Hauptgebäude der Universität Tartu zur Weihnachtszeit
Unsere kleine Geschichte, oder sollten wir sagen, unser Weihnachtsmärchen, geht dem Höhepunkt und der Auflösung entgegen. Womit nicht angedeutet werden sollte, daß Märchen etwa unwahr wären, sie zeigen auf, was alles möglich ist.
Um kurz zusammenzufassen, was bisher geschehen ist. Hier begannen wir zu erfahren, wie eine Geschichte im alten Dorpat sich ereignete, in der es äußerlich um den Kauf von Taft für ein Weihnachtskleid ging, genauer dessen Kragen. Die junge Frau eines Pastors muß dann im Fortgang erfahren, wie dieser wegen solcher „weltlichen“ Allüren über sie zu Gericht sitzt. Und wir fahren fort.
Louis Höflinger: Universität Dorpat 1860
3. Akt, erster Teil – ein tränenreicher Kirchgang und das Auftauchen von Herrn Freud während des Gottesdienstes
„Die junge Pastorin hätte sich während des ganzen Weges zur Kirche mit einem feuchten Schwamm übers Gesicht wischen müssen, und auch das hätte kaum etwas geholfen. Auch der eng anliegende Schleier half nichts. Die Tränen quollen unaufhaltsam aus den Augen, sie konnte nichts daran ändern.
'Hör doch auf, die Sache ist das doch gar nicht wert!' flüsterte ihr Mann, als ihnen auf dem Domberg der Professor der Chirurgie mit seinen sechs vorlauten Töchtern entgegenkam.
Ja, daß der Taft diese Tränenströme und diese Erschütterung nicht wer war, wußte die junge Frau auch, und sie hatte bereits auf ihn verzichtet. Etwas völlig anderes preßte die Tränen aus ihrem Herzen. Nur langsam dämmerte es in ihr auf, was das war. Ein Götterbild war in ihr zusammengestürzt. Nicht das Bild Gottes! Das stand unantastbar in ihrer Seele, über jeden Zweifel und über jede Frage des dummen Verstandes erhaben, wie immer in den Seelen der von Natur aus Gläubigen.
Daneben hatte sie sich aber ein zweites Götterbild aufgerichtet, und das rächte sich nun. Der schöne, dunkle Gott war an diesem Vormittag plötzlich in Scherben zerfallen. Es hatte sich gezeigt, daß er doch schließlich nichts anderes war als ein Mensch wie alle anderen. Ja, ein sehr von sich überzeugter, - fast muß man schon sagen, ein eitler Mensch, durch dessen Schale von Liebe und Christlichkeit plötzlich geschliffene Härte und Eigenliebe durchblitzten.
So sah das Götterbild aus, dem man sich mit Haut und Haar anvertraut hatte - und man durfte trotzdem nicht ablassen, es unvermindert weiterzulieben…“
[Das Götterbild weiterlieben müssen? Hm. Davon abgesehen: Man könnte dies auch als Bestreben der jungen Frau verstehen, ein als defizitär empfundenes Ich durch etwas Größeres vollständiger zu machen, darin stecken immerhin Einsicht, Demut und der Wille zur Ganzheit. Auf etwas Greifbares zu blicken, liegt dann nahe. Warum sollte das wohlvertraut Alltägliche auch trügerisch sein. Daß hier auch eine Gefahr ist und gerade das Vertraute trügerisch sein kann, dieses gehört zu den Dingen, die ein jeder lernen muß, auch wenn es ihn vermutlich nicht glücklicher macht.
