Albrecht Dürer, Melencolia, 1514
Aus den Confessiones, Elftes Buch
Über die Zeit, bevor sie von Gott geschaffen wurde
„Wenn aber jemand in seinen Phantasien sich in die sogenannten Zeiten vor der Schöpfung verliert und sich wundert, wie du, der allmächtige Gott, der Allerschaffer und Allerhalter, der Werkmeister des Himmels und der Erde, vor der Erschaffung dieses so großen Werkes unzählige Jahrhunderte geruht hast, so möge er aufmerken und bedenken, wie unbegründet sein Verwundern ist.“
„Denn eben diese Zeit hattest du geschaffen, und es konnte keine Zeit vorübergehen, bevor du die Zeit schufest. Gab es aber vor Himmel und Erde keine Zeit, wie kann man dann fragen, was du damals tatest? Denn wo noch keine Zeit war, gab es auch kein Damals.“
„Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht; unsere aber hienieden gehen und kommen, und schließlich kommen sie alle. Deine Jahre bestehen alle zugleich, weil sie eben bestehen; sie gehen nicht dahin, um von den nachkommenden verdrängt zu werden, weil sie eben nicht vorübergehen. Unsere Jahre aber werden erst dann alle sein, wenn unsere Zeitlichkeit alle ist. Deine Jahre sind ein Tag, und dein Tag erneuert sich nicht jeden Tag, sondern ist ein Heute, weil dein heutiger Tag keinem morgigen weicht und keinem gestrigen nachfolgt. Dein Heute ist die Ewigkeit; daher hast du auch gleichewig gezeugt, zu dem du gesprochen: ‚Heute habe ich dich gezeugt‘ Alle Zeiten hast du geschaffen, und vor allen Zeiten bist du, und nie gab es eine Zeit, wo keine Zeit war.“
Von den drei verschiedenen Zeiten
„Niemals also hat es eine Zeit gegeben, wo du nicht schon etwas geschaffen hattest, weil du ja die Zeit selbst geschaffen. Und keine Zeit ist ewig wie du, weil du immerdar bleibst; bliebe auch sie immer, dann wäre es keine Zeit. Denn was ist Zeit? Wer könnte den Begriff leicht und kurz erklären? Wer könnte ihn auch nur in Gedanken erfassen, um ihn dann in Worten zu entwickeln? Was aber erwähnen wir öfter in unsern Gesprächen, was erscheint uns bekannter und vertrauter als die Zeit?
Und wir verstehen in der Tat, wenn wir davon sprechen, den Begriff, wir verstehen ihn auch, wenn wir einen anderen davon sprechen hören. Was ist also Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es; will ich es aber jemandem auf seine Frage hin erklären, so weiß ich es nicht. Doch soviel kann ich gewiß sagen: ginge nichts vorüber, so gäbe es keine Vergangenheit, käme nichts heran, so gäbe es keine Zukunft, bestände nichts, so gäbe es keine Gegenwart.
