Rainer Maria Rilke, 1904
im Studio al Ponte im Garten der Villa Strohl-Fern in Rom
Wo die Zeit, die einstmals so fest gegründet schien, zu verschwimmen beginnt, und ich eben aus dem Zeitendämmer auftauche (nur zur Erinnerung, es ist gerade Silvester, wieder einmal!). Rainer Maria Rilke starb an einem 29. Dezember, nämlich 1926. Mir ist das eben zufällig bewußt geworden, wo ich einen Text, mit dem ich mehr als unzufrieden war, noch einmal las. Er ist also in die Zeitlosigkeit eingetreten.
Wenn ihn 1918 nicht entsetzt hätte, wäre er ein Trumm gewesen. Der sehr überlebensfördernde Herr Klonovsky schreibt öfters, seinerseits Frank-Lothar Kroll zitierend: „Seit 1918 ist doch eh alles egal.“ Ja, das ist wahr, aber sollten wir in dieser Einsicht nur versinken wollen?
Das Erinnern der Ereignisse von vor 100 Jahren ist so niederschmetternd, daß einen natürlicherweise ein Widerwille ankommt, überhaupt etwas darüber zu schreiben… Ich sortiere nur eben das ablaufende Jahr.
Das Zitat von Herrn Rilke, das nachfolgt, ist kein verifiziertes, ich hatte es einem Freund - er wird diese Be-Zeichnung ertragen müssen, wie ich auch - einmal einfach hinübergeschickt. Also sei es so:
"Den Antrieb begreif ich wohl, wer hätte ihn nicht, wer wünschte nicht das Gut-machen, das Anders-machen, den unmittelbarsten und gemeinsamsten Entschluß zur Menschlichkeit? Nun ist er ja aber nicht gefaßt worden, weder in Rußland noch anderswo, und er konnte ja wohl auch nicht gefaßt werden, weil kein Gott dahinter steht, der ihn hervortriebe. Was sich mit dem Vorwand dieser neuen Brüderlichkeit ausstattet, ist eigentlich immer noch der Krieg, das zerstörerische, losgelassene und noch lang nicht beruhigte Element." Diese sinnleere Verzweiflung schreie den Slogan der Brüderlichkeit heraus und widerspreche ihm in jedem Moment, denn es sei das Nachwirken des Krieges, die Rache für mißbrauchte und verheerende Macht, die in bloßen Umsturz münde, "als ob ein aus den Schienen springender Zug ein Bild der Freiheit wäre".
Es sei so verständlich, daß die Menschen ungeduldig geworden seien, aber was wäre nötiger als Geduld; Wunden brauchten Zeit und würden nicht davon heilen, daß man Fahnen in sie einpflanzte: "Irgendwie anders muß die Welt 'ein haltbares Bewußtsein' eingehen, und vielleicht wird das Erste, woran sie sich wiederfindet; ein ganz Unscheinbares, jedenfalls ein Unsägliches sein! Mir scheint das Mindeste Aufbauen, das jeder Einzelne an seiner Stelle versucht, der einfach wieder hobelnde Tischler, der wieder hämmernde Schmied, der wieder rechnende und bedenkende Kaufmann: das sind die Fortschreitenden, das sind die reinen Revolutionäre, je mehr, je stiller und tätiger und werkliebender sie sind, jeder an seinem Platze, sich bemühen."
Rilke an Anni Mewes, 12. 9. 1919, gegen Heinrich Vogeler
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