Samstag, 26. September 2020

Von Gräsern &

Alfred Sisley, Meadow (La Prairie), 1875

Eduard Stucken

Schwermut


Durch die Graswiese zieht

Well' auf Welle im Wind

und verebbt wie ein Lied,

das erjauchzend zerrinnt.


Wie ein Lied, das vergaß,

daß die Graberde schwer...

All die Blumen im Gras

sind wie Perlen im Meer.


Und ich lustwandle hier -

(bald gemäht ist das Heu!) -

und die Schwermut folgt mir

wie ein Hund getreu.

August Friedrich Overbeck, Buchweizenfelder am Weyerberg,
etwa 1897, hier gefunden

Friedrich Georg Jünger

Im Grase


Wer sich ins Gras legt,

Wer lang liegt, für den ist

Zeit und Mühn nichts.

Wer liegt, der vergißt.


Was sich um ihn bewegt,

Wenn er liegt,

Bewegt ihn sanft mit.

Er wird gewiegt.


Ihn verläßt, ihn flieht

Zahl und Zeit.

Er entrinnt, ihm verrinnt

Lust und Leid.


Weise wird er, still

Wie das Gras, das grüne Moos.

Er bettet sich tief

In der Himmlischen Schoß.


Der Wind kommt und geht.

Die Wolke zieht.

Der Falter schwebt. Der Bach

Murmelt sein Lied.


Halm und Laub

Zittern und flüstern leis.

Wasser und Wind

Gehen im Kreis.


Was kommt, geht. Was geht, kommt

In der Wiederkehr Gang.

In der Himmlischen Bahn

Wird die Welt Tanz, wird Gesang.

Franz von Lenbach, Hirtenknabe, 1860, hier gefunden


Kurze Nachbemerkung

Meine Mangelbildung enthüllend, muß ich gestehen, daß mir beide Dichter bis vor kurzem unbekannt waren. Einem Hinweis folgend, für den ich dankbar bin, hatte ich mich zuerst auf die Suche nach dem „jüngeren Jünger“ gemacht und stieß dabei zugleich auf den Herrn Stucken unter der Rubrik „Hundert notwendige Gedichte“ auf dem Blog „Le Penseur“. Dort begegnet einem vielerlei, aber hier will ich nur auf das eingehen, was die beiden obigen Dichter betrifft. 

Den Text von „Schwermut“ habe ich zwar woanders gefunden, aber der Autor, Eduard Stucken, wird dort mit seinem bekanntesten Roman „Die weißen Götter“ vorgestellt und seine Person als die eines „in den 1920er-Jahren zu Weltbekanntheit aufgestiegenen deutschen Kulturhistorikers, Ethnologen und Sprachwissenschaftlers“ etc. Jedes weitere Wort von mir wäre frisch angelesen und daher müßig. 

Hier werden seine "Fähigkeit zu virtuoser Reimtechnik und subtil berauschenden Wortkaskaden" gerühmt, die "sich mit einer Gedankentiefe" verbinde, wie sie "in der Literatur jener Zeit nur selten anzutreffen" gewesen wäre. Und in diesem Beitrag wird eines seiner beherrschenden Themen ausgemacht - das „Verhältnis von (scheinbarer) Realität und (vermeintlichem) Traum“. Lesenswert.

Und so man auch noch jenem Hinweis, zu Friedrich Georg Jünger, folgt, findet man nicht nur das obige Gedicht, sondern u.a. das Urteil „Zeitlebens ein wenig im Schatten des älteren und ‚prominenteren‘ Bruders Ernst stehend (mit dem ihn stets eine neidlose, enge Beziehung verband), hat er doch einige der schönsten Gedichte der deutschen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen.“

Albrecht Dürer, Das große Rasenstück, 1503, hier gefunden

Warum ich gerade diese beiden Texte ausgewählt habe. Nun beide haben diese zeitlose Gelöstheit, die rasch mit Leichtigkeit verwechselt werden könnte. Sicher, anderes auch. Aber wollen wirklich mit Versuchen in Tiefsinn ermüden? Jedenfalls nicht an einem so gleichmäßig verregneten Tag.