Wie kann man aber sagen, daß jene zwei Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, sind, wenn die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht ist? Wäre dagegen die Gegenwart beständig gegenwärtig, ohne sich je in die Vergangenheit zu verlieren, dann wäre sie keine Zeit mehr, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart, um Zeit zu sein, in die Vergangenheit übergehen muß, wie können wir dann sagen, daß sie an das Sein geknüpft ist, da der Grund ihres Seins darin besteht, daß es sofort in das Nichtsein übergeht? Also müssen wir in Wahrheit sagen: die Zeit ist deshalb Zeit, weil sie zum Nichtsein hinstrebt.“
Jean Auguste Dominique Ingres, Ödipus und die Sphinx, 1808
Vom Maße der Zeit
„Und doch reden wir von langer und kurzer Zeit, aber das können wir nur von Vergangenheit und Zukunft sagen. Eine lange Zeit in der Vergangenheit nennen wir zum Beispiel die Zeit vor hundert Jahren, lang ebenso in der Zukunft die Zeit nach hundert Jahren. Kurz aber nennen wir die Zeit, wenn in der Vergangenheit etwa zehn Tage verflossen sind, und kurz in der Zukunft ist uns die Zeit nach zehn Tagen. Aber wie kann denn lang oder kurz sein, was gar nicht ist? Denn die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht.“
„Wir sollten also nicht sagen: ‚Die vergangene Zeit war lang‘; denn wir werden nichts an ihr finden, was lang war, da sie ja, seitdem sie vergangen, nicht mehr ist. Vielmehr müßten wir sagen: ‚Jene Gegenwart war lang‘; denn nur, da sie Gegenwart war, war sie lang. Denn da war sie noch nicht ins Nichtsein übergegangen, und deshalb war etwas da, was lang sein konnte. Sobald sie aber vorübergegangen war, hörte sie zugleich auch auf, lang zu sein, weil sie überhaupt aufgehört hatte zu sein.“
„Sind hundert Jahre der Gegenwart eine lange Zeit? Sieh zuerst zu, ob überhaupt hundert Jahre gegenwärtig sein können. Wenn das erste dieser Jahre abläuft, so ist es selbst gegenwärtig, die andern neunundneunzig aber sind zukünftig und deshalb noch nicht; wenn aber das zweite Jahr abläuft, ist das erste bereits vergangen, das zweite gegenwärtig und die übrigen zukünftig. Wir können so weiter irgendein beliebiges Jahr aus der Mitte dieser hundertteiligen Reihe als gegenwärtig setzen: die Jahre vor ihm sind vergangen, die nach ihm zukünftig. Deshalb können hundert Jahre nicht gegenwärtig sein.“
„Sieh, so ist die Gegenwart, die, wie wir wähnten, allein lang genannt werden könne, kaum noch auf die Dauer eines Tages ausgedehnt... Und selbst die eine Stunde verläuft in flüchtigen Augenblicken; was von ihr dahingeflogen, ist vergangen, was von ihr noch übrig ist, ist zukünftig… Wo ist also die Zeit, die wir lang nennen können? Etwa die Zukunft?“
„Wer aber kann die vergangenen Zeiten messen, die nicht mehr sind, oder die zukünftigen, die noch nicht sind? Keiner, oder er müßte behaupten, messen zu können, was nicht ist. Wenn also die Zeit vorübergeht, kann man sie wahrnehmen und messen; ist sie aber einmal vorübergegangen, so kann man dies nicht, weil dann die Zeit nicht mehr ist.“
John William Waterhouse, Hylas und die Nymphen, 1896
Über die drei Zeiten
„Würde einer im Ernste die Behauptung wagen, es gebe nicht, wie wir als Knaben es gelernt und wie wir die Knaben es gelehrt, drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern nur Gegenwart, da ja die beiden andern nicht sind? Oder sind auch diese? Dann tritt wohl, wenn aus der Zukunft Gegenwart wird, jene aus irgendeinem Versteck hervor, dann geht wohl die Gegenwart, wenn aus ihr Vergangenheit wird, wieder in die Verborgenheit zurück? Denn wo haben die Propheten, die Zukünftiges vorhersagten, es gesehen, wenn es noch nicht ist? Denn was nicht ist, kann man auch nicht sehen. Und wer Vergangenes erzählt, würde sicherlich nichts Wahres erzählen, wenn er es nicht im Geiste schaute. Wäre es aber gar nicht, so könnte es auch gar nicht gesehen werden.“
„Wenn es also eine Zukunft und eine Vergangenheit gibt, so möchte ich gern wissen, wo sie sind. Kann ich das auch noch nicht, so weiß ich doch, daß, wo sie auch sein mögen, sie dort nicht Zukunft oder Vergangenheit sind, sondern Gegenwart. Denn wäre die Zukunft dort auch Zukunft, so könnte sie dort noch nicht sein; wäre die Vergangenheit dort auch Vergangenheit, so wäre sie dort nicht mehr. Mögen sie also sein, wo sie wollen, sie sind dort nur Gegenwart.
