Sonntag, 11. Februar 2024

Über einen Turm für Neustrelitz

Paradeplatz, heute Buttelplatz, mit Schloßkirche links

Teil I (den man auch auslassen kann) oder 

Über Turmgegnertricks

Wenn ein jüngerer Mensch, dessen Gestalt ich nicht nur physiognomisch eher etwas zerfließend in Erinnerung habe, mit triumphierender Miene (die seine kaum zurückhaltbare Überzeugung verriet, gleich sollte ein bombensicheres Argument den Gegner final zerstören) vorträgt: Überhaupt würden hier fast nur alte weiße Männer debattieren, bejubelt von einer Handvoll älterer weißer Damen (die den Großteil seiner durchaus überschaubaren „Peergroup“ ausmachten und wohl aus der Soziokultur überraschend hereingeschneit kamen, einer ihrer Anführer war diesmal vertreten), dann hat man zwar einen dieser neuen Menschen der Jetzt-Zeit erlebt und weiß nun, es gibt sie wirklich und nicht nur in unsäglichen Online-Medien, aber lohnt das eine Erwähnung? Nein.

Dann allerdings wurde mir ein Leserbrief, offenkundig von besagtem Akteur, vor die Füße gespült. Und so hat er das Verdienst, daß ich mich doch noch zur Kontroverse äußern werde, nämlich der um die Neubaubemühungen auf dem Neustrelitzer Schloßberg, genauer das Ringen um den Schloßturm.

Herr André Gross hat auf seinem Strelitzius Blog in bewährter Weise die 7. Schloßbergkonferenz referiert, so daß ich hier keine Lesehilfen dazu präsentieren werde. Im 7. Jahr wurde also öffentlich um das Thema gerungen, was an den Ort des verlorengegangenen Schlosses treten solle. Ich habe hier 2018 einmal meine unmaßgebliche Meinung geäußert. Es ist wahrlich nicht so, daß die Debatte erst gestern begonnen hätte. 

Bei der übergroßen Mehrheit der Teilnehmer war deutlich die Ungeduld spürbar, daß angesichts der (noch) bereitstehenden Mittel von Land und Bund endlich begonnen werden müsse und man sich nicht hinter Ausflüchten verbarrikadieren dürfe.

Beindruckt hat mich die Wortmeldung eines alten Neustrelitzers, der von seinen Urgroßeltern berichtete, die noch in der Kaiserzeit aufgewachsen wären und davon erzählten, was für eine vielbesuchte, schöne und belebte Stadt Neustrelitz vor dem letzten Krieg gewesen wäre, voll von Touristen, Cafes und Restaurants. Und diese Lebenshoffnung, daß dies nicht zu Ende sein könne, hat mich berührt und getroffen.

Postkarte des Schlosses Neustrelitz, 1912, von hier

Und um den Gegensatz geradezu körperlich spürbar werden zu lassen, doch noch einmal ein Zitat aus obenbenannter Quelle: „In Neustrelitz droht sich etwas zu wiederholen, was wir bereits aus anderen Orten und nicht zuletzt aus Berlin kennen. Hier soll ohne Rücksicht auf Verluste ein Projekt durchgepeitscht werden, hinter dem nur ein Teil der Neustrelitzer Bevölkerung steht; angespornt durch Akteure, die keinerlei lokale Verankerung haben. Selbst, wie groß dieser Teil ist, lässt sich nicht einmal zuverlässig sagen.“

Etwas Böses (was eigentlich) soll also auch in Neustrelitz „durchgepeitscht“ werden (nach vieljähriger öffentlicher Diskussion), angetrieben durch Akteure, die keinerlei lokale Verankerung haben. Wir zitieren noch einmal einen folgenden Bericht des Hern Gross: „Die Stadtvertretung Neustrelitz hat am Abend den von Bürgermeister Andreas Grund eingelegten Widerspruch zu ihrem Schlossturm-Beschluss vom 7. Dezember vergangenen Jahres... zurückgewiesen. 16 Stadtvertreter stellten sich diesmal hinter den Beschluss und damit gegen das Veto des Stadtoberhauptes, fünf schlossen sich dem Beschluss nicht an, drei enthielten sich der Stimme. Damit fiel das Abstimmungsergebnis noch deutlicher aus als bei dem ursprünglichen, von der CDU-Fraktion initiierten Beschluss pro Bauwerk auf dem Schlossberg.“ 

Keine lokale Verankerung also. Was nicht ist, wie sie sind, existiert nicht. Das Ringen um das Schloß kommt aus der Mitte der Stadt, freundschaftlich unterstützt von Persönlichkeiten wie Wilhelm von Boddien und jetzt auch der „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“.

Wilhelm von Boddien, von hier

Und jetzt taucht wie ein vagabundierender Eisberg das Demokratieargument auf: Nichts genaues weiß man nicht. Sollte man versehentlich und überraschenderweise etwa doch in der Minderheit sein, beschwört man als letzte Verteidigungslinie die Minoriätsrechte, aha. Demokratisch kann es bisher gar nicht zugegangen sein und öffentlich ist überhaupt nur, was in ihren Konventikeln geschieht.

