Mittwoch, 26. Dezember 2018

"Taft zum Kragen" - eine Geschichte aus Livland, nacherzählt


...mit mäandernden Anmerkungen

Dorpat / Tartu 1866, Livländische Ansichten, 
gezeichnet und hrsg. von Wilhelm Siegfried Stavenhagen
gestochen und gedruckt von G. G. Lange in Darmstadt, hier gefunden

„Das kleine Ereignis, von dem ich heute berichten möchte, hat, als es geschah, die Welt in keiner Weise bewegt. Aber es hat ein paar Menschenherzen verwandelt. Es hat ihnen gezeigt, daß die Bewegtheit der Herzen, ja sogar deren unbedeutende Fehlleistungen manchmal dazu dienen können, denen, die Gott lieben, zu dem ihren zu verhelfen.“

So liefert uns Else Hueck-Dehio gleich zu Beginn die Moral ihrer nachfolgenden Adventserzählung von 1953 „Taft zum Kragen“. Sie handelt übrigens in ihrer Geburtsstadt Dorpat in Livland, heute als Tartu in Estland bekannt.

Unter den erbaulichen Büchern, die mir lebensumständehalber in die Hände fielen, findet sich auch diese kleine Erzählung. Wer erbaulich schreibt, hat gute Absichten, und die verderben für gewöhnlich den Stil. Denn da der Autor ständig will, daß er verstanden wird, erklärt er zumeist seine Figuren und bringt sie so gewissermaßen systematisch zur Strecke. Das nehmen dann nicht nur die Figuren zurecht übel, sondern auch der gutwillige Leser. Literatur entsteht so eher nicht.  Aber wir lassen uns davon nicht erschrecken und lesen weiter. Wir werden sehen, wie weit wir kommen.

„Dieses kleine Ereignis geschah in Livland, in jener fast schon sagenhaft gewordenen Zeit, als die Damen noch lange Röcke und hohe Stiefelchen trugen, als die Männer noch vom ‚schwachen Geschlecht‘ sprachen, als die estnischen Dienstboten der Herrschaft noch den Ärmel küßten und als es noch geschehen konnte, daß ein Kutscher für treue Dienste zur Hochzeit ein ganzes Gesinde [einen Bauernhof] geschenkt bekam.“

Nun, der von Nostalgie genährte Enthusiasmus der heutigen Esten über den Umstand, daß ihre Vorfahren der Herrschaft den Ärmel küßten, dürfte eingeschränkt sein. Aber diese Beschreibung verweist auf etwas, das wir wohl näher erklären müssen, wenn einem die Szenerie nicht gänzlich fremd bleiben soll.

Karte des alten Livland, Teil von Theatrum Orbis Terrarum 
des Abraham Ortelius, Antwerpen zwischen 1573 und 1598

Was war Livland? Und jetzt muß ein Haufen Zahlen folgen. Ein Gebiet, in das sich heute Estland und Lettland teilen. Der Schwertbrüderorden, der es früh errang, ging 1237 als Livländischer im Deutschen Orden auf.  Anderseits war er gewissermaßen zunächst das erfolgreichere Preußen, denn auch nach der für den Deutschen Orden verheerenden Schlacht von Tannenberg (1410) blieb man von Polen unabhängig, 1558, inzwischen hatte die Reformation Einzug gehalten, suchten die Russen, Livland zu erobern, und man mußte sich zur Abwehr nun doch unter polnische Oberhoheit stellen. 1561 wurde der letzte Landmeister Gotthard Kettler mit dem Herzogtum Kurland und Semgallen belehnt.

Gotthard Kettler, ab 1561 erster Herzog von Kurland und Semgallen

1629 erroberte der Schwedenkönig Gustav II. Adolf den größten Teil Livlands. Und 1721 jagte Peter der Große Livland den Schweden ab, nur ein kleiner Teil blieb, vorerst, bei Polen. Bis 1919 bestand dann das Gouvernement Livland, welches nur einen Teil der historischen Landschaft umfaßte, mit Riga und Dorpat.

Was es bei diesem Wechselspiel von Eroberungen und Herrschaftswechseln zu bedenken gilt: Sie fanden sicher nicht nur an der Oberfläche statt, doch sie veränderten weniger als zunächst zu vermuten wäre. Der Schwertbrüderorden war ein deutscher Orden, der seine Mitglieder aus dem Hl. Reich rekrutierte. Mit der Reformation – und jetzt fehlt ein Begriff, der den Vorgang angemessen beschreibt – bildete sich eine gesellschaftlich prägende Schicht aus, die weiter vorwiegend deutschsprachig blieb.

Man mag sich daran ärgern, aber so unvergleichbar ist das gar nicht. Als die (französischsprachigen) Normannen 1066 England eroberten, stellten sie danach auch eher robust den Adel und höheren Klerus und blieben überwiegend unter sich, gut, irgendwann wechselte ihr Französisch, nein nicht ins Angelsächsische, aber es veränderte sich in einen Misch-Masch, der uns heute als Englisch quält.