Johann Wilhelm Schirmer,  Meeresbrandung mit fernen Schiffen

beendet am 27. September

Sonntag, 20. September 2020

Von der Kuppel des Grauens

Christus Pantokrator, Potsdam, Friedenskirche, hier gefunden 

Vorbemerkung, die auch ausgelassen werden kann

Dieser Ort sollte ja dem Wahren, Guten und Schönen vorbehalten sein, und nicht dem Tage, wenn der in allzu offenem Widerspruch dazu steht. Das ist mir in den letzten Monaten schwergefallen, daher schwieg ich eher, wie leicht zu ersehen. Die Ausnahme, Fragen des Glaubens. Wo man innerlich schon mit 1 ½ Füßen in der Ewigkeit steht, will man sich‘s nicht auch da noch verderben.

Zuletzt geschah dies bei Pf. Latzel im Mai (Kirchenkampf in Bremen). Zunächst wäre nachzutragen, daß der wegen Volksverhetzung angeklagte Bremer inzwischen seinen Dienst vorläufig wieder aufnehmen durfte. Die Bremische Evangelische Kirche ließ weiter verlauten, er habe sich nach einem Dienstgespräch in einer Vereinbarung "zu einer Mäßigung im Rahmen seines Verkündigungsauftrags verpflichtet".

Das heißt wahrscheinlich, er wird einiges auslassen müssen, z. B. 1. Korinther 6,9f., oder will er denen etwa das Himmelreich vorenthalten (an das sowieso niemand mehr glaubt). Nein, die erst recht, alles andere wäre Diskriminierung und Haß.

Aber wer glaubt, derlei ließe sich nicht steigern, doch läßt es. Im Grunde ist es nur eine Art „Burgfrieden“. Der nächste Akt des Dramas ist bereits entworfen. Denn das Amtsgericht Bremen hat die Anklage wegen Volksverhetzung gegen Pf. Latzel zur Hauptverhandlung zugelassen. Wohl am 20. November wird verhandelt.

Wer dem Irrsinn unbedingt „ins Gesicht schauen“ will (und ein wirklich robustes Gemüt hat), der sehe sich diesen Beitrag des Lokalmagazins „buten un binnen“ von Radio Bremen an. Man kann den Ton wegstellen und nur die Physiognomien lesen, man kann aber auch Herrn Bernd Klingbeil-Jahr von der Bremer Friedensgemeinde zuhören, wie er von einem „Mischfeld aus christlichen Fundamentalisten und Faschisten“ spricht. „Aus diesem Milieu heraus, aus diesem braunen Mob“ würden „Aktionen geplant und durchgeführt, die diese Gesellschaft verändern“ (ab etwa 2.00 Min). 

Man kann aber auch in die letzte Predigt von Pf. Latzel in der St.-Martini-Gemeinde hineinhören. 

hier gefunden

Doch auf nach Berlin. Da ist es auch schön.


Die Kuppel, das Kreuz und eine Inschrift

Berliner Schloß (Humboldt Forum), September 2020, hier gefunden 

Teile der Kirchen im alten Europa und als „Speerspitze“ die evangelische Kirche in Deutschland erinnern an jemanden, der eine alte Sammlung religiöser Kunst zu kuratieren hätte und dem Besucher mit einem Augenzwinkern erklärte, man müsse natürlich gewisse Rücksichten auf traditionsverhaftete Besucher nehmen.

Aber man erwarte von ihnen sicher nicht die gleiche naive Herangehensweise. Die kommode Stimmung würde sofort zerstieben, erklärte dieser, doch, doch, seine eigene Haltung gegenüber jenen Kunstwerken sei durchaus nicht so sehr fern von diesen traditionell geprägten Verehrern. 

Das war die freundlichere Deutung. 