Mir fehlt die Naivität, um dem „frommen Augenaufschlag“, den ich vor mir förmlich sehe, um dem Appell, es müsse möglich sein „im eher behaglichen Rahmen einer 22.000-Einwohner_innen-Stadt... ins Gespräch zu kommen und Lösungen zu finden, die alle mitnehmen können“, glauben zu können. Und die Lösung legen wir am besten gleich auf den St. Nimmerleinstag.

Ich erinnere noch einmal an die beiden Berichte des Herrn Gross, einmal den über die Konferenz selbst und dann den über die Stadtvertretung Neustrelitz, die den von Bürgermeister A. Grund eingelegten Widerspruch zu ihrem Schloßturm-Beschluß zurückgewiesen hatte.

Auch zu dem ersten seiner Berichte gab es, wie man dort nachlesen kann, einen Leserbrief von dem erwähnten Absender. Und daraus muß ich doch kurz zitieren. „Hier scheint mir Deine inhaltliche Schlagseite etwas zu stark zu sein.“ duzt er den Herrn Gross fröhlich an. Natürlich hat der um Ausgewogenheit bemühte Bericht eine Schlagseite: Wenn man alles nur noch von links unten zu sehen gewöhnt ist. Aber wie antwortet der so schön:

„Sehr geehrter Herr Rochow, 

eigentlich bin ich immer bemüht, keine ‚Schlagseite‘, wie Sie so nett schreiben, in meiner Berichterstattung aufkommen zu lassen. Viele meiner Leser wissen das auch zu schätzen. Sollte es tatsächlich eine ‚Schlagseite“‘in dem Beitrag geben, könnte es sein, dass diese ausnahmsweise beabsichtigt ist. Das Recht dazu dürfte mir als Blogger in jedem Fall zustehen.“

Und um ein wirklich letztes Mal den Leserbriefautor zu zitieren mit seiner wohl nicht unabsichtlichen Vagheit: „Und ob ein Turmneubau in historisierender Art wirklich in der Lage ist, die ästhetischen, identitätsstiftenden und touristischen Ansprüche, die an ihn gestellt werden, zu erfüllen, kann niemand mit Gewissheit sagen.“

Da genügt mir völlig meine eigene Gewißheit, und darüber will ich, diesmal kürzer, im nachfolgenden Teil schreiben.

Schloss Neustrelitz, daneben die Schlosskirche (koloriertes Luftbild, um 1920), von hier

Sonntag, 4. Februar 2024

Sexagesimae

Netherlands Bach Collegium, Pieter Jan Leusink (conductor), Holland Boys Choir, Bas Ramselaar (Basso), Sytse Buwalda (Alto), Nico van der Meel (Tenore) & Marjon Strijk (Soprano), von hier

„Leichtgesinnte Flattergeister“. Kantate für Soli, Chor und Orchester, BWV 181

Nr. 1: Leichtgesinnte Flattergeister. Arie (Baß); Nr. 2: O unglücksel'ger Stand verkehrter Seelen. Rezitativ (Alt); Nr. 3: Der schädlichen Dornen unendliche Zahl. Arie (Tenor); Nr. 4: Von diesen wird die Kraft erstickt. Rezitativ (Sopran); Nr. 5: Laß, Höchster, uns zu allen Zeiten. Chor

siehe auch hier  - Chor und Orchester der J. S. Bach Stiftung, Leitung - Rudolf Lutz, Miriam Feuersinger - Sopran, Alex Potter – Alt, Julius Pfeifer – Tenor, Klaus Mertens – Bass


Predigt in der Markuskirche zu Magdeburg

Weizenähren, von hier

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen

Vom Wachsen der Saat

26Und er sprach: Das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft 27und schläft und steht auf Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst, daß er's nicht weiß. 28Denn die Erde bringt von selbst zum ersten das Gras, darnach die Ähren, darnach den vollen Weizen in den Ähren. 29Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er bald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Markus 4, 26 - 29

Liebe Gemeinde,

es ist schön, dass es sich so gefügt hat, dass heute ein Text aus dem Markusevangelium zur Predigt hier in der Markuskirche aufgegeben ist. Er präzisiert noch einmal das Bild vom Sämann, wie es uns in der Evangeliumslesung vorgestellt wurde. 

Es ist ebenso sinnfällig, dass die Kirche heute am 4. Februar an Hrabanus Maurus, den großen Gelehrten und Bischof aus karolingischer Zeit, erinnert. Darum sollen einige seiner Gedanken auch in diese Predigt einfließen.

Alle drei Lesungen des Gottesdienstes thematisieren das Gericht, die Ernte oder auch die Abrechnung am Ende der Zeit. Sie sollen darum auch unser Thema sein.

Christus kleidet seine Vorstellungen vom Lauf der Welt, von der Geschichte und von unserem Glauben in Bilder, die seinen Zuhörern damals vertraut waren, weil sie ihrem täglichen Alltag und dem Lauf der Natur angehören. Die archaische bäuerische Gesellschaft hängt existentiell davon ab, dass Saat und Ernte gelingen, dass Witterung und Boden günstig sind und, dass der Fleiß des Sämanns belohnt wird. Anderenfalls drohen Hunger und Verderben. Es drohten vor allem realer Hunger und reales Verderben. Es drohte der Tod.

