Dorpat, 1860
Wohl jeder kennt das Gefühl, das einen üblicherweise etwa bei Krippenspielen befällt: Alles, was gesagt wird, ist gut und schön und vor allem wahr, aber die Darsteller! So in etwa verhält es sich mit dem Fortgang der Geschichte, in die wir hier eingeführt haben. Wir stellen unsere mäandernden Anmerkungen deshalb gleich an den Anfang.
Ich fürchte, unsere Autorin hat alle ihre wohlbegründeten Ansichten in diesem Kapitel sozusagen auf eine Litfaßsäule geklebt und zusätzlich dick unterstrichen, was der Geschichte weniger gut tat. Oder anders ausgedrückt, sie hat sie alle hineingequetscht, mit demselben Effekt. Wir wollen ihrem Beispiel folgen.
Zunächst gilt mein Einwand mehr dem 2. Teil des 2. Akts, wie ich die Geschichte für mich eingeteilt habe. Der 1. Teil kontrastiert sehr ansprechend den unschuldigen Wunsch der jungen Frau, etwas Schönheit in ihr kleines Leben zu holen, mit dem als Weltverachtung getarnten herrschsüchtigen Wesen des jungen Pastors. Die Autorin beschreibt damit einen Typus, der leider sehr real ist.
Solange es protestantische Geistliche geben wird, dürfte dieser Habitus der ostentativen Moralität bestehen bleiben. Und was heute Regenwald, Klimawandel und Diversität sein müssen, dafür hatte in jener Zeit eine eher lederne bürgerliche Sittlichkeit herzuhalten. Wäre ich Katholik, würde ich womöglich einwenden, daß die Protestanten damit ihren Mangel an Glauben zu überhöhen suchen. Da ich selbst einer davon bin, muß ich mir diesen Schuh dann aber wohl auch anziehen. Also verwerfe ich diesen Gedanken lieber.
Was einen an dieser Moralität immer mißtrauisch stimmen sollte, ist zum einen, daß sie sich zuförderst gegen andere richtet, zum anderen fehlen ihr Wirklichkeitssinn, Empathie und der Wille fürsorgender Hilfe. Und vor allem fehlt die Demut des Glaubens. Daß das unsere Autorin so klar gesehen hat, ist der eigentliche Grund, diese Geschichte weiter vorzustellen. Also fahren wir doch einfach fort.
St. Johanniskirche, Dorpat, Fassadendetail
2. Akt, erster Teil – Glaubenseifer bei Suppenfleisch mit Meerettichsauce
Beim Mittagessen war sie dann so schweigsam, daß es sogar ihrem Mann auffiel, der in Gedanken schon bei seiner Predigt war, die er sich stets für den Sonnabendnachmittag vorbehielt.
„Es war nämlich ein herrlicher Text…! Ein Text so recht nach seinem Herzen, bei dem man der im Kirchenschiff schweigenden Gemeinde einmal tüchtig die Wahrheit sagen konnte, Wahrheit mit Horn und Schwanz!
Wie hieß es da? ‚Tut Buße!‘ Und dann hatte Johannes in der Wüste ein Kleid von Kamelhaaren an und einen ledernen Gürtel, und nichts von all dem Firlefanz, der heute zur Mode gehörte: Schleppen und hohe Absätze, Spitzenrüschchen und Siegelringe und seidene Krägelchen… Außerdem ist die Axt den Bäumen schon an die Wurzel gelegt, und einer hat die Worfschaufel schon in der Hand und wird seine Tenne fegen…
Ja, es war ein herrlicher Text. Das Grauen konnte einem über den Rücken laufen, und trotz der winterlichen Kälte hörte man die Flammen der Hölle unter der Oberfläche brausen.
Mit einem Lächeln, in dem sich schon die schöpferische Stunde ankündigte, blickte der Pastor auf. Und da sah er seine kleine Frau sich gegenübersitzen, ganz jung, ganz rosig, mit gesenktem Blick und dem unschuldigen Rund ihrer Wangen. Sie stocherte im Suppenfleisch, das mit Meerettichsauce und Kartoffeln, wie jeden Sonnabend, ihren Teller füllte. Immerhin waren es keine Heuschrecken mit Honig wie im herrlichen Text, und - Hand aufs Herz - darüber war der junge Pastor eigentlich ganz froh.
Er sah dieses junge Kind an, das er auf seinen steilen und kompromißlosen Schicksalsweg einfach mitgerissen hatte, weil... er es nicht zurücklassen, weil er es einfach keinem anderen überlassen konnte. Und wie immer, wenn er Elsbeth ansah, füllte sich sein Herz mit einer ganz unvorschriftsmäßigen Wärme.“ So war es immer schon gewesen. Und „jetzt saß dieses Kind seit einem halben Jahr an seinem Mittagstisch und war seine Frau“.
Brunnen mit der Statue „Küssende Studenten“
Ob ihr etwas fehle, sie fährt leicht zusammen, nein. Ob ihr das Suppenfleisch wieder einmal nicht schmecke, dabei habe Johannes in der Wüste immer Heuschrecken mit Honig gegessen.