Die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses ruft in Menschen meiner Art mit sich kämpfende Gefühle hervor. 

Die Freude über das Wiedergewinnen von Schönheit und Erinnerung und Genugtuung  über einen weiteren Schritt der so vehement bekämpften Heilung. Andererseits das Wissen darum, was sich hinter dieser Oberfläche verbirgt. Doch siehe da, selbst die vermag eine gewisse Abteilung Mensch aus dem Häuschen zu bringen.

Denn ein Geschrei erhob sich aus der Unterwelt, als Ende Mai nicht nur das durch eine private Spende ermöglichte Kuppelkreuz seinen alten Platz zurückgewann, sondern darunter auch noch eine blasphemische Inschrift sichtbar wurde, deren Bestehen vorher irgendwie untergegangen war:

„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ 

Dahinter stehen 2 Verse aus Apostelgeschichte 4, 12 und Philipper 2, 10, die König Friedrich Wilhelm IV. zu einer Inschrift zusammenstellte - 34 Zentimeter hohe, goldene Lettern auf einem den Tambour unterhalb der Kuppel umlaufenden blauen Band.

Schon auf dem Barockbau war eine Kuppel vorgesehen, zu der es aber nicht kam. Erst Friedrich Wilhelm IV. beauftragte Friedrich August Stüler (seit 1842 „Architekt des Königs) mit der Ausführung (bis 1853), statt einer profanen Kuppel wollte dieser König allerdings seine Schloßkapelle unter derselben. Wer sich über die Baugeschichte, nebst beigefügter Interpretation, näher informieren will, mag dazu diesem Artikel folgen: „Alfred Hagemann - Symbolpolitik. Die Kuppel Friedrich Wilhelms IV. für das Berliner Schloss, 25. Mai 2020“) 

Zum Innenraum gibt es dort Interessantes zu lesen, vorher muß man allerdings die Darstellung der Motivlage des königlichen Bauherrn durcheilen. Aber da der (der Innenraum, nicht der König) selbstredend nicht wiederhergestellt wird, müssen zwei Bilder genügen.


Schloßkapelle unter der Kuppel, um 1900, hier gefunden

Doch auch die Gestalt des Außenbaus gab der Ikonographie des Schlosses eine weitere, christliche Dimension. Auf den Ecken des Kuppelunterbaus alttestamentarischer Propheten, auf den Portalen christliche Tugenden, als oberer Abschluß der Kuppel eine von Engeln getrage Laterne. „Die Laterne wiederum wurde von einem 4,70 Meter hohen vergoldeten Kreuz bekrönt. Die neue Höhendominante des Schlosses war also nicht durch weltliche Zeichen der Monarchie ausgezeichnet, sondern durch Zeichen des Glaubens und der Herrschaft Gottes“ (nachzulesen ebenda). Das Schriftband erwähnten wir bereits.

Wir wollen mit einem freundlichen Bild diesen Abschnitt beenden. Es ist zwar teilweise mehr eine Phantasie, aber eine schöne.

Hermann Ziller, 1886, hier gefunden


Ein Zeichen, dem widersprochen wird

Nikolaj Nikolajewitsch Ge, Quid est veritas? 1890

hier gefunden

In der Logik, wenn es um Logik ginge, sollte es liegen, zu sagen: Das ist alles Dekoration, Oberfläche, das geht uns lange nichts mehr an. Wenn es um Logik ginge, im Geisterwehen dieser Zeit.

Ich habe mit dem vorigen Satz vorausgesetzt, daß es allgemein bekannt sei, welch heftige Debatten es um diese Kuppelrekonstruktion gab, genauer, um das Kreuz darauf. Übrigens steckt in der Überschrift schon wieder ein Bibelzitat (Lukas 2.34).

Simeon war ein gottesfürchtiger Mann, der auf den „Trost Israels“ wartete, und ihm war prophezeit worden, er würde nicht sterben, bevor er ihn sähe. Und von diesem Simeon heißt es, als er der allerseligsten Jungfau und des noch kindlichen Erlösers im Tempel angesichtig wurde:

Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.