Wenn wir Vergangenes der Wahrheit gemäß erzählen, so werden aus dem Gedächtnisse nicht etwa die Gegenstände selber, die vergangen sind, hervorgeholt, sondern die in Worte gefaßten Bilder der Gegenstände, die diese, da sie an den Sinnen vorüberzogen, gleichsam als Spuren im Geiste zurückließen. Meine Kindheit zum Beispiel, die nicht mehr ist, gehört der Vergangenheit an, die nicht mehr ist; wenn ich ihrer aber gedenke und von ihr erzähle, so schaue ich ihr Bild in der Gegenwart, weil es noch in meinem Gedächtnisse ist.“
„Wenn wir uns aber an die Sache heranmachen..., dann tritt die Handlung ins Sein, weil sie dann nicht mehr zukünftig, sondern gegenwärtig ist. Was es auch immer für eine Bewandtnis mit jenem geheimnisvollen Vorgefühle haben mag, sehen kann man immer nur, was wirklich ist. Was aber bereits ist, ist nicht zukünftig, sondern gegenwärtig. Wenn man also von einem Schauen in die Zukunft redet, so meint man damit nicht ein Schauen dessen, was noch nicht ist, also ein Schauen der eigentlichen Zukunft, sondern nur ihrer Ursachen und Anzeichen, die bereits sind; diese sind für den Seher nicht zukünftig, sondern gegenwärtig, aus ihnen ersieht er die Zukunft und sagt sie vorher.“
Arnold Böcklin - Pan im Schilf, 1857
Vom Unterschied in der Zeit
Das hat sich bis hierher wohl als klar ergeben, daß weder die Zukunft noch die Vergangenheit ist und daß man eigentlich nicht sagen kann: Es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Genauer würde es vielmehr heißen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in bezug auf die Vergangenheit, eine Gegenwart in bezug auf die Gegenwart und eine Gegenwart in bezug auf die Zukunft. Denn in unserer Seele sind die Zeiten in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber finde ich sie nicht Gegenwärtig in bezug auf die Vergangenheit ist das Gedächtnis, gegenwärtig in bezug auf die Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig in bezug auf die Zukunft die Erwartung.“
„Wie aber messen wir die Gegenwart, da sie keine Ausdehnung hat? Wir messen sie also, wenn sie vorübergeht; ist sie aber vorübergegangen, so messen wir sie nicht, weil dann nichts mehr da ist, was gemessen werden könnte. Aber woher, auf welchem Wege und wohin geht sie vorüber, wenn sie gemessen wird? Woher anders als aus der Zukunft? Auf welchem Wege, wenn nicht durch die Gegenwart? Wohin, wenn nicht in die Vergangenheit? Aus dem also, was noch nicht ist, über das, was keine Dauer hat, zu dem, was nicht mehr ist.“
„Mit welchem Zeitmaße messen wir also die vorübergehende Zeit? Etwa in der Zukunft, woher sie vorübergeht? Aber was noch nicht ist, können wir nicht messen. Oder in der Gegenwart, über die sie vorüberzieht? Aber was keine Dauer hat, messen wir nicht. Oder in der Vergangenheit, wohin sie vorübergeht? Aber was nicht mehr ist, können wir nicht messen.“
Was ist die Zeit?