„‘Die müssen ganz komisch zwischen den Zähnen geknirscht haben‘, flüsterte seine kleine Frau. Aber das hörte er schon nicht mehr.“ Er war bereits wieder die Stimme des Predigers in der Wüste.
Sie schwieg wieder, sie merkte, es fiel ihm nicht mehr auf. "Sie konnte ruhig über den blauen Taft, die drei Rubel und die 'Zukunft' nachdenken. Er war bei seiner Predigt. Er war groß und fern. Das Feuer des Geistes nahm von ihm Besitz. Sein schön geschwungener Mund lächelte, aber er lächelte nicht für sie. Sie kannte das."
Es hatte keinen Zweck, ihn jetzt mit ihren kleinlichen Sorgen zu behelligen, aber am Sonntagmorgen, da hatte es bestimmt mehr Zweck.
2. Akt, zweiter Teil – ein verdrießliches Kaffeestündchen
Dorpat, Rathaus
Ivo Kruusamägi (Wikipedia), hier gefunden
„In Dorpat begannen alle Gottesdienste erst um elf Uhr“, ob um der Studenten oder der Professoren willen… Wie auch immer. Der Pastor „schlürfte seinen Kaffee und rauchte seine Zigarre. Die Predigt, wohl bedacht und reich formuliert, ruhte in seinem Inneren und brauchte nur hervorgeholt zu werden.“ Alles war vorbereitet.
"Warum sich also des stillen, seltenen Morgenstündchens nicht von Herzen freuen?"
Die junge Pastorin rechnete auf seine Sanftmut. "Denn wenn man binnen kurzem den Segen erteilen und anderen Menschen die Sünden vergeben will, muß man dann nicht so etwas Ähnliches wie Gottes Nachsicht und Barmherzigkeit in seinem Herzen tragen?"
"'Du sagtest mir einmal, wir sollen für die Zukunft sparen.' Der Pastor horchte auf. 'Ja, wieso?' fragte er, während in seinem Kopfe holde Bilder heraufdämmerten. Ob das der Anfang eines zarten Geständnisses werden sollte?"
Sie habe das auch immer getan und jetzt schon heimlich achtzehn Rubel zurückgelegt.
So sei das nicht gemeint gewesen, dennoch lobte er sie dafür, fragend.
Sie wisse nicht, ob ihr das diesen Dezember auch gelingen werde. Sie wolle sich für ihr blaues Weihnachtskleid einen seidenen Kragen kaufen, und der wird genau die drei Rubel kosten, die sie sonst zurückgelegt hätte.
"‘Was meinst du dazu? Es ist ein Kragen von Taft…‘"
Der Pastor schwieg, die Stirn umdüsterte sich, nichts von zarten Geständnissen - modischer Firlefanz! "'Hältst du so einen Taftkragen denn wirklich für unbedingt notwendig?' 'Notwendig nicht, aber schön', zwitscherte die junge Frau."
"'Überleg mal, Elsbeth..., was wollen wir denn lieber sein, gut oder schön?' 'Ich möchte beides sein.'"
"Aber, Elsbeth, kein Mensch kann zween Herren dienen! Wir müssen wählen, ob wir Gott gefallen wollen oder den Menschen.''Ich möchte beiden gefallen.'"
"'Und dafür brauchst du ein Stück Seide für drei ganze Rubel... für drei Rubel Taft zum Kragen... drei Rubel, die wir sonst für die Zukunft zurücklegen könnten!'"
Sie habe doch schon achtzehn Rubel, ganz freiwillig, wendet sie schüchtern ein.
"'Ja... sollen wir uns in Seide kleiden, während ich... heute ausgerechnet davon sprechen will, daß Johannes in der Wüste ein härenes Gewand trug...'" während "'unsere Damen jetzt schon anfangen, sich Seiden und Spitzen und Flitterzeug für die Landtagsbälle in Riga zu kaufen. Ich will den Menschen einen Spiegel über die Nichtigkeit dieser Dinge vorhalten, - und du willst Taft zum Kragen!'"
Die Gemütlichkeit ist hin. Der Pastor im Raum hin und her wandernd: "'Meinst du nicht, daß du Gott ohne taftenen Kragen besser gefällst?'... 'Ich glaube, Gott ist nicht so kleinlich'", schnellt ihr Kopf empor.
"'Aber erlaube mal, Elsbeth - so kleinlich wie wer?'", bricht die heilige Empörung aus ihm heraus. "'Und was für Worte sprichst du da eigentlich in Verbindung mit Gott? Wie kannst du Seinen Namen überhaupt in Verbindung mit deinen lächerlichen Angelegenheiten nennen? Kleinlich sagst du? Ja, wahrhaftig, kleinlich ist Er nicht, der die Gestirne schuf und über die Ewigkeit herrscht...'" Etc. Etc.