So: Nichts Neues unter der Sonne, seit 2000 Jahren.

Jedenfalls fast. Es gibt möglicherweise einen neuen psychologischen Typos. Sagen wir es hilfsweise so, eine Fusion des Skeptizismus eines Pilatus und des aggressiven Machtzynismus eines Hohenpriesters. Ich spreche natürlich nicht von konkreten Menschen, sondern von religiöser Typologie. Eine neue Käfermutation gewissermaßen.

Und zu diesem Typos passend ein neuer Kult. Doch bevor ich den kurz bezeichne, ein wenig Anschauungsmaterial.

Ein Filmkritiker von der FAZ etwa brandmarkte das Kuppelkreuz als eine „Insignie der Intoleranz“ und, Goethe zitierend, nicht nur „vor deinem Jammerkreuz, blutrünstiger Christe“ sondern  unter der Verkündigungsformel eines absoluten christlichen Herrschaftsanspruchs würden künftig die Besucher an einen Ort strömen, der sich der Gleichwertigkeit aller Kulturen und Religionen und der Aufhebung des eurozentristischen Weltbildes verschrieben habe. Denn das Kuppelkreuz auf dem Berliner Schloß sei lediglich eine Machtgeste des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. gewesen.

Ich mutmaße, ein Bild dieser Art spukte da durch seinen Geist:

Marc-Charles-Gabriel Gleyre, Romans Under the Yoke, 1858

 hier gefunden

„Insignie der Intoleranz“, das ist die aktuelle Formel dessen, was früher Gotteslästerung hieß.

Aber dazu wollen wir am Schluß (der bald kommen muß) noch etwas sagen. Erst einmal, auf der Kuppel thront kein preußischer Adler, sondern ein Kreuz, das ist etwas anderes, mag aber jemandem, der hier nur noch in säkularen Machtkategorien zu denken vermag, egal sein, ist es aber nicht. 

Daß die Formel „Von Gottes Gnaden“ ein Selbstverständnis zum Ausdruck bringt, das auch eine Demutshaltung einschließt, ist mutwillig oder aus Unwissen so fremd geworden, daß man es nicht mit wenigen Worten erklären kann. 

Ein Erklärungsbemühen wäre zudem müßig, dennoch will ich es einmal in einem anderen Beitrag versuchen. Eine Ahnung mag dieses Mosaik geben. Es befindet sich über dem Eingangsportal in die Hagia Sophia, das allein dem oströmischen Kaiser vorbehalten war.

Konstantinopel, Hagia Sophia, Kaiserportal, hier gefunden

Wir wollen noch von einem Kritiker zu einem Akteur wechseln und auch den hören. Zumal es wunderbar anschließt.

Der Bischof einer Kirche mit einem unaussprechlichen Namen (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz – EKBO), die sich auch einfach Kirche in Preußen hätte nennen können (aber allein bei dem Gedanken sieht man die Perlen des Angstschweißes auf der Stirn), dieser Herr Christian Stäblein also hatte jüngst das Kuppelkreuz immerhin verteidigt, sozusagen. 

Es sei vor allem Verpflichtung. Das zentrale christliche Symbol habe viel Mißbrauch in seiner Geschichte überstehen müssen, stehe aber für Hingabe, Vergebung und Versöhnung, "nicht Dominanz und Herrschaft".

Darum sei das Spruchband darunter auch so verwerflich: "Intolerante Exklusivitätsansprüche sind - auch als historische Zitate - gefährlich und brauchen Gegenbilder", so der Bischof.  Das geplante "House of One" - ein gemeinsames Haus für die Religionen werde ein solches Gegenbild sein. 