„Ich habe einmal von einem gelehrten Manne gehört, die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne seien die Zeiten; aber ich habe ihm nicht zugestimmt. Sollten nämlich nicht vielmehr die Bewegungen aller Körper die Zeit sein? Wie ferner: wenn alle Himmelslichter feierten und sich nur noch das Rad eines Töpfers drehte, gäbe es dann keine Zeit, die Bewegungen dieses Töpferrades zu messen?“
„Ja auch die Gestirne und Lichter des Himmels sind Zeichen der Zeit, der Jahre und der Tage; das sind sie. Darf ich aber auch nicht die Umlaufszeit jenes hölzernen Rädchens einen Tag nennen, so darf jener Gelehrte auch nicht behaupten, dieser Umlauf sei gar keine Zeit.“
„Wenn also der Tag durch die Bewegung der Sonne und ihren Kreislauf vom Aufgange bis wieder zum Aufgange vollendet wird, dann frage ich: Ist die Bewegung selbst der Tag, oder ist es die Dauer, in der sich diese Bewegung vollzieht, oder beides? Denn wenn die Bewegung selbst der Tag wäre, dann müßte man von einem Tage sprechen, auch wenn die Sonne ihren Lauf innerhalb einer einzigen Stunde vollendete. Wäre die Dauer der Tag, so wäre dann kein Tag, wenn es von einem Sonnenaufgang bis zum anderen nicht länger als eine Stunde währte, so daß dann die Sonne vierundzwanzigmal ihren Umlauf vollenden müßte, damit ein Tag entstehe.
Wären aber Bewegung und Dauer der Tag, so könnte man es weder einen Tag nennen, wenn die Sonne ihren Kreis in der Zeit einer Stunde vollendete, noch auch, wenn die Sonne etwa feierte und darüber soviel Zeit verginge, als sie in der Regel zur Vollendung ihres ganzen Umlaufs von einem Morgen bis zum anderen braucht. Ich will jetzt darum nicht weiter fragen, was eigentlich der Tag, sondern was die Zeit ist...“ „Sage mir also keiner, die Bewegung der Himmelskörper sei die Zeit...“
„Da also etwas anderes die Bewegung eines Körpers ist, etwas anderes das Maß, mit dem wir die Bewegung messen, wer sieht da nicht ein, was wir von diesen beiden Begriffen Zeit nennen müssen? Denn wenn die Bewegung eines Körpers in verschiedener Weise vor sich geht, bald auch stillsteht, so messen wir nicht nur seine Bewegung, sondern auch die Dauer seines Stillstandes mit der Zeit… Die Zeit ist also nicht die Bewegung der Körper.“
„Und ich bekenne es dir, o Herr, daß ich immer noch nicht weiß, was die Zeit ist, und wiederum bekenne ich dir, o Herr, zu wissen, daß ich dieses in der Zeit sage, daß ich schon lange über die Zeit spreche und dieses "lange" nur durch die Dauer der Zeit lang ist. Wie also weiß ich dieses, wenn mir der Begriff Zeit fremd ist? Weiß ich etwa nicht, wie ich das, was ich weiß, in Worte kleiden soll? Weh über mich Armen, vielleicht weiß ich gar nicht, was ich nicht weiß!“
Charles Gleyre, Der Abend oder Verlorene Illusionen, vor 1843
Wie messen wir also die Zeit?