Hier mußte ich einfach kürzen und springe geradewegs in die Geschichte hinein. Das ist genau der Punkt vor dem ich eingangs warnte. Unser Pastorendarsteller paraphrasiert ziemlich deutlich Gott im Hiobbuch (das für sich schon schwierig ist - das Gescheiteste hat dazu nach meinem Geschmack immer noch C. G. Jung geschrieben, in der Leiste rechts finden sich Hinweise auf meine Versuche, dem etwas gerecht zu werden, nun ja). Mit anderen Worten, der Archetypus Gott inflationiert gerade ziemlich sein Gemüt, oder was auch immer.
Der Leser muß spätestens jetzt einräumen, Dialoge sind nicht immer die stärkste Seite unserer Autorin. Sie hat Einfälle, die Gedanken ihrer Charaktere sind stimmig und lebensecht, aber man gewinnt den Eindruck, daß sie von ihrem Konzept so begeistert war, daß sie ganz vergessen hat, daraus eine hinreichend lebendige Rede zu machen. Es ist mehr eine Lehrerzählung im Holzschnittstil. Und zwar nicht unbedingt dem Dürers. Schade eigentlich. Doch wir mühen uns weiter.
"'Was weißt du von ihm..., deren Verstand nicht ausreicht, auch nur den Saum seines Gewandes zu erkennen...'"
Während des gewaltigen Wortregens wurde die junge Frau ganz klein, und erst als er Atem holen mußte, wagt sie zu flüstern: "'Ja, natürlich, du hast recht, ich weiß nichts von Gott und seiner Majestät, außer dem einen: Daß Er mich lieb hat!' 'Lieb hat? Dich? Das Staubkorn?' rief der Pastor und schaute vernichtend in ein Paar aufgerissene Augen, aus denen ratlose Verwirrung geradezu schrie."
Diese Verwirrung ernüchtert ihn, etwas. Ja, Gott liebe sogar die Verbrecher. "'Aber ich wollte nur sagen, daß Schönheit oder Klugheit, Jugend oder eine gute Familie noch lange kein Grund sind, sich zu den Auserwählten zu zählen...'"
Strohmannalarm! Leider ist das Wort im Deutschen noch nicht hinreichend eingeführt. Aber es ist genau wie im Hiobbuch, der Gott-Pastor tritt Vorstellungen entgegen, die gar nicht erhoben wurden, vermutlich, weil sie sich leichter abwehren lassen. Die Antwort ist also nur zu logisch.
Das habe sie auch gar nicht behauptet, wendet sie zurecht ein, "aus den Fluten ihrer Demut und Verwirrung auftauchend" und fügt mit sogar abwehrbereiter Stimme hinzu: "'Ich habe nur gesagt, daß Gott mich liebt, und ich liebe ihn auch.'"
Der Pastor, nun wieder bedächtig, "'Ja, aber die rechte Liebe muß es sein, Furcht und Liebe. Man darf Gott nicht verniedlichen, weil man selber niedlich ist. Ihn und ein Stückchen Taft zum Kragen sollte man nicht in einem Atemzug nennen. Man sollte Ihm zuliebe einfach wortlos darauf verzichten.'"
Sie tue Gott mit ihrem Taft doch gar keinen Abbruch, er habe die Seiden wie die Lilien geschaffen, damit man sich an ihnen freue, sie würde nicht einmal Angst haben, wegen des dummen Tafts zu Gott zu beten.
Das nächste Zitat können wir leider nicht ersparen:
"'So würdest du also ruhig mit dem lieben Gott sozusagen gemeinsame Sache gegen mich machen?' fragte der Pastor dagegen schneidend vor Zorn und Verachtung. 'Eberhard!..."
Der Pastor spürte jetzt immerhin "etwas wie eine Warnung". Natürlich nähme er das nicht wörtlich, doch erschiene ihm ein solches Gebet wie eine Blasphemie. "'Gott - und Taft zum Kragen! Diese irdischen Dinge sind da, oder sie sind nicht da, - man betet nicht um sie!'" Stehe denn im Vaterunser irgendeine ähnliche Bitte? Es ginge um der Seelen Seligkeit und nicht um Taft. Gott sei kein Magier. Auch unsere Gebete könnten uns den Weg in den Himmel versperren.
Das Ende der Unterhaltung fassen wir besser zusammen. Sie besteht darauf, mit jeder Kleinigkeit zu Gott, dem liebenden Vater laufen zu können. Er sagt irgendwann: „‘Ja, das hat alles nun nichts mehr mit meiner Auffassung von Gott oder mit irgendeiner Theologie zu tun, - aber für schwache und törichte Seelen mag auch diese Art von Gebet ihren Trost in sich tragen.‘“
Er bemerkt dann erschreckt, daß sie fast zu spät zur Kirche seien. Sie solle sich schnell fertig machen und noch übers Gesicht wischen. Es brauche nicht die ganze Gemeinde zu sehen, daß sie am heiligen Sonntagmorgen geweint habe.
Brunnen der küssenden Studenten bei Nacht
wird fortgesetzt,
nachgetragen am 29. Dezember
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