Ich hatte oben schon erwähnt, woher diese „historischen Zitate“ stammen. Das ganze Neue Testament ist voll davon. Wir wollen als ein weiteres Beispiel nach Apostelgeschichte 4, 12 und Philipper 2, 10 nur Johannes 14,6 in Erinnerung rufen:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich höre hinter dieser gravitätischen Sprachkulisse von intoleranten historischen Exklusivitätsansprüchen eine Art „Pühh“ heraus, auch bekannt als „ist mir doch egal“.

Vermutlich muß man den eigenen Verein längst als große NGO oder derartiges ansehen, um nicht zu verstehen, daß es um den gar nicht geht. Es wird wenig helfen, einen Text in Erinnerung zu rufen, der noch nicht ganz so historisch ist

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Barmer Bekenntnis vom 31. Mai 1934

Noch einmal über das Wahre, Gute, Schöne

Wir sind Zeugen eines neuen Kultes, dessen Fetisch – Wörter vor allem dazu gedacht sind zu verschleiern. Das zum ersten. All diese Namen bedeuten letztlich etwas ganz anderes, und darum wäre es abwegig, sich von ihnen verwirren zu lassen. Es ist ein Kult, der sich gegen die Ideen stellt, die Plato vor langer Zeit als erster beschrieben hat, die Grundstruktur einer sinnhaften Welt.

Das Wahre: Wie fragt Pilatus unseren Herrn so bezeichnend - „Quid est veritas?“. „Was ist Wahrheit?“„Toleranz“ und „Respekt“ sind die neuen Zauberwörter und bedeuten doch eigentlich als Kampfbegriff nur: Wer bestimmte Überzeugungen als Wahrheit ansieht und nicht zugleich der Meinung ist, daß es auch viele andere, gern sich widersprechende Wahrheiten geben kann, oder auch gar keine, der ist respektlos gegenüber anderen Überzeugungen und natürlich intolerant und damit bereits als Gegner markiert.

Das Gute: Diese Stelle wird von einer Reihe von Wieselwörtern eingenommen -  „Diversity“, „Inklusion“, Vielfalt, bunt. Dahinter steht einmal die Annahme, daß es im Guten keine vertikalen Unterschiede gibt, im Horizontalen es aber nicht genug davon geben kann, je vielfältiger, man könnte auch sagen zerteilter, eine Gesellschaft, um so besser für sie. Die andere Annahme - der Mensch ist von Natur aus gut und gewissermaßen omipotent, durch nichts außer seiner selbst gebunden. „Emanzipation“ enthüllt als anthroplogische Maßlosigkeit. Und man ist natürlich nur von den Umständen darin gebremst, sich gegen die zu wenden, die diese Interpretation des Guten nicht teilen.

Das Schöne. In jedem gewonnenen Augenblick von Schönheit wohnt die Präsenz des Ewigen. Die Schöpfung ist als eine schöne geschaffen. Rekonstruktion von Schönem ist zugleich Heilung und Wiedergewinnen von Erinnerung. Eine Erinnerung aber, die nicht dem neuen Kult dient, ist bedeutungslos oder, schlimmer noch, gefährlich. So gewinnen die vielfachen Auslöschungsbemühungen auf einmal ihren Sinn. Und einen klaren Sinn bekommen auch diese hochemotionalisierten Reaktionen darauf, wenn etwas Altes und Schönes wiederhergestellt wird. Obwohl es doch Oberfläche, abgetan und ohne tiefere Bedeutung sein soll. Da es so wie die Wahrheit gar keine Schönheit mehr gäbe. 

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie viel lebendiger diese alten und abgetanen Kulissen doch sind als die hochgeschäumten Aufgeregtheiten des Zeitgeistes in ihrer Sterilität, dann zeigen dies die Kämpfe um das Kreuz auf dem Berliner Schloß. Und das Schöne, das hinzutritt, die Jünger und Kämpfer des neuen Kultes merken es auch.