„So messe ich also, mein Gott, ohne zu wissen, was ich messe. Ich messe die Bewegung des Körpers mit der Zeit. Und doch messe ich die Zeit selbst nicht? Oder könnte ich etwa die Bewegung eines Körpers messen, wie lang sie ist und in welcher Zeit er von einem Punkte zu einem andern gelangt, wenn ich nicht die Zeit, in der er sich bewegt, messe? Womit messe ich also die Zeit selbst?“
„Hieraus habe ich geschlossen, daß die Zeit nur eine Ausdehnung sei; aber wovon, das weiß ich nicht. Es wäre wunderbar, wenn sie nicht eine Ausdehnung des Geistes selbst wäre… Ich messe die Zeit, das weiß ich. Aber ich messe nicht die Zukunft, denn diese ist ja noch nicht, ich messe auch nicht die Gegenwart, denn sie hat keine Ausdehnung im Raume, ich messe auch nicht die Vergangenheit, denn sie ist nicht mehr. Was also messe ich? Etwa vorübergehende, nicht vorübergegangene Zeiten?“
„Meine Seele, halte inne und merke wohl auf: Gott ist unsere Hilfe… Denke dir, ein Körper beginnt einen Ton von sich zu geben, er tönt und tönt fort und verhallt; schon ist er stille geworden; der Ton ist verklungen, und der Ton ist nicht mehr da. Bevor der Ton erklang, war er zukünftig und konnte noch nicht gemessen werden, weil er noch nicht war, und jetzt kann er nicht gemessen werden, weil er nicht mehr ist. Damals also, während er tönte, konnte er gemessen werden, denn damals war er da und konnte also gemessen werden. Jedoch auch damals war er nicht von Dauer; er ging nämlich und ging vorüber. Aber vielleicht ließ er sich gerade deshalb messen? Denn während er vorüber ging, dehnte er sich zu einer gewissen Dauer aus, in der man ihn messen konnte, während die reine Gegenwart keine Ausdehnung hat.
Wenn er also damals gemessen werden konnte, so stelle dir etwas anderes vor: Ein anderer Ton fing zu tönen an, und er tönt noch fortwährend und ohne jede Unterbrechung. Messen wir ihn, während er tönt; denn wenn er zu tönen aufgehört hat, wird er bereits vorübergegangen sein und wird nicht mehr gemessen werden können. Messen wir ihn also wirklich und bestimmen wir seine Dauer! Allein er tönt ja noch und kann doch nur gemessen werden von dem Augenblicke ab, da er zu ertönen begann, bis zu dem, da er aufhört. Denn die Zwischenzeit können wir ja nur durch Anfang und Ende bestimmen. Daher kann man einen Ton, der noch nicht zu Ende ist, nicht messen und seine Länge und Kürze bestimmen, noch kann man sagen, er sei einem anderen gleich oder im Vergleich zu einem anderen einfach oder doppelt usw. Ist er aber zu Ende, so ist er überhaupt nicht mehr. Wie soll man ihn dann also messen können? Und doch messen wir die Zeiten, aber nicht die, die noch nicht sind, auch die nicht, die nicht mehr sind, noch die, die sich auf keine Dauer erstrecken, noch die, die keine Grenzen haben. Also messen wir weder die zukünftige noch die vergangene noch die gegenwärtige noch die vorübergehende Zeit, und dennoch messen wir die Zeit.“
Giovanni Bonati, Hl. Augustinus und das Kind am Strand
Als Augustinus an einem Strand entlang ging, erblickte er einen Knaben, der eine kleine Grube im Sand gemacht hatte und mit einer Muschel Wasser aus dem Meer schöpfte und in die Grube goß. Als Augustinus ihn fragte, was er da tue, antwortete der Knabe, er habe vor, das Meer trockenzulegen und in die Grube zu füllen. Augustinus erklärte, das sei unmöglich, und lächelte über die Einfalt des Knaben. Der aber erwiderte ihm, eher sei es für ihn möglich, das fertigzubringen, als für Augustinus auch nur den kleinsten Teil der Geheimnisse der Dreifaltigkeit zu erklären. Und er verglich die Grube mit dessen Buch, das Meer mit der Dreifaltigkeit und die Muschel mit dem Verstand des Augustinus. Danach verschwand er. Da ging Augustinus in sich, betete und verfaßte, so gut er konnte, das Buch über die Dreifaltigkeit.