In dieses Erzählen hinein flechtet der Herr seine Botschaft vom Glauben. So wie das Samenkorn in die Erde fällt, so soll das Wort vom Glauben in das Herz des Menschen fallen.

Die nicht zum Acker gemachte Natur bleibt Wildnis. Sie dient dem Menschen nicht, sondern sie bedroht ihn.

reife Weizenähren, von hier

Genauso das Herz, in das kein Wort Gottes gelangt. Es bleibt ohne wahre Mitmenschlichkeit, weil es ohne Gottesverehrung nicht das andere Gottesgeschöpf in rechter Weise erkennt.

Vor Gottes Allmacht aber werden wir demütig, vor Gottes Güte werden wir dankbar, vor Gottes Ewigkeit finden wir unser menschliches Maß. Demut, Dankbarkeit und das menschliche Maß verbinden uns zu einem Gemeinwesen, das mehr ist als eine bloß funktionale Interessengemeinschaft. Es sucht nämlich nicht nur die Gemeinschaft untereinander, sondern immer auch die Gemeinschaft mit Gott. Wer daher wiederum die Gemeinschaft mit Gott nicht sucht, der gefährdet zunächst sich selbst und dann auch andere. Wo aber ein Gemeinwesen als Ganzes aufhört die Gottesfurcht zu kennen, da zerfällt es.

Christus nimmt Bezug auf die Wunder der Natur. Er nimmt Bezug darauf, dass die Erde von selbst zum ersten das Gras, darnach die Ähren und darnach den vollen Weizen in den Ähren hervorbringt. So soll auch der Mensch zuerst lernen, darnach Erkenntnis gewinnen und darnach sollen Glauben und Vertrauen wachsen, damit er das große Wunder gewahr wird, welches darin besteht, dass er seinem Schöpfer gegenübertreten kann. Die höchste Frucht des menschlichen Lebens ist nämlich die Gotteserkenntnis.

Darauf ist die ganze Schöpfung angelegt, dass sie Frucht trage und, dass sie sich in dieser Frucht verschenke und durch die Hingabe fortbestehe.

Keith Weller, USDA: "A variety of foods made from wheat." von hier

Liebe Gemeinde,

in genau diesem Zusammenhang ist die Liebe beschrieben. Hrabanus Maurus lehrt uns dazu: „Wer zum Gipfel der Weisheit gelangt, muss notwendig zur Höhe der Liebe gelangen, denn keiner ist vollkommen weise, außer der, der vollkommen liebt. Wenn also jemand … zur Fülle der Weisheit zu gelangen sucht, tut er nichts anderes, als zur Vollkommenheit der Liebe zu gelangen, und so weit er in der Erkenntnis Fortschritte macht, so sehr kommt er auch in der Liebe voran.“

Erkenntnis und Liebe, Gotteserkenntnis und Nächstenliebe sind die beiden Säulen wahren Menschseins. Daran werden wir gemessen. Mit ihnen bringen wir uns in Einklang mit dem inneren Wesen der Schöpfung, das Christus uns wieder und wieder durch das Samenkorn, die Ähre und die Ernte zu beschreiben versucht. Das in der Leben schenkenden Gemeinschaft von Mann und Frau gegeben ist und das wir im liturgisches Jahr in Übereinstimmung mit dem Lauf der Jahreszeiten immer wieder feiern und einüben.

Der Herr will, dass wir verstehen, was wir glauben und, dass wir fest glauben, was wir verstehen. Gerade in unserer Beschäftigung mit der Natur können Vernunft und Glaube zueinander finden. Sie bilden nämlich keine Gegensätze. Nichts in der Natur widerspricht Gott, weil doch alles von Gott herkommt.

Klatschmohn (Papaver rhoeas) in einem Weizenfeld (Triticum),

Wenn das Samenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein. Wenn es aber erstirbt, dann trägt es viel Frucht. Ein menschliches Leben ist kurz. Es bleibt ihm wenig Zeit, den Samen auszustreuen. Wer aber reichlich sät und dem Allmächtigen und den unbändigen Kräften der Erde Vertrauen schenkt, der kann etwas Kostbares schaffen und muss die Ernte und mit ihr auch das Gericht nicht fürchten.

Wir sollen im Vertrauen auf Gott den Samen ausstreuen und unter die Menschen bringen, was uns anvertraut ist. Die Hingabe, das Verschenken, anders gesagt die Liebe, bildet das innere Prinzip der Schöpfung, weil sie das Wesen Gottes ist. Gott ist Liebe!

Daher sind wir gerufen zu geben, weil darin bereits das Reich Gottes Wirklichkeit wird. Wir sollen unseren Samen, das heißt, von dem, was wir den Menschen und der Welt zu geben haben, reich ausstreuen. Unsere innere Haltung soll es also sein, dass alles, was wir sind und tun zur Gabe, zum Dienst und zum Geschenk wird.