Und wo wir schon mit unseren Anmerkungen dazwischengehen: Man weiß nicht immer recht, spricht hier die junge Frau oder die Erzählerinnenstimme nimmt schon mal die Einsichten vorweg, die gerade am wachsen sind, das ist schade; und auch die Plötzlichkeit ist etwas unglaubhaft. Daher meine Eingangsbemerkung vom Märchenhaften. Die Autorin will uns wohl zeigen, wie guter Wille und Offenheit und echter Sinn für Religion die Täuschung entlarven, das ist zwar schön gedacht, aber nicht immer kongenial dargestellt, doch wir machen weiter]
Auch dem jungen Pastor war nicht ganz wohl. "Er hatte das undeutliche Gefühl, als sei ihm heute morgen etwas daneben gelungen, und er wußte bloß noch nicht was. Jedenfalls hatte er... seine Frau nicht näher zum großen Gott herangeführt…
Was nun eingestanden werden mußte, trat so schwer über die Schwelle des Bewußtseins, daß es bis zum Eintritt in die Sakristei noch nicht in präzise Gedanken gefaßt werden konnte.“ Aber des Amtes mußte gewaltet werden, und die Ablenkungen hatte zu schweigen.
„Die junge Pastorin saß auf ihrem Stammplatz hinter dem Professorengestühl“, ihr Profil „allen Blicken preisgegeben. Eine „von den guten alten Kanzelschwalben“: „‘Sie sehen schlecht aus, Kindchen, fehlt ihnen etwas?‘“ Eine der vorlauten Professorentöchter flüstert, ‚Ehekrach, was denn sonst?‘ Schon mehr unter dem anonymen Kirchenvolk sitzt Herr Ploetz und denkt ‚oj, oj‘ als er die junge Frau sieht und vor seinem geistigen Auge erscheint das dunkelblaue Stück Taft, „das er gestern sorgsam beiseite gelegt hatte, falls die junge Frau Pastorin es sich doch noch ‚ieberlejen‘ sollte.“
St. Johanniskirche, Tartu / Dorpat
Der Gottesdienst ist zu aller Zufriedenheit, auch die Predigt. Das Grauen, das der Pastor vorgefühlt hatte, „lief seinen Hörern tatsächlich über den Rücken und sie hörten die Flammen der Hölle unter der Oberfläche brausen. Die Landrätinnen überlegten sogar, ob sie nicht an der Seide für die Ballkleider ihrer Töchter einige Ellen einsparen könnten.
Nur der Pastor selber fühlte nicht das Glück einer wohlgelungenen Schöpfung. Wenn er mit seiner klingenden Stimme rief: ‚Tut Buße!‘ - dann fühlte er sich in einer gespenstischen Weise selber angerufen. Und wie war es mit der Stimme eines Predigers in der Wüste? Was ging ihn denn die Wüstenei dort unten im Kirchenschiff eigentlich an, solange sein eigenes Herz, das an den Ereignissen des Morgens noch herumknackte, selber einer Wüste so verdammt ähnlich sah?
Ja, ihr Otterngezücht, wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?… Hatte Johannes dieses Wort nicht direkt auf ihn gemünzt, der er seiner eigenen Frau das Himmelreich mit seinen weisen Worten vielleicht eher versperrt als aufgeriegelt hatte? Sie hatte seine Worte ja gar nicht nötig, sie war ja reinen Herzens, sie schaute Gott ohnehin!“
[Sicher, die Autorin wußte das, aber auch hier schon der Pastor? Doch ja, es kommt seine innere Epiphanie]
Die Axt an der Wurzel und die Worfschaufel „bekamen plötzlich ihren echten, tief beängstigenden Sinn. Und schließlich war es der Pfarrer selber, der vielleicht als einziger die Feuer der Tiefe wirklich brausen hörte.
Als er aus dieser sonderbaren Predigt auftauchte“, suchte wie immer nach dem Gesicht seiner Frau, um „Zustimmung oder Ablehnung herauszulesen“. Doch er sah nur „die Zipfel eines winzigen spitzenumrandeten Taschentuchs. Dem jungen Pastor wären nun fast selber die Tränen gekommen, wenn er nicht eine zornmütige Natur gewesen wäre.“ So flucht er lieber in sich hinein: “‘Oh dieser verdammte Taft zum Kragen!‘“
Louis Höflinger: Die St. Johanniskirche 1860, Tartu / Dorpat
Er verliest die Fürbitten. Und da geschieht es: „‘Herr gib uns Taft zum Kragen...‘ Stille - - ‚Ja, Kraft zum Tragen, gib uns, Herr...‘“
[So bricht mitten ins Ritual der Herr Freud mit dem nach ihm benannten Versprecher und das Unbewußte sich seine Bahn.]