Max Klinger, Christus im Olymp, 1897

beendet am 22. September

Samstag, 5. September 2020

Dürer; Ritter, Tod und Teufel

hier gefunden 

Bann - Spruch


Ausgetrocknete Gedanken

Winden um die Seele sich,

Krümmen sie gleich Schattenranken,

Die hochgierten aus den kranken

Gründen, wohin niedersanken

Lebenslose knochenblanken

Ungestalten fürchterlich.


Übelwesen, Ungestalten,

Die sich in das Innre krallten,

Sollen hinfort nimmer walten,

Lebensbaum, so recke dich!

Streck und sprenge alle alten,

Falschen Fesseln, die dir galten,

Leb aus Gründen, wohlbehalten,

Tiefer, stärker, wunderlich.


Nein, das ist nicht aus einer Anthologie drittklassiger Dichter des vorvorigen Jahrhunderts. Wir haben es aus Gründen ein wenig in die jüngere Vergangenheit verschoben. Man betrachte es mit einer gewissen Mischung aus Ironie und Ernsthaftigkeit, wobei erstere überwog.

nachgetragen am 13. September

Mittwoch, 2. September 2020

150 Jahre Sedan

Wilhelm Camphausen, Bismarck geleitet Napoleon III. am Morgen nach der Schlacht von Sedan zu Wilhelm I., 1877, hier gefunden

Vom heutigen Tag aus betrachtet, ist '45 die leere Mitte zwischen uns und Sedan.

An dem einen Ende die Erinnerung, am anderen die Wirrnis (der Irrsinn) der Gegenwart, dazwischen die Auslöschung. Sedan ist nahezu völlig ins Vergessen versunken. Der eine oder andere „Journalist“ (oder Schlimmere) mögen sich daran vielleicht noch abarbeiten. Gewissermaßen als Loyalitätsprobe. 

Wilhelm Camphausen,  Bismarck vor Paris, 1873, hier gefunden

„Bismarck, dieser im Grunde primitive Corpsstudent“ habe das neue Deutsche Reich geschaffen, „trotz eines modernen Wahlrechts, trotz Wirtschaftsbooms und Sozialgesetzgebung“ ein „Hort der Reaktion“ und „Herd der Unruhe“ schreibt ein Bube in seinem Stück, und stolpert dabei mehrfach über die Logik, aber kognitive Dissonanz gehört ja seit jeher zur linken seelischen Grundausstattung. Es darf bezweifelt werden, daß er jemals einen Satz original bei Bismarck gelesen oder, wenn doch, dann verstanden hat.

Wilhelm Camphausen, Bismarck und Napoleon III. am 2. September 1870 nach der Schlacht von Sedan in Donchery, 1878, hier gefunden

Da halten wir uns lieber an Herrn K.: „Das Kaiserreich war die Epoche, in der Deutschland eine wirtschaftliche, wissenschaftliche und auch eine späte kulturelle Blütezeit erlebte, neben der“ das Heutige „wie ein grotesker Gnom“ wirke. „Die deutsche Chemie-Industrie beispielsweise... war der restlichen Welt weiland so weit voraus, dass die Entente zu den im Krieg erbeuteten Chemie-Patenten die deutschen Ingenieure nachkaufen musste, um sie überhaupt zu verstehen.“ Und abgesehen vom  technisch wissenschaftlichen Fortschritt war es wahrscheinlich die liberalste Epoche deutscher Geschichte.

Frankfurt a. M., Goetheplatz mit dem Hotel zum Schwan, 25-jährige Jubiläumsfeier des Sedantags, 2. September 1895, hier gefunden

Könnte man die Zeit ein wenig zurückdrehen, wäre heute ein hoher Feiertag, eher ein allgemeines Volksfest. Wir folgen noch einmal dem Grafen Krockow, der, selbst Haffner zitierend, folgendes vortrug:

„Symbole sagen oft mehr als Begriffe, und das Symbol des Bismarck-Reiches war der Sedantag, der an die Kapitulation der französischen Armee bei Sedan samt Kaiser Napoleon vor der preußisch-deutschen im Jahre 1870 erinnerte. Sebastian Haffner hat in einer schönen Betrachtung noch aus eigenem Erleben diesen Tag, diesen Symboltag des Bismarck-Reiches, folgendermaßen beschrieben:

‚Der Sedantag war ein rundes halbes Jahrhundert lang der deutsche Nationalfeiertag, mit Paraden, Beflaggung, Schulfeiern, patriotischen Reden und allgemeinen Hochgefühlen. Und zwar war es, muß man wahrheitsgemäß und mit einiger Beschämung sagen, der einzige wirklich effektive Nationalfeiertag, den die Deutschen gehabt haben. Was nachher an seine Stelle trat..., das war alles nichts Rechtes mehr: halt ein freier Tag und ein paar Weihestunden und Reden, die keinen sonderlich interessierten. Aber der 2. September, der Sedantag, mein Gott, da war wirklich noch was los! Das war eine Stimmung – ich finde für die heutige Zeit keinen anderen Vergleich - als ob die deutsche Nationalmannschaft die Fußballweltmeisterschaft gewonnen hätte, und zwar jedes Jahr aufs neue.‘“

Kriegerdenkmal in Magdeburg, errichtet 1877, Detail Büste Helmuth von Moltke, hier gefunden

Wie ich dort schon einmal erwähnte, hat Deutschland seine modische Neigung etwas ungewöhnlich ausgelebt. Während sich anderenorts Kleidung, Musikgeschmack etc. im Jahreswechsel änderten, hat man in Deutschland über die letzten 118 Jahre Staatsform, Fahnen, Grenzen, Nationalfeiertag, Hymnen usw. regelmäßig gewechselt. 

Aus unerfindlichen Gründen haben wir aber nun aber diese Anhänglichkeit, schon seit Kindesbeinen, an eben dieses lang Vergangene. Da sitzen wir nun also am Sedan-Tag und gedenken unseres verschollenen Vaterlandes. Was hätte es für ein großartiges Jahrhundert werden können...

Aber um noch einmal einen vorigen Text zu zitieren: "Unsere Vorfahren waren leider in gewisser Weise so naiv, Begriffe wie 'Ritterlichkeit' noch ernst zu nehmen, vielleicht waren sie einfach zu jung im Geschäft...

Zudem konnte man sich nicht mehr vorstellen, daß es das wirklich Böse in diesem höchst-kultivierten Europa noch geben könne. Nun ging die Zeit über sie hinweg. Und anschließend mußte so eine noch größere Lüge über die vorige gestülpt werden, um die erste zu verbergen (Versailles)..."

So "gedenken wir also heute eines Etwas, dem wir noch immer angehören. Wir waren aus der Zeit gefallen, wohl von Geburt an. Darum müssen wir auch nicht so sehr der Gegenwart anhängen. Aber trauern dürfen wir..."


Ob sonst noch, fast hätte ich gesagt im Reich, des Sedantages im Ursprungssinne gedacht wurde, erscheint fraglich. Jedenfalls in Magdeburg, im Schatten des Doms, in dem mit Otto I. der erste deutsche Kaiser begraben liegt, geschah es (davon zeugt obiges Bild).

Und um dem Ganzen einen freundlicheren Übergang zu verschaffen, bringen wir im Anschluß einen Bericht von besagtem Sedantag aus der Sicht unserer beschaulichen Residenz. 

Ratzeburger Dom, Großherzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg (-Strelitz) und Augusta Caroline von Cambridge, hier gefunden

Aus den Jugenderinnerungen von Karl Nahmmacher

Über das Sedanfest im Allgemeinen und seine spezielle Bedeutung in Neustrelitz z. Z. des Großherzogs Friedrich Wilhelm

"Die Krone aller Feste: das Sedanfest. Es steht deswegen in meiner Erinnerung am höchsten angeschrieben, weil wir Jungens unendlich viel Spaß dabei hatten und weil es als das volkstümlichste Fest von allen Schichten der Bevölkerung mit gleicher Teilnahme begangen wurde."