An dieser Haltung sollen wir auch dann festhalten, wenn wir erleben müssen, wie Menschen der Selbstsucht das Wort reden, alles für sich behalten wollen und den Nächsten schamlos ausnutzen. Es wird ihr Leben nicht erfüllen, denn das Leben ist auf Hingabe und auf Liebe angelegt.

Die Habsucht vernichtet immer zuerst das eigene Leben und sie entgeht nicht dem Gericht, von dem wir in der Epistel gehört haben:

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.

Das Wort ist Richter. Auch darum muss es reich ausgestreut werden und alle Menschen erreichen, weil sie alle durch das Wort gerichtet werden. Der Richter und das Gericht kommen hier plötzlich auch ganz in unser gegenwärtiges Leben hinein. Sie sind nicht nur Größen, die am Ende der Zeit stehen.

Weizenfeld in der Felsőtold, Ungarn, von hier

Verständlich wird auch dieser Gedanke, wenn wir noch einmal zum Kornfeld zurückkehren. Es ist ein eindrückliches Gleichnis für unsere menschliche Gemeinschaft, denn die Halme brauchen sich gegenseitig. Der einzelne Halm würde abknicken und verderben. Seine Frucht würde nicht reifen können. Die Halme untereinander brauchen sich und das Licht der Sonne gibt ihnen die Richtung, das Wachstum, Gedeihen und Reifen.

Ist es mit uns Menschen nicht ganz ähnlich? Kein Mensch kann allein leben. Jeder braucht die Gemeinschaft. Und zugleich soll sich jeder Mensch auf Gott richten.

Wo ich auf Gott schaue, da werde ich bereits in guter Weise gerichtet. Das sei mein Gericht, dass ich meinem Schöpfer ganz und gar vertraue und mit meinem Leben Frucht bringe, so wie das Getreide, dass zu Mehl zermahlen und zum Brot gebacken unsere Speise wird auf unserem Weg.

Es lässt immer wieder staunen, wie tief verwoben das Brot, das Sakrament und unser Glaube miteinander sind.

Mit dem Sonntag Sexagesimae beginnt die Vorfastenzeit. Bis zum Lichtmesstag, der am Freitag begangen wurde, haben wir liturgisch auf die Krippe des Herrn zurückgeblickt. Von heute an blicken wir wieder voraus auf das Kreuz. Das Kreuz gibt unserem Leben die Richtung vor. Das Kreuz ist in gewisser Weise auch der Richterstuhl Christi, denn, es wird uns die Möglichkeit geschenkt, nach dem Blick auch unser ganzes Leben auf den gekreuzigten Herrn zu richten und im Glauben an ihn für die Welt fruchtbar zu werden.

Tragt Frucht und streut das Wort Gottes aus. Es wird nicht leer zurückkehren.

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn.

Amen.

Thomas Roloff


Bild von hier

nachgetragen am 5. Februar

Sonntag, 31. Dezember 2023

Aufgelesenes zum Jahresende

Nicolás Gómez Dávila, Notas

"Welche Geheimnisse hatten wir gehütet, wie wir uns einbildeten. Es ging lediglich darum, uns selbst gegenüber ehrlich, unserem reinsten Wesen treu zu sein, um erhabene Vortrefflichkeit zu erreichen. Doch es kommt der Tag mit winterlichem Licht, da wir unsere skeletthafte Nacktheit betrachten, den elenden Menschen, der wir sind, entdecken und den Abstand zwischen der Größe, von der wir träumten, und der dürftigen Armseligkeit unseres Menschseins ermessen."

"Was soll ich dann tun, wenn alles, was mich fasziniert, sich mir entzieht oder mich zurückweist, wenn alles, was ich unternehmen könnte, mich langweilt und abstößt? Wie soll ich gleichwohl leben, wenn ich mich ganz der Aufgabe widme, lediglich zu leben? Wie soll ich meine Tage verbringen, wenn ich wie ein weidendes Tier die  Stirn dem Augenblick zuneige, den nahen Winter und das ihn einhüllende reine Licht vergesse?"

"Maßloser Ehrgeiz findet entweder seinen Höhepunkt in öder Unfruchtbarkeit oder ist nur die ängstliche Tarnung der Ohnmacht. Ein übermäßigs Verlangen bereitet eine theatralische und bequeme Entschuldigung für unser Scheitern vor. "

"Die schlimmsten Sünden sind nicht jene, die wir gegen die Gesellschaft begehen. Sträflich ist nur, was den höchsten Begriff des Menschsein in uns herabsetzt."

"Der letzte Lebensgrund: der Drang zu verstehen.

Ein geheimes dauerhaftes Verlangen."

"Gewiß schaffen wir die Ideen nicht selbst, und ihre Entstehung hängt auch nicht von unseren Wünschen ab; die Ideen wählen gewiß uns..., doch ohne unsere Mitwirkung geben uns die Götter nur eine vage Unrast, eine grüblerische Unruhe, ein wankelmütiges Nichteinverständnis.