„Wie der junge Pastor nach diesem Gebet die Stufen zur Sakristei hinuntergekommen war und wie er nachher das Vaterunser und den Segen gesprochen hatte, das wußte er später nicht. Er wußte nur, daß seine Ohren brausten und sein Kopf glühte.
Er, der seiner Frau die unschuldige Kinderbitte um den Taft untersagt hatte, er, der mit großen Worten um sich geworfen und sie zu den Schwachen und Törichten gezählt, - er hatte selber öffentlich und vor der ganzen Gemeinde um Taft zum Kragen gebetet...“
Es war ein lapsus lingua, tröstet ihn der alte Propst in der Sakristei, aber der junge Pastor sieht „das belustigte Zwinkern in seinen Augen. Dieses Zwinkern würde heute nun an allen sonntäglichen Mittagstischen zu finden sein, in den Konventsquartieren der Studenten, in der Ressource und Bürgermusse, im Getuschel der vorlauten Backfische und in den Kaffeekränzchen der guten Kanzelschwalben. Er kannte doch seine Landsleute! Wie sollte er je wieder diese Kanzel besteigen?
Seine Frau saß unterdessen völlig erstarrt auf ihrem mit Wachstuch bezogenen Kirchenstuhl! Selbst ihre Tränen waren erfroren und das Spitzentüchlein war kraftlos in ihren Schoß geflattert. Ihr kleines, rosiges Gesichtchen war gar nicht mehr rosig, sondern blaß.“ Sie spürte die unruhige, das Schmunzeln verdeckende Bewegung die durch die Kirchenbänke lief „und plötzlich schlug eine Welle rötesten Blutes in ihre Stirn hinauf.
„‘Wie furchtbar‘, stammelte ihr Herz, ‚Eberhard... wie wird sein Selbstbewußtsein das ertragen? Daß Gott jetzt über ihn lächelt, wird ihm ja nicht so schlimm sein - aber die Menschen.‘“
Auch Herr Ploetz lächelte nicht. Als die Worte des seltsamen Gebets in seine Ohren fielen, stöhnte er diesmal ganz laut „Oj oj oj“ und schaute auf den Boden zu seinen Füßen. „Die Zusammenhänge waren ihm ganz klar. Und er selbst spielte in dieser kleinen Tragödie keine unbedingt vorteilhafte Rolle. Wie war es zum Beispiel mit dem ‚pillicher ablassen‘? Vielleicht hätte die junge Frau Pastorinchen dann heute nicht mit so verheulten Kalbchenaugen vor all den vielen Menschen dasitzen müssen, und der Herr Pastor hätte nicht beim lieben Gottchen um Taft zum Kragen gebetet. Und das Otterngezücht... und das höllische Feuer, das tichtig prennen würde...“ Er „sah das erstarrte rosa Gesichtchen, das nicht mehr rosa war. Danach schaute er nicht mehr auf“.
Dorpat / Tartu, Domkirche
Der Heimweg verlief schweigsam. „‘Haben es wohl alle ganz deutlich gehört?‘“ „‘Ja alle‘“, flüsterte sie. „Der Sonntagsbraten mit der Schmantsauce schmeckte auch nicht, und die Köchin trug ihn verstört wieder in die Küche zurück.“ Kein Wörtchen fiel.
„Dann klingelte es ganz leise an der Haustür.“ Die junge Pastorin, froh dem Schweigen zu entrinnen, ging selbst. „Vor der Tür stand niemand, nur frische winterliche Luft. Aber auf der Fußmatte lag etwas.“ Kein Findelkind. Es „fühlte sich weich und angenehm an, und auf dem soliden Papier stand in schnörkeliger Schrift: ‚Für Frau Pastorinchen!‘
‚Ach‘, hauchte die junge Frau und schlich sich leise ins schweigsame Speisezimmer zurück. Vor seinem Teller mit ‚rosa Manna‘ saß ihr Mann und hatte die Stirn in beide Hände gestützt.
