Kern eine Kleinstadt unweit von Rostock. Die Straßen sind recht eng, eher Gassen, die an pittoresken kleinen alten Häusern entlang ihren Weg suchen. Dafür hat sie durchaus auch andere Gebäude, etwa solche, die mecklenburgische Baugewohnheiten herrschaftlich-klassizistisch steigern wollen. Bad Doberan war einmal Mecklenburg-Schwerin'sche Sommerresidenz.

Unweit liegt Heiligendamm, das älteste kontinentaleuropäische Seebad von 1793 (so ungefähr lautet, glaube ich, der einzufügende Textbaustein), und zur Stadt gehört das Münster, Grabstätte mecklenburgischer Fürsten und einstmals die imposante Mitte des größten Klosters des Landes.


Eigentlich hat das Kloster den Ort erschaffen und natürlich mit der Gründung von Heiligendamm Großherzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg(-Schwerin), samt seinen Vorgängern, die ihn zum regelmäßigen Sommeraufenthalt erwählten. Ein oft skurriles Gemisch im Ergebnis. Nennen wir es Charakter.



Eine wahre und tatsächliche Attraktion ist die Bäderbahn Molli, eine immer noch dampfbetriebene Schmalspurbahn, die in der Stadt mitten durch die Menschen fährt und von Bad Doberan über Heiligendamm nach Kühlungsborn führt. 

Es ist schier unglaublich, aber wenn sie an einem entlang unter ständigem Warnklingeln schnauft, glaubt man auf dem engen Bürgersteig, seine Arme von der gerade vorhandenen Häuserwand bis zu den sich vorbeimühenden Waggons strecken zu können. Man tut es natürlich nicht. 



Ausgerechnet vor dem Haus Gottesfrieden ergab sich eine mitteilenswerte Beobachtung: Ein recht älterer Herr stapfte, irgendwie die Außenwelt nahezu völlig ignorierend, sehr wenige Meter vor der Lok über die Schienen. Der junge Lokführer löste geistesgegenwärtig eine Notbremsung aus, die den Zug weniger als einen Meter vor der Ursache zum Halten brachte, wenn sie denn nicht völlig teilnahmslos weiter getrottet wäre. 

Sollte der alte Mann hier seinen Gottesfrieden gesucht haben, der andere hatte ihn gerade darum gebracht. Er schrie ihm noch aufgebracht und erfolglos irgendetwas hinter. Durch diesen Nothalt und die daraus folgende längere Zwangspause konnte ich mich ein wenig über die Situation aufklären lassen und kam zu meinen Bildern.

Mit manchem rechnet man einfach nicht: An einer Straße tanzt ein oberkörperentblößter Mann entweder die Autos an oder die Sonne oder Unerkennbares:  Seine schweißnassen Arme rhythmisch-ekstatisch entgegenstreckend oder seinen Oberkörper. Als ich deutlich später dort erneut vorbeikam, tat er es immer noch. Eine offenkundige Freakshow. War es nur ein schräger Vogel, stand er unter Drogen oder war einfach psychisch auffällig. Der natürliche Instinkt lautet: Bloß weiter und weg. 

Doch ich sprach ihn an: In seiner Wasserflasche sei wohl kaum nur Selters. Er nahm mich wahr, entstöpselte das eine Ohr, hörte auf, sich zu bewegen und hatte meine Bemerkung wohl gar nicht verstanden. Erst jetzt merkte ich, daß er die ganze Zeit allenfalls von Musik berauscht worden sein konnte, denn er antwortet in völligem Kontrast zu seiner Erscheinung. Ich kann nicht genau erinnern, was er feiern wollte, das Leben, die Freude daran oder was immer. 

Er berichtete, die einen Vorbeikommenden würden ihn belustigt begrüßen, andere für unter Drogen stehend halten etc. Ich bestätigte ihm freimütig für mich letzteres, bat um ein Bild und er wünschte mir gute Besserung. Ich gehe nämlich gegenwärtig am Stock und warte darauf, im hiesigen Moorbad bald ersäuft zu werden. 

Es ist übrigens nicht immer dasselbe Bild, nur die gleiche Kamerapose. So kann man sich das vorherige Körperdrama kaum annähernd vorstellen. Später erfuhr ich von einer Einheimischen, er tue das wohl jeden Tag an verschiedenen Orten. Er sei nicht doof, habe nur diesen Tick. Nein, war er nicht. Hätte ich das Geschehene und die Erscheinung ausblenden können, hätte ich ihn für einen völlig verständigen und sympathischen Menschen gehalten, obwohl, eigentlich tue ich das trotzdem, irgendwie. Wie täuschend doch der Augenschein sein kann. Schon verwirrend diese Nachkommen Adams und Evas.

nachgetragen am 17. September

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