Die Idee erscheint uns nicht als eine grundlose und plötzliche Offenbarung... Unsere  Seelen müssen sich schweigend vorbereiten und im Dunkeln das Aufblitzen der Ideen belauern."

mehr von Nicolás Gómez Dávila hier und hier, wie auch hier


Vaclav Havel 1990 in Oslo über die Anatomie des Hasses 

Vaclav Havel, Washington D.C. National press club May 13, 1997, © John Mathew Smith 2001, von hier

"Haß scheint mir immer der Ausdruck.... eines gewissermaßen dauerhauft unerfüllten und eigentlich unerfüllbaren Wollens, einer verzweifelten Ambition." 

"Im Unterbewußtsein der Hassenden schlummert ein perverses Gefühl, daß sie die wahren Besitzer der ganzen Wahrheit sind, und somit auch so etwas wie Übermenschen oder sogar Götter, und deshalb haben sie Anspruch auf rückhaltlose Anerkennung, auf Nachgiebigkeit und Loyalität, wenn nicht gar auf blinden Gehorsam. Sie wollen der Mittelpunkt der Welt sein und sind permanent frustriert und gereizt, weil die Welt sie nicht als ihren Mittelpunkt annimmt und anerkennt." 

Hassende Menschen wollten das Unerreichbare und verzehrten sich unaufhörlich wegen der Unmöglichkeit, es zu erreichen; der Grund sei die niederträchtige Welt, die sie daran hindere.

„Den Grund für seinen metaphysischen Mißerfolg sieht der hassende Mensch niemals in sich selbst und in seiner totalen Selbstüberschätzung. Der Schuldige ist abstrakt, ungewiß und nicht zu fassen. Er muß personifiziert werden, denn der Haß - als durchaus konkretes Aufbäumen der Seele - braucht auch ein konkretes Opfer.“

„Er haßt nicht einen konkreten Menschen als solchen, sondern das, was dieser Mensch darstellt: eine Kollektion von Hindernissen auf seinem Weg zum Absoluten, zur absoluten Anerkennung, zur absoluten Macht, zur totalen Identifikation mit Gott, der Wahrheit, der Weltordnung.“ 


Beim mißbilligenden Lesen eines Kirchenvaters

Giorgio Vasari: Die Versuchung des Hl. Hieronymus, zwischen 1541 und 1548, von hier

Gott hat diese Welt nicht nur geschaffen, sondern er hat sich in sie inkarniert, um sie wieder zurecht zu bringen, nachdem sie von ihm und so recht eigentlich von sich abgefallen war, und damit alle Tore zu Selbstzerstörung geöffnet hatte. Diese Welt ist also derart wichtig, daß es zweifelhaft erscheint, Jungfrauen anzuspornen, die Weitergabe des Lebens zu verweigern, da sie so bereits in der himmlischen Seligkeit wohnen würden.

Antoon van Dyck (oder Schüler): St. Hieronymus, von hier


Zeit-"Genossenschaft"

Die gegenwärtigen Kirchen in dem, was vom Abendland noch übriggeblieben ist, suchen die Nähe, die Nähe zum Vorherrschenden, zum sog. Zeitgeist, nein, sie lehnen sich nicht bloß an ihn an, sie eilen zur Spitze, wollen die Vorhut sein, und stürmen, feindliche Blicke an alles Widerständige oder Überkommene aussendend voran. Allenfalls blicken sie gelegentlich ängstlich zurück, ob die Hauptmasse nicht vielleicht anders abgebogen ist und sie nun auf einmal ganz allein dastünden. Buchstäblich.

Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste, rechter Innenflügel (Hölle), zwischen 1480 u. 1505, von hier

Wirklichkeit ist ein rechtes Vorurteil und das Ausbleiben des vollkommenen Menschheitszustands eine weitere perfide Verschwörung. 

Das Progressive ist eine Art von aggressiv fortschreitender Bewußtseinsstörung. Es existiert, um zu verfolgen.

Im Umgang mit Menschen wird die Wirkmächtigkeit von Vernunft meist überschätzt. Es ist etwa ein hilf- und sinnloses Unterfangen, jemandem mit Vernunftgründen kommen zu wollen, der Wahrheit für ein repressives Konstrukt hält.

Kultur bedarf einer gewissen Anstrengungsbereitschaft. 

Der Widerwille gegen das Wiederzurückholen von Verlorenem und böswillig Zerstörtem ist der Haß gegen die Heilung.


Moses Mendelssohn in Sanssouci

Lessing und Johann Caspar Lavater zu Gast bei Moses Mendelssohn, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (1856), von hier

Der kursächsische Staatsminister Freiherr von Fritsch zu Moses Mendelssohn am 30. September 1771 in Sanssouci, wohin Friedrich II. den "berühmten Juden" befohlen hatte: Es sei ihm unbegreiflich, wie ein so klarer philosophischer Kopf sich nicht zum Christentum bekehrt habe. Worauf dieser anwortete: "Ah se verseihe ihre Exsellenz, was soll ich creditiern dem Sohn, as der Vater noch lebt?

Es ist nicht sicher, ob sich der Philosoph auch hier tatsächlich des "jüdischen Dialects" bediente. Wenn die Situation es hergab, hat er es offenkundig gern getan, so zuvor gegenüber dem diensthabenden Ofizier am Potsdamer Brandenburger Tor, der wissen wollte, "na, wodurch 's er denn berühmt? maliziös erwiderte : "As se verseihn, Herr Offizier, as ich doch spiel aus der Tasch!"

