Sonntag, 13. September 2015

Herr v. Goethe & eine Predigt

Rom, Santa Costanza

Wir sind etwas verspätet. (Vor-)Gestern hat Herr Roloff die Freuden eines Dorfpastors genossen, und das mit einem langen Zitat aus Faust II, dem auch noch eine Predigt folgte, das klingt sarkastisch, ist es nicht. Ich bin nur leicht müde.

Sein Ansatz war sehr ambitioniert, aber sollte man nicht auf dem beharren, das einem geblieben ist. Wie lange auch immer. Man muß es zunächst nur einmal tun. (Vielleicht erleben wir ein Wetterleuchten über unserem Abendland, vielleicht ist es noch nicht 410 n. Chr., wer weiß das schon so genau). Herr von Goethe wächst nicht selten über sich hinaus, so er dichtet, und gibt dann hübsche Einsichten, nur das zum Eingang.

Rom, Santa Costanza

Predigt zum 15. Sonntag nach Trinitatis

Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung?
Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?
Wer ist unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget?
Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.
Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselbigen eins.
So denn GOtt das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute stehet und morgen in den Ofen geworfen wird, sollt' er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen?
Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden?
Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet.
Trachtet am ersten nach dem Reich GOttes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.
Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.
Matth 6, 25-34

Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde,

heute haben wir uns zu befassen mit dem großen Plädoyer Jesu für die Sorglosigkeit. Darum will ich zunächst fragen: Was ist Sorge?

Mitternacht
Erste
Ich heiße der Mangel. –

Zweite
Ich heiße die Schuld.

Dritte
Ich heiße die Sorge. –

Vierte
Ich heiße die Not.

Zu drei
Die Tür ist verschlossen, wir können nicht ein;
Drin wohnet ein Reicher, wir mögen nicht 'nein.

Mangel
Da werd' ich zum Schatten. –

Schuld
Da werd' ich zunicht.

Not
Man wendet von mir das verwöhnte Gesicht.

Sorge
Ihr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein.
Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein.

Mangel
Ihr, graue Geschwister, entfernt euch von hier.

Schuld
Ganz nah an der Seite verbind' ich mich dir.

Not
Ganz nah an der Ferse begleitet die Not.

Zu drei
Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne!
Dahinten, dahinten! von ferne, von ferne,
Da kommt er, der Bruder, da kommt er, der – – – Tod.

Faust
Vier sah ich kommen, drei nur gehn;
Den Sinn der Rede konnt' ich nicht verstehn.
Es klang so nach, als hieß' es – Not,
Ein düstres Reimwort folgte – Tod.
Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft.
Noch hab' ich mich ins Freie nicht gekämpft.
Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd' ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.
Das war ich sonst, eh' ich's im Düstern suchte,
Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte.
Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
Wenn auch ein Tag uns klar vernünftig lacht,
In Traumgespinst verwickelt uns die Nacht;
Wir kehren froh von junger Flur zurück,
Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick.
Von Aberglauben früh und spat umgarnt:
Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt.
Und so verschüchtert, stehen wir allein.
Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein.
Ist jemand hier? –

Sorge
Die Frage fordert Ja!

Faust
Und du, wer bist denn du? –

Sorge
Bin einmal da.

Faust
Entferne dich! –

Sorge
Ich bin am rechten Ort.

Faust
Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort.

Sorge
Würde mich kein Ohr vernehmen,
Müßt' es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
üb' ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle,
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht. –
Hast du die Sorge nie gekannt?

Faust
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte, ließ ich fahren,
Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh' er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!

Sorge
Wen ich einmal besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schieb er's zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

Faust
Hör auf! so kommst du mir nicht bei!
Ich mag nicht solchen Unsinn hören.
Fahr hin! die schlechte Litanei,
Sie könnte selbst den klügsten Mann betören.

Sorge
Soll er gehen, soll er kommen?
Der Entschluß ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte
Wankt er tastend halbe Schritte.
Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend;
Atemholend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
Nicht verzweiflend, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen,
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald Befreien, bald Erdrücken,
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.

Faust
Unselige Gespenster! so behandelt ihr
Das menschliche Geschlecht zu tausend Malen;
Gleichgültige Tage selbst verwandelt ihr
In garstigen Wirrwarr netzumstrickter Qualen.
Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;
Doch deine Macht, Sorge, schleichend groß,
Ich werde sie nicht anerkennen.

Sorge
Erfahre sie, wie ich geschwind
Mich mit Verwünschung von dir wende!
Die Menschen sind im ganzen Leben blind,
Nun, Fauste, werde du's am Ende!

Faust
Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
Allein im Innern leuchtet helles Licht;
Was ich gedacht, ich eil' es zu vollbringen;
Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht.
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!
Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann.
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
Das Abgesteckte muß sogleich geraten.
Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß
Erfolgt der allerschönste Preis;
Daß sich das größte Werk vollende,
Genügt ein Geist für tausend Hände.

Diese Passage aus Goethes Faust ist eine einzigartige literarische Entsprechung zum Evangeliumstext. Natürlich reicht kein anderes Werk an die Worte der Schrift heran, und doch haben wir hier einen Text vor uns, der die Auseinandersetzung mit der Sorge, die Jesus darlegt, tiefgründig interpretiert.