„Die lange Silbe fängt ja doch erst zu tönen an, wenn die kurze aufgehört hat. Messe ich etwa auch die lange Silbe nicht, während sie gegenwärtig ist, da ich sie nur messen kann, wenn sie bereits beendet ist? Ist sie aber zu Ende, so ist sie überhaupt nicht mehr. Was also messe ich denn da? Und wo ist die kurze Silbe, mit der ich messe? Und wo die lange, die ich messe? Beide sind erklungen, verklungen, vorübergezogen, beide sind nicht mehr. Und ich messe und antworte mit Bestimmtheit, soweit man sich auf ein scharfes Gehör verlassen kann, daß jene einfach, jene doppelt ist, nämlich in der Zeit. Das aber kann ich nur sagen, wenn die beiden Silben bereits vorübergegangen und beendet sind. Ich messe also nicht sie selbst, die bereits nicht mehr sind, sondern ich messe etwas, was sich meinem Gedächtnisse eingeprägt hat.“
„In dir also, mein Geist, messe ich meine Zeiten. Wende mir nicht ein: Wieso das? Laß dich selbst nicht irre machen durch die Scharen der Eindrücke, die du empfängst. In dir, sage ich, messe ich die Zeiten. Den Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen und der auch, nachdem sie vorübergegangen, bleibt, diesen mir gegenwärtigen Eindruck also messe ich, nicht das, was vorübergegangen ist und in dir den Eindruck hervorgerufen hat; diesen messe ich, wenn ich die Zeit messe. Entweder ist er also die Zeit, oder es ist nicht die Zeit, die ich messe. Wie nun, wenn wir das Stillschweigen messen und dann behaupten wollten, jenes Stillschweigen habe so lange gedauert, wie jene Stimme anhält? Dehnen wir da nicht unsere Gedanken nach der Dauer der Stimme, als wenn sie noch ertönte, um danach die Dauer der Stille angeben zu können?“
„Wenn jemand einen längeren Ton hervorbringen und in seinem Geiste im voraus dessen Länge bestimmen wollte, so hat er jedenfalls schon im stillen den Zeitraum bestimmt und ihn seinem Gedächtnisse übergeben; und nun fängt er an, jenen Ton hervorzubringen. Und dieser ertönt nun, bis er die festgesetzte Dauer erreicht. Oder vielmehr: er ertönte und wird ertönen. Denn was von dem Tone vollendet ist, das hat getönt, was aber noch übrig ist, das wird noch ertönen. Und so wird der Ton vollendet, indem die gegenwärtige Tätigkeit die Zukunft in die Vergangenheit überführt, indem durch die Abnahme des Zukünftigen das Vergangene immer mehr zunimmt, bis schließlich das Zukünftige gänzlich aufgezehrt und in Vergangenheit übergeführt ist.“
Das Zeitmaß ist der Geist
Aber wie kann sich die Zukunft, die doch noch nicht ist, verzehren oder erschöpfen, wie kann die Vergangenheit, die nicht mehr ist, zunehmen, wenn nicht der Geist, in dem dieses vorgeht, eine dreifache Tätigkeit ausübt? Denn er erwartet, nimmt wahr und erinnert sich, so daß das von ihm Erwartete durch seine Wahrnehmung hindurch in Erinnerung übergeht. Wer leugnet nun, daß das Zukünftige noch nicht ist? Allein die Erwartung des Zukünftigen ist bereits im Geiste. Wer leugnet, daß das Vergangene nicht mehr ist? Aber die Erinnerung an die Vergangenheit ist noch im Geiste, Wer leugnet, daß die Gegenwart der Dauer entbehrt, da sie in einem Augenblicke vorübergeht? Allein es dauert doch die Wahrnehmung; durch sie soll das, was vorläufig erst herankommen soll, Dauer in der Vergangenheit erhalten. Also ist nicht die Zukunft lang, die ja nicht ist, sondern eine lange Zukunft ist nur eine lange Erwartung der Zukunft; ebenso ist nicht die Vergangenheit lang, die nicht mehr ist, sondern eine lange Vergangenheit ist nur eine lange Erinnerung an die Vergangenheit.“
„So also ist diese meine Tätigkeit in ihrer Dauer geteilt in die Erinnerung, soweit ich es gesagt habe, und in Erwartung, soweit ich es sagen will; gegenwärtig dagegen ist meine Aufmerksamkeit, durch die das, was zukünftig war, hindurchgeht, um Vergangenheit zu werden. Je mehr nun dieses geschieht, um so mehr nimmt die Erwartung ab und die Erinnerung zu, bis die ganze Erwartung sich erschöpft, weil die ganze Handlung beendet und in Erinnerung übergegangen ist.