Johann Michael Siegfried Lowe, nach Daniel Chodowiecki: Moses Mendelssohns Examen am Berliner Thor zu Potzdam, 1771, von hier

(hier irrt der Künstler insofern, als diese Szene sich so am Brandenburger Tor zutrug, am Berliner Tor war der Offizier gewissermaßen ein Fan und betrug sich entsprechend)

nachgetragen am 31. Januar 2024

Donnerstag, 30. November 2023

Eine frühe Androhung von Winter

 




... hier schon Gestalt gewinnend, am folgenden Tag dann näher ausgeführt, wie auch an den noch mehr nachfolgenden.





nachgetragen am 9. Dezember

Sonntag, 5. November 2023

Es gibt kein Recht zum Bösen - eine Predigt


Herr Roloff hat an einem 5. November die nachfolgend angeführte Predigt gehalten, die zufällig mit meinem 60. Geburtstag zusammenfiel. 

Spätestens jetzt sollte ich wenige Worte dazu tun.

Ich war ungefähr die letzten 2 Monate hier absent, ohne daß ich eine brauchbare Erklärung vorschieben könnte; außer vielleicht einer gewissen körperlichen Erschöpfung, so daß die Kraft meist nur für einen halben Tag reichte. 

Einmal schreibe ich eher selten morgens um sieben, und zum andern kommt man sich, denke ich, zurecht lächerlich vor, wenn man bedeutsame Gedanken abliefern will und sich kaum selbst zusammenbekommt. 

Aber auch das war offenkundig nur eine Phase. Wir erwarten also ruhig und vorbereitet die nächste. Jetzt aber noch nicht. Es folgt Herr Roloff mit seinen Worten über die Sünde, das Böse und das Leben. Ach so: Dieses ist der zweite Nachtrag. Nettere Bilder gab es hier.

Paolo Veronese, The Conversion of Mary Magdalene, ca. 1548 

Predigt zum 22. Sonntag nach Trinitatis 2023 in der Kreuzgemeinde von Magdeburg

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Absage an die Welt

Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich schreibe euch Jünglingen; denn ihr habt den Bösewicht überwunden. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennet den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich habe euch Jünglingen geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden.

1Joh 2, 12-14

Liebe Gemeinde,

Johannes spricht in seinen Briefen eine Sprache der Liebe und Zugewandtheit. In allem, was er sagt, wird auch das Thema des heutigen Sonntags deutlich unterstrichen: Bei dir ist Vergebung!

Die Sünden sind euch vergeben. Das ist die große Botschaft der Kirche. 

Alle Sünde, jegliche Gottesferne und auch die tiefste Verlorenheit können geheilt und überwunden werden. In der Gemeinschaft mit Christus ist es dann, als wären sie nie gewesen.

Maria Magdalena, der Zöllner Zachäus, der Zweifler Thomas auch Petrus, der ihn verleugnet hat, und Paulus, der ein Verfolger der Kirche war, sie alle stiegen zu Heiligen auf. Ihre Sünde wurde vergeben, ihre Schuld wurde gelöscht.

Das ist die große Botschaft der Kirche, dass die Vergebung nicht aufhört und immer ein Neuanfang, eine Umkehr, dass Buße möglich ist. Dieses Wort Gottes bleibt bei uns, wie es bei den Vätern geblieben ist. Es ist das Fundament unseres Glaubens. Das ist aber auch der unverwechselbare Realismus der Kirche, der uns klar erkennen lässt, wie mächtig die Sünde, wie groß die Versuchung und wie bedrängend die Gefahr ist, in der wir stehen.

Und gerade darum muss aber Sünde immer als Sünde benannt werden. Es muss das Böse als Gefahr und die Gottesferne als Verhängnis unmissverständlich bezeichnet werden. Auch das ist die Aufgabe unserer christlichen Verkündigung.

Nur wenn ich den Bösewicht kenne, dann kann ich ihn überwinden, wie es in unserem Predigttext heißt.

Bösewicht ist in unseren Ohren vielleicht inzwischen ein viel zu niedliches Wort geworden für das, was hier gemeint ist. Es geht um die reale Existenz des abgrundtief Bösen in unserer Welt. Es geht um die Macht, die uns von Gott und damit vom Leben trennen will. Es geht um die Macht, die lauter gute Absichten und Verführungen ausspricht und doch das genaue Gegenteil erreichen will.

Oft kommt diese Macht ganz schleichend daher. Sie bedient sich derselben Bilder, wie auch die gute Verkündigung es tut. So lobt auch sie etwa Maria Magdalena und stellt sie uns geradezu als beispielhafte Frau hin. Sie verurteilt hingegen streng die Männer, die mit Steinen in der Hand zu ihrer Hinrichtung herangeeilt waren. Christus heißt das Handeln Maria Magdalenas aber keineswegs gut. Vielmehr entlässt er sie mit der Ermahnung „sündige hinfort nicht mehr“. Die Männer wiederum werden nur insofern in die Schranken gewiesen, dass sie zunächst immer der eigenen Sünde gedenken sollen, bevor sie über die Sünden der anderen urteilen.