Unter dieser Oberfläche hat es noch sehr lange eine bestimmte Exklusivität gegeben. Mir sind aber keine Bestrebungen bekannt, den „normannischen“ Adel zurück über den Teich nach Frankreich zu scheuchen (das Thema hat sich mittlerweile sowieso, nur anders, erledigt). Jemand könnte  einwenden, das wäre vor ziemlich 1000 Jahren gewesen. Nun, es hat dann begonnen, und das hat es hier auch (es war nur früher zu Ende).

Zur Zeit unserer Erzählung (ja, wir kommen langsam zu ihr zurück) mochte Russen die politische Herrschaft innehaben, landbesitzender Adel, Bürgertum und Geistlichkeit aber sprachen Deutsch. Man darf das jedoch nicht nach der heutigen Elle messen, entscheidend waren Herkommen und Stand. Auf der anderen Hand hatten viele russische Generäle deutsche Namen und dürften sich nichtsdestotrotz zuerst als Untertanen des Zaren und insofern auch als Russen angesehen haben. Es war ein sehr anderes Empfinden von Nation und Zugehörigkeit, obwohl sich das in dem vermutbaren Handlungszeitraum der erzählten Geschehnisse gerade langsam ändert.

Wir sind bereits mitten im

1. Akt - Herr Ploetz & der dunkelblaue Taft

Tartu / Dorpat zwischen 1926 und 1941

Es schneite, Weihnachten stand bevor.

"Die junge Frau Pastorin, die im schwarzen Samtmäntelchen und mit rundem Muff über den großen Markt trippelte, hörte die Fuhrmannsschlitten mit vielstimmigem Schellengeklimper vorübergleiten…"

Die Fußgänger verkrochen sich vor der Kälte in ihre hohen Pelzkrägen, die Kinder mit ihren Schlitten hatten knallrote Backen, die Studenten rieben sich die Ohren unter ihren bunten Mützen. Frau Pastor  blieb vor einer Stoffhandlung stehen, ging aber nicht hinein. Popow hatte zwar die größere Auswahl, aber im vergangenen Frühling hatten Studenten das „w“ vom Namensschild weggeschlagen, und dort einzutreten, genierte sie natürlich als junge Pastorin! 

„Sie ging also die wenigen Schritte bis zur Ploetz‘schen Bude weiter“, klopfte den Schnee von den Sachen und die Schelle über der Tür klingelte, als sie eintrat. Herr Ploetz tauchte unter mehreren Verbeugungen diensteifrig „mit seinem altbekannten, schmantigen Lächeln“ auf.

"'Kuten Morjen, knädijes Frau Patorinchen', sagte er dabei, 'kalt heute, und wiehl Schnee...'
'Ja, guten Morgen, Herr Ploetz', antwortete die junge Frau und schlug den Schleier, der schmal um die Fellkappe gebunden war, von ihrem Gesicht zurück.

'... Oj, oj' dachte Herr Ploetz, 'so ein scheenes rosa Jesichtchen und dabei so jung'... 'Womit terf ich tienen?' fragte er laut.“

Die junge Frau Pastor ließ ihre Augen über die Stoffballen von dicker dunkler Wolle für Mäntel, von dünnerer in freundlicheren Schattierungen für Kleider und die „zarten Gespinste für Blusen“ wandern. Und dann die Seiden!

"Da lagen sie alle, Crêpe de Chine und Charmeuse, Chiffon und Popeline, Atlas und Taft. Ja, der Taft war es, auf den sie es diesmal abgesehen hatte. Der Taft für den Kragen des längst ersehnten und endlich ersparten Weihnachtskleides. Und so sagte sie: 'Ich brauche etwas Taft, dunkelblauen Taft zum Kragen.'"

Herr Ploetz antwortet eilfertig: "'Haber natierlich, scheenen plauen Taft, kann ich tienen, kann ich tienen, Frau Pastorinchen...' Er zog, flink und schwungvoll, die säuberlich auf ein Brettchen gewickelten Seiden aus dem Regal hervor und ließ sie, eine nach der andern, knisternd und glänzend über seine Hand entrollen.

'Scheene, schwere Seide', murmelte er mit gespitzten Lippen, 'kanz plank, pricht nicht, schleißt nicht, macht nur so vornehm schurr-schurr…'"

Er schaute, wie er die Seide sprechen ließ, seiner Kundin direkt ins Gesicht, aber die sieht nur die Seiden. Ihre "kleine, neugierige Mädchenhand" streicht über den Stoff: "Wie kühl er sich anfühlte! Wirklich vornehm! Und dabei wärmte er doch, das wußte man, Seide wärmt immer. Aber sie sticht nicht am Halse wie diese dumme Wolle."

Sie holte eine dunkelblaue Wollprobe hervor: "Ja, diese! Wie schön würde doch ein breiter Kragen auf der ernsten Wolle aussehen!