In geradezu erschütternder Einfachheit seziert Christus das Innere unserer Seele. Darin schon erkennt man den Meister, dass er verständlich und demaskierend spricht. Hütet Euch vor allen die man heute so gern Experten nennt, die den Blick auf die Tatsachen mit ihren Worten eher verstellen und vernebeln. Die uns erzählen von Daseinsvorsorge und Risikovermeidung, von Sicherungsvorkehrungen und Schutzmechanismen.

Christus spricht: Sorget nicht um euer Leben.
All unsere Rentenabschlüsse, Lebensversicherungen, Kapitalsparpläne, Wintervorräte – alles das ist Unsinn?

Ich vermute, dass sich die Mahnung Jesu nicht so sehr auf einzelne Handlungen des Menschen bezieht. Ob nun Lebensversicherungen oder das Essen und das Trinken, die Kleidung und die Schuhe, das ist nicht so entscheidend – Jesus tut es ab und verweist vielmehr darauf, dass unser Leben mehr ist als die Nahrung und der Leib, mehr als die Kleidung.

Es geht nicht um äußere Dinge, es geht um die innere Haltung des Menschen. Und diese innere Haltung des Menschen soll aus der Tatsache erwachsen, dass sein Leben und sein Leib von größerer Bedeutung sind als alle Dinge, in deren Besitz er sich Zeit seines Lebens bringen kann.

Dann tut der Herr etwas, was wieder mit einfachsten Mitteln klar werden lässt, was er meint: Er verweist die Zuhörer auf das Beispiel der Schöpfung.

Seht euch die Vögel unter dem Himmel an! Seht die Blumen auf dem Felde! 

Wir sollen darin erkennen, dass die ganze Welt von einer unwiderstehlichen Ordnung durchdrungen ist, deren Teil wir sein dürfen. In diese Ordnung sollen wir uns einüben. Das setzt voraus, dass wir das tiefe Wesen dieser Ordnung verstehen. Und das tiefe Wesen dieser Ordnung wird für Jesus ganz wesentlich eben auch in dem Satz erfasst: Sorget euch nicht.

Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr ihr euch auch darum sorgt?

Wenn also unsere Sorge an dieser einfachsten und wichtigsten Frage versagt, warum sollen wir uns an unwichtigen Dingen abarbeiten?

Hier kristallisiert sich mit großer Schärfe heraus, was Jesus im Kern meint: Sorge ist für ihn das Gegenteil zum Gottvertrauen. Darum wiederholt er noch einmal: Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht vielmehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

Christus ermutigt uns mit jedem Wort, mit jedem seiner Bilder und Gleichnisse zunächst und vor allem zu unbedingten Gottvertrauen.

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes. Das bedeutet doch: Seht auf! Erhebt eure Häupter und erkennt in allem das Handeln Gottes, auf den wir uns verlassen dürfen, dem wir vertrauen können. Das soll unsere Haltung sein, aus der heraus wir die Probleme und Lasten des Lebens angehen. So bleiben die Probleme und Lasten äußere Dinge, die wir bearbeiten und möglichst bewältigen können. Sie dringen aber nicht in unsere Seele vor. Sie können uns nun nicht mehr vergiften, denn unsere Seele ist von Gottvertrauen erfüllt und nicht durch die Sorge. Nun können wir geduldig hinnehmen, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Hierin wird sehr schön deutlich, dass Jesus kein frommer Scharlatan ist, der uns suggeriert, wenn ihr meinem Konzept folgt, dann herrscht immer eitel Sonnenschein, und die Probleme lösen sich in Luft auf. Nein, jeder Tag hat seine eigene Plage, aber wir stärken daran unser Gottvertrauen und lassen die Plagen nicht mehr unsere Sorgen nähren.

Diesen Zusammenhang erleben wir nun an der Figur des Faust erneut.

Faust ist in jener Mitternacht, aus der wir vorhin gehört haben, an einem Scheidepunkt angelangt. Er hat viel von dem, was er errungen hat, nur mit der Zauberkraft Mephistos vollbracht und fühlt sich nun, zwar anders als früher durch die Machtlosigkeit, nun durch die Macht des Teufels, gefesselt.

„Könnt´ ich Magie von meinem Pfad entfernen, die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stünd´ ich, Natur, vor dir ein Mann allein, Da wär´s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“

Faust sehnt sich nach Freiheit, und er ahnt, dass sich nur neues Missgeschick anbahnt.

Die Sorge schleicht sich ein. Und sie gibt in Goethes Versen eine einzigartige unerreichte Selbstcharakteristik.

Faust spürt, wie die Sorge, trotz aller Widerstände Besitz von ihm nimmt, denn er lässt nicht ab von der Vermessenheit, dass der Tüchtige durch seine Erkenntnis die Welt verändern, womöglich verbessern und in jedem Falle Spuren hinterlassen kann. Und dennoch wird er gewahr, dass er genau darin keinen Frieden findet

Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommenen äußeren Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;

Der beschwörende Ausruf: Deine Macht, o Sorge, schleichend groß, ich werde sie nicht anerkennen – verhallt!

Faust schwingt sich auf zum großen Bekenntnis des tatkräftigen Mannes. Obwohl erblindet, entwirft er die große Fantasie der Weltveränderung mit Werkzeug, Schaufel, Spaten und dem Fleiß der tausend Hände, die dem einen Willen gehorchen und wird gar nicht mehr gewahr, dass da nicht sein Werk, der entwässernde Graben für das Neuland, instand gesetzt, sondern schon sein Grab ausgehoben wird.

Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr ihr euch auch darum sorgt?

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.
Thomas Roloff
nachgetragen am 15. September

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