Aus dem Geschenk der Vergebung erwächst nämlich kein Recht zur Sünde. Maria Magdalena wird vom Herrn nicht gesagt, es war richtig, was du getan hast. Der Bruder, dem sieben mal siebzig Mal vergeben wird, erwirbt dadurch doch keinen Anspruch darauf, das 491. Mal zu sündigen.

Die Vergebung macht doch unsere Sünden nicht weniger verwerflich und vor allem der schleichende Konsens der modernen Gesellschaft hebt das Gebot Gottes nicht auf. Vielmehr ruft er uns in Erinnerung, wie wichtig es ist, dass die Kirche der Stein des Anstoßes in unserer Zeit bleibt.

Angelo Visconti, The Massacre of the Innocents, 1860 / 61, von hier

Die Kirche muss mit ihrer Verkündigung Stein des Anstoßes sein und darf sich niemals in die Rolle locken lassen, scheinbar eingetretene Realitäten zu bemänteln. Denn dann ebnet sie dem Bösewicht die Bahn. Gerade ihn sollen wir doch aber überwinden. Wir sollen stark sein, dem Wort Gottes vertrauen und uns in seinem Namen die Sünde vergeben lassen.

Wer von Ihnen hätte es für möglich gehalten, dass es einmal Ausdruck von Beharrungsvermögen sein würde, an dem Satz festzuhalten: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, und er schuf sie als Mann und Frau?

Darin spricht sich die Absicht des Schöpfers aus, dass der Mensch das Leben dadurch weiterschenken soll, indem sich Mann und Frau zueinander und zu Gott in Beziehung setzen. Johannes schreibt den Vätern und erinnert die Kinder an den einen Vater, durch den das ganze Menschengeschlecht zu Geschwistern wird.

Gott als Vater und die Folge von Vätern, Müttern und Kindern erinnert uns daran, dass wir Menschen in Generationen leben, und das ist der entscheidende Grund, warum die Generationenfolge und das Leben an sich unter dem strengen Schutz der Gebote stehen. Du sollst Vater und Mutter ehren und du sollst nicht töten!

Es kann kein anderes Recht geben, das gegen diese Gebote steht. Durch die Debatten unserer Zeit über das Beenden von Schwangerschaften und über die Sterbehilfe und noch mehr durch die inzwischen ganz alltäglich gewordene Praxis, werden wir daran erinnert, wie dramatisch schwer und belastend damit im Zusammenhang stehende Entscheidung zuweilen sein können und wie sehr sie Menschen an Grenzen führen. Jeder von uns weiß, wie oft das in die Tragödie führt und jede Hilfe, Beratung und auch soziale Leistungen die Tragödie nicht abzuwenden vermögen.

Alles das darf uns doch aber nicht in das falsche Denken führen, als gäbe es ein Recht darauf, die Tragödie anzurichten, denn damit wird das Böse entfesselt und alle Maßstäbe, an denen wir Menschen Orientierung fanden, werden verkehrt.

Guido Reni, The Massacre of the Innocents, 1611, von hier

Darum ist es so wichtig, dass wir als Sünde benennen, was eine Sünde ist, dass wir als Tragödie kennzeichnen, was im Ergebnis eine furchtbare Tragödie ist.

Und das wir niemals die Hand reichen zu Regelungen, mit denen die Behauptung aufgestellt wird, es gäbe ein Recht darauf, die Schutzlosesten und Schwächsten zu töten.

Wo christliche Kirche sich durch Gottes Wort leiten lässt, da muss sie dem immer und klar widersprechen. Wo wir in dieser Frage die ökumenische Gemeinschaft, wie sie beispielsweise in der „Woche für das Leben“ zum Ausdruck kam, gedankenlos aufgeben, da gefährden wir den innersten Kern dessen, was christliche Ethik ausmacht.

Ja, „bei dir ist Vergebung“, so schreibt der Psalmist, um fortzusetzen: „dass man dicht fürchte“.

Unsere Welt braucht eine neue Gottesfurcht. Aus dem Erschrecken vor Gottes Klarheit, kann Glauben wachsen. Gottes Wort, sein Gebot sollen uns Leitschnur sein und nicht verbogene und in sich unwahrhaftige Formeln, mit denen man sich dem Zeitgeist anbiedert. Lasst nicht das Böse wieder mächtig werden, nachdem uns die Vergebung zugesprochen wurde, denn die Vergebung ist Gottes letztes Wort. Nur wer sich von ihr abwendet, der geht verloren.

Ich habe euch das Wort des Johannes gepredigt; denn ihr kennt den, der von Anfang ist.

Ich habe euch gepredigt; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt bei euch, und ihr habt den Bösewicht überwunden. Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle eure Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn.

Amen

Thomas Roloff

nachgetragen am 7. Dezember

Sonntag, 22. Oktober 2023

Die letzten Kampfspiele - eine Oktobererinnerung

 



Die Stille zuvor




Es gibt sie noch, die wehrfähig wie willige Jugend.


Eine Veranstaltung im Neustrelitzer Slawendorf, gewissermaßen als Memorialversammlung, um den 21. Oktober herum...