Und was bei dem ganzen Liede geschieht, das geschieht auch bei seinen einzelnen Abschnitten und in seinen einzelnen Silben, dasselbe auch in einer längeren Handlung, von der das Lied vielleicht nur ein Teil ist, dasselbe im ganzen Leben des Menschen, dessen Teile alle einzelnen Handlungen des Menschen sind, dasselbe schließlich mit dem Sein des ganzen Menschengeschlechtes, das sich aus den Lebenszeiten der einzelnen Menschen zusammensetzt.“
Arnold Böcklin, Die Kapelle, 1898
Aus der Zerstreuung ins Zeitliche sammeln in Gott
„Aber ‚da ja deine Barmherzigkeit besser ist als Leben‘ (Ps. 63,4), darum ist mein Leben nur eine Ausdehnung; und deine Rechte hat mich aufgenommen in meinem Herrn, dem Menschensohne, dem Mittler zwischen dir, dem Einen, und uns, den Vielen, in Vielem durch Vieles, auf daß ‚ich dich durch ihn ergreife, da ich auch von dir ergriffen bin‘ (Phil. 3,12-14), und mich von meiner Vergangenheit erhole und dem einen Ziele nachstrebe. ‚Vergessend, was da hinten ist‘, mich ausstreckend nicht nach dem, was künftig und vorübergehend ist, sondern ‚zu dem, was vor mir liegt, strebend‘, nicht ‚in Zerrissenheit, sondern in ernstlichem inneren Ringen eile ich der Palme der himmlischen Berufung zu‘, wo ‚ich hören will die Stimme deines Lobes‘ (Ps. 26,7) und ‘betrachten soll deine Wonne‘ (Ps. 27,4), die nicht kommt und nicht geht. Jetzt aber sind ‚meine Jahre Jahre des Seufzens‘ (Ps. 31,11); du, o Herr, bist mein Trost, du bist mein ewiger Vater. Ich aber bin ganz aufgegangen in der Zeit, deren Ordnung ich nicht kenne; meine Gedanken, das innerste Leben meiner Seele, zerreißen sich in stürmischem Wechsel, bis ich gereinigt in dir und geläutert durch das Feuer deiner Liebe mich in dich ergieße.“
...
„Verleihe mir, o Herr, die rechte Erkenntnis und Einsicht, ob man dich erst anrufen oder preisen, erst dich erkennen oder anrufen muß! Aber wer ruft dich an, ohne dich zu kennen? Könnte er doch leicht in seiner Unwissenheit einen anderen für dich anrufen! Oder wirst du etwa angerufen, um erkannt zu werden? ‚Wie aber soll man den anrufen, an den man nicht geglaubt? Wie aber wird man glauben ohne Prediger?' ‚Loben werden den Herrn, die ihn suchen‘. Denn wer sucht, der findet ihn, und wer ihn findet, wird ihn preisen. So will ich dich denn suchen, o Herr, indem ich dich anrufe, und dich anrufen, da ich an dich glaube; denn du bist uns verkündet worden. Dich, o Herr, ruft an mein Glaube, den du mir gegeben, den du mir eingehaucht hast durch die Menschwerdung deines Sohnes.“
„Denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir“.
aus den Confessiones, Erstes Buch
Constantin Hansen, Flöte spielender junger Mann, 1826
Augustinus starb am 28. August 430 in Hippo Regius in Numidien (heute Annaba in Algerien). Die Übersetzung der Bekenntnisse ist hier (gekürzt) entnommen.
nachgetragen am 31. August