‚Sieh‘, sagte sie und entnahm dem soliden Packpapier den kühlen, knisternden Taft zum Kragen; er war säuberlich auf sein Brettchen gewickelt. ‚Sieh, nun hat der liebe Gott dein Gebet doch erfüllt...‘
Der junge Pastor hob den Kopf. Er sagte nicht, wie er es am Morgen dieses Tages wahrscheinlich noch getan hätte: ‚Bring das sofort zurück, ich will es nicht sehen!‘ Nein, er stand auf, nahm seine Frau in die Arme, preßte sie fest an seine breite Brust, durch die der Atem hörbar strömte, und murmelte: „Verzeih mir, Elsbeth!‘
Womit wir zum Anfang zurückkehren, wo die Behauptung steht, daß Gott selbst unbedeutende Fehlleistungen der Seele gebrauchen kann, um Seinen Kindern aus Seinem Überfluß zu schenken, - nicht nur das Gute, sondern auch das Schöne.“
Solch ehrbar frommen Worten mögen wir nichts mehr hinzufügen. Und so fällt der Vorhang über unserer liebenswürdigen Advents-Märchen-Geschichte, aus Taft natürlich.
Seiden - Antependium von Giovanna Garzonica, ca. 1640-50
nachgetragen am 31. Dezember
5 Kommentare:
Großartig, die Geschichte! Habe als Bub in den Fünzigerjahren im "Konradsblatt" auch noch dergleichen gelesen. Immer mit angehaltenem Atem und großem Aufatmen am Ende.
Glücklicherweise hat Martin in Broda in diesem Fall den Spannungsdruck erträglich gehalten.
Dennoch zum Ende hin - retardierender Moment - nochmal ein gewaltiger Schrecken. Lasen wir doch " der Satansbraten mit Schmandsauce schmeckte ..", Aber ein gewisses Tintenfass soll ja nicht umsonst geflogen sein.
Ich bin gerührt, daß meine unwürdigen Bemühungen einen würdigen Leser gefunden haben. (Eben merke ich, daß das herablassend klingen muß. Ich hoffe, Sie genießen diese unfreiwillige Pointe).
Offen gestanden, wurde es ein wenig zur Quälerei als ich merkte, daß die Autorin (aus noblen Gründen) ihre Geschichte doch ein wenig massakriert hatte.
Also versuchte ich - als Ehrenrettung gewissermaßen - zu kürzen. Nicht genug. Ich wurde gestern gefragt, ob das wirklich alles zu lesen wäre oder ich nicht kurz erzählen könnte, worum es da eigentlich ginge, dann resignierend abwinkend - das dauert wahrscheinlich noch länger.
Religiöse Literatur hat das oft - die guten Absichten ruinieren alles. Aber das ist mit guten Absichten ja üblicherweise so. Nur schnell heruntergeschrieben,
ach und ein wohl durchstandenes Neues Jahr wünschen wir natürlich auch noch.
Nur als Nachtrag, ich kenne solche "Lustigen Verleser" bestens, sie sind üblicherweise mehr abgründig, aber sonst wäre das alles ja auch zu abgeschmackt.
Habe als junges Mädchen diese Geschichte gelesen und sie hat mich sehr berührt. Habe das Büchlein nicht mehr.und habe sie im Internet wieder gefunden und bin genau so berühr wie damals .Sie ist so behutsam und liebevoll geschrieben .Ich konnte mich gut in die alte längst vergangene Zeit hineinversetzen . Danke dafür .5. Dez.2021 Hoenefoss Norwegen
Vielen Dank meinerseits, gnädige Frau, ich hab' es grade' noch mal gelesen (und sogar einen Schreibfehler korrigieren dürfen). Ja, das ist eine von den besseren Geschichten und so passend in der Zeit. Vielen Dank, daß Sie mich darauf gerade gestoßen haben. M. W.
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