… als ausgeübte Erinnerung daran gewissermaßen, wie es war, als man sich seiner noch zu erwehren wußte.

nachgetragen am 6. Dezember

Samstag, 16. September 2023

Beobachtungen in Bad Doberan

Doberan 1845, aus „Meklenburg in Bildern“, von Georg Christian Friedrich Lisch, Rostock: J. G. Tiedemann'sche Hof-Steindruckerei, von hier

Bad Doberan ist im Kern eine Kleinstadt unweit von Rostock. Die Straßen sind recht eng, eher Gassen, die an pittoresken kleinen alten Häusern entlang ihren Weg suchen. Dafür hat sie durchaus auch andere Gebäude, etwa solche, die mecklenburgische Baugewohnheiten herrschaftlich-klassizistisch steigern wollen. Bad Doberan war einmal Mecklenburg-Schwerin'sche Sommerresidenz.

Unweit liegt Heiligendamm, das älteste kontinentaleuropäische Seebad von 1793 (so ungefähr lautet, glaube ich, der einzufügende Textbaustein), und zur Stadt gehört das Münster, Grabstätte mecklenburgischer Fürsten und einstmals die imposante Mitte des größten Klosters des Landes.


Eigentlich hat das Kloster den Ort erschaffen und natürlich mit der Gründung von Heiligendamm Großherzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg(-Schwerin), samt seinen Vorgängern, die ihn zum regelmäßigen Sommeraufenthalt erwählten. Ein oft skurriles Gemisch im Ergebnis. Nennen wir es Charakter.



Eine wahre und tatsächliche Attraktion ist die Bäderbahn Molli, eine immer noch dampfbetriebene Schmalspurbahn, die in der Stadt mitten durch die Menschen fährt und von Bad Doberan über Heiligendamm nach Kühlungsborn führt. 

Es ist schier unglaublich, aber wenn sie an einem entlang unter ständigem Warnklingeln schnauft, glaubt man auf dem engen Bürgersteig, seine Arme von der gerade vorhandenen Häuserwand bis zu den sich vorbeimühenden Waggons strecken zu können. Man tut es natürlich nicht. 



Ausgerechnet vor dem Haus Gottesfrieden ergab sich eine mitteilenswerte Beobachtung: Ein recht älterer Herr stapfte, irgendwie die Außenwelt nahezu völlig ignorierend, sehr wenige Meter vor der Lok über die Schienen. Der junge Lokführer löste geistesgegenwärtig eine Notbremsung aus, die den Zug weniger als einen Meter vor der Ursache zum Halten brachte, wenn sie denn nicht völlig teilnahmslos weiter getrottet wäre. 

Sollte der alte Mann hier seinen Gottesfrieden gesucht haben, der andere hatte ihn gerade darum gebracht. Er schrie ihm noch aufgebracht und erfolglos irgendetwas hinter. Durch diesen Nothalt und die daraus folgende längere Zwangspause konnte ich mich ein wenig über die Situation aufklären lassen und kam zu meinen Bildern.

Mit manchem rechnet man einfach nicht: An einer Straße tanzt ein oberkörperentblößter Mann entweder die Autos an oder die Sonne oder Unerkennbares:  Seine schweißnassen Arme rhythmisch-ekstatisch entgegenstreckend oder seinen Oberkörper. Als ich deutlich später dort erneut vorbeikam, tat er es immer noch. Eine offenkundige Freakshow. War es nur ein schräger Vogel, stand er unter Drogen oder war einfach psychisch auffällig. Der natürliche Instinkt lautet: Bloß weiter und weg. 

Doch ich sprach ihn an: In seiner Wasserflasche sei wohl kaum nur Selters. Er nahm mich wahr, entstöpselte das eine Ohr, hörte auf, sich zu bewegen und hatte meine Bemerkung wohl gar nicht verstanden. Erst jetzt merkte ich, daß er die ganze Zeit allenfalls von Musik berauscht worden sein konnte, denn er antwortet in völligem Kontrast zu seiner Erscheinung. Ich kann nicht genau erinnern, was er feiern wollte, das Leben, die Freude daran oder was immer. 

Er berichtete, die einen Vorbeikommenden würden ihn belustigt begrüßen, andere für unter Drogen stehend halten etc. Ich bestätigte ihm freimütig für mich letzteres, bat um ein Bild und er wünschte mir gute Besserung. Ich gehe nämlich gegenwärtig am Stock und warte darauf, im hiesigen Moorbad bald ersäuft zu werden. 

Es ist übrigens nicht immer dasselbe Bild, nur die gleiche Kamerapose. So kann man sich das vorherige Körperdrama kaum annähernd vorstellen. Später erfuhr ich von einer Einheimischen, er tue das wohl jeden Tag an verschiedenen Orten. Er sei nicht doof, habe nur diesen Tick. Nein, war er nicht. Hätte ich das Geschehene und die Erscheinung ausblenden können, hätte ich ihn für einen völlig verständigen und sympathischen Menschen gehalten, obwohl, eigentlich tue ich das trotzdem, irgendwie. Wie täuschend doch der Augenschein sein kann. Schon verwirrend diese Nachkommen Adams und Evas.

nachgetragen am 17. September