Eine Pastorin durfte natürlich keine auffallenden Kleider mehr tragen… Zwischen braun, blau und schwarz lag jetzt ihre Farbenskala, und höchstens noch weiße Blusen mit hohen englischen Stehkragen auf Fischbein… weder singen noch schlucken konnte man mit diesen Dingern… Aber hier – ein weicher Kragen, der bis auf die Schultern fiel und glänzte und knisterte...“

Fast würde sie sich darin wieder als junges Mädchen fühlen, das den Studenten gefallen wolle. „Jetzt war es nur noch einer, dem man zu gefallen hatte, der Ernste, Große, Dunkle und furchtbar Schöne, der unentwegt auf dem steinigen Pfad zum Reiche Gottes voranging und der sich entschlossen hatte, so ein kleines und eitles Wesen, wie man selber eines war, auf diesem steinigen Wege hilfreich mitzunehmen.“

Diesem wollte man gefallen, sonst keinem, aber man durfte und sollte es auch, es war eheliche Pflicht! Nur leider antwortete er auf ihr Bemühen gewöhnlich: “‘Aber Kind, wozu das? Auf solche Dinge sehe ich doch gar nicht! Es kommt mir nur auf dein Gesicht an. Meinetwegen könntest du in Sack und Asche gehen - oder überhaupt nichts anhaben.' Aber das hatte er bestimmt nicht so gemeint!"

"'Wieviel würde das denn kosten?' fragte sie. Herr Ploetz wurde sogleich traurig und seine Stimme ganz leise. 'Zwei Rubelchen die Elle', antwortete er und hob die Schultern, um anzudeuten, daß er an diesem hohen Preis unschuldig sei."

Sie erschrak, anderthalb Ellen würde sie sicher brauchen, 3 Rubel war die Summe, die sie jeden Monat vom Haushaltsgeld für die Zukunft zurücklegte. „‘Wir müssen für die Zukunft sparen‘, hatte ihr Mann gesagt, als er ihr vor einem halben Jahr das erste gemeinsame Haushaltungsgeld aushändigte.“

Zwar war ihr die genaue Art dieser Zukunft unklar. Kinder, Krankheit, Alter? Von allem war für‘s erste noch nichts zu merken. „...nicht ein einziges Kind schien die Absicht zu haben, sich in die Arme der jungen Pastorin zu begeben, um von ihr gewiegt, geküßt, geliebt – und nur unzureichend erzogen zu werden, wie ihr Mann schon jetzt befürchtete.“

3 Rubel hatte sie bisher pünktlich für "die Zukunft" zurückgelegt, "und nun sollte sie für einen dummen Taftkragen ebensoviel ausgeben?"

"'Herr Ploetz', sagte die junge Pastorin und hob ihre Augen, die gar - gar niemandem mehr gefallen sollten, in einem plötzlichen Entschluß zu dessen mondgleichem Angesicht.
'... Oj, oj, dachte Herr Ploetz zum zweitenmal an diesem Vormittag, 'so scheene Augens - wie bei Kalbchen!'

 'Herr Ploetz', sagte sie also. 'Dies ist ja doch eigentlich nur sehr wenig Taft... nur noch ein Rest... können sie ihn mir nicht etwas billiger abgeben?'" 

„Das gerührte Wohlgefallen an dem anmutigen Geschöpf vor ihm kämpfte mit der oft erprobten und stets vorteilhaft bewährten kaufmännischen Anlage des Ploetz‘schen Wesens, und nach einigen Augenblicken hatte die kaufmännische Anlage gesiegt.

'Knädijes Frau Pastorinchen', flüsterte er mit niedergeschlagenen Augenlidern, 'altes Ploetz ist ein armer Mann - altes Ploetz ist pillich; pillicher als pillich kann altes Ploetz nicht sein.'"

Er sah, wie ihr das Blut ins schöne Gesicht schoß. "'Natürlich, ich hätte Sie nicht fragen sollen...', flüsterte die junge Frau. 'Ich muß es mir noch überlegen. Auf Wiedersehen, Herr Ploetz..." Dieser sah noch, trotz des schnell herabgezogenen Schleiers, wie ihre Augen feucht wurden.

"'Knädijes Frau Pastorinchen türfen nicht zu lange ieberlejen, Stoffchen ist nur wenig!' rief er hinter ihr her", während die Glastür schellenbellend ins Schloß fiel.

"Solches geschah am Sonnabendvormittag vor dem zweiten Advent."

Wir unterbrechen hier. Dies war der charmanteste Teil, und da meine eigene Aufmerksamkeitsspanne eher kurz ist, habe ich den Beitrag nachträglich in 3 Stücke geschnitten. Die anderen beiden Teile sollen denn auch in Kürze folgen.

„Woman's Robe à la Francaise, France, 1760s“

nachgetragen am 28. Dezember

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