"...der Sedantag war das eigentliche echte 'ohne Kommando' entstandene Nationalfest im alten Deutschland, gefeiert in der Erinnerung an die Waffentat, die die deutschen Stämme zur Einheit geschmiedet und die Reichsgründung gesichert hatte. Und dieser Tag wurde hier in Neustrelitz mit solcher Begeisterung festlich begangen, wie sie nirgends sonst im Reich größer sein konnte. Ich betone das, weil wir Mecklenburg -Strelitzer damals nicht überall als gute Patrioten galten. Unser Ruhm von 1813 her, wo der Herzog mit der Aufstellung der 'C-Husaren' als erster neben den König von Preußen trat, war verblaßt. Der alte Großherzog war seiner politischen Gesinnung nach infolge seiner nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zum hannoverschen Königshause und durch die Verbindung mit einer englischen Prinzessin Welfe.“

Ich fürchte, nicht einmal in Niedersachsen ist der Begriff „Welfe“ heute noch sehr geläufig und warum betont er das Patriotische der Strelitzer. Ein kurzer Einschub scheint notwendig. Die Welfen sind eine der ältesten europäischen Hochadelsfamilien. Der Zweig, der das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg  regierte, erlangte 1714 sogar den britischen Königsthron (bis 1837 bestand die Herrschaft in Personalunion mit dem inzwischen zum Königreich Hannover emporgestiegenen Kurfürstentum, bei der Thronbesteigung von Königin Viktoria fiel Hannover an ihren Onkel, den Herzog von Cumberland, nunmehr König Ernst August I.). Im  preußisch-österreichischer Krieg von 1866 stand der König von Hannover auf der Verliererseite und sein Königreich wurde preußische Provinz.

Augusta Karoline von Cambridge, hier gefunden

Der oben erwähnte alte Großherzog hieß Friedrich Wilhelm. Er regierte Mecklenburg-Strelitz von 1860 bis 1904. Seine Gattin war Augusta Karoline von Cambridge, Prinzessin von Großbritannien, Irland und Hannover, als Tochter des Vizekönigs von Hannover Adolphus Frederick, 1. Duke of Cambridge verlebte sie Kindheit und Jugend in Hannover. Sie galt als sehr resolut und einflußstark. Daß unter diesen Voraussetzungen das Verhältnis zu Preußen eher angespannt war, verwundert nicht unbedingt. Es wurde nicht besser dadurch, daß man im Krieg von 1866, obwohl offiziell verbündet, die eigenen Truppen solange zurückhielt, bis sie nicht mehr zum Einsatz kamen. Doch endlich zurück zu Herrn Nahmmacher. Dieser betont entscheiden:

„Wir… waren für unser Teil so gut deutsch gesinnt wie nur irgend einer. Und auch die ganze Bevölkerung teilte die politischen Ansichten des Fürsten nicht.“ Er merkt an, daß dieser sie nach außen hin auch nicht gezeigt habe, ganz im Gegensatz zur Großherzogin Augusta Karoline:

„So hat sie an Moltkes 90. Geburtstag, 1890, als der Pastor vom Dienst es wagte, in seiner Predigt auch in der Schloßkirche daran zu erinnern, lebhaft ihrem Unwillen Ausdruck gegeben, zunächst sofort, und dem Missetäter dies auch später nie verziehen.“

Der Vorabend des Sedanfestes

Man fing "in Neustrelitz schon am Abend des ersten mit einer Vorfeier an, einem pompösen Fackelzug, der für viele vielleicht das Schönste an der ganzen Sache war, erstens seiner selbst wegen und dann wegen seines Anhängsels, eines großen Kommerses. Am Zuge nahmen alle Schulen teil, und die Primaner 'chargierten' dabei, das heißt, sie, und ebenso der Fahnenträger und andere, die einen Ehrenposten bekleideten, traten in studentischem Wichs auf, im Frack und Schärpe, mit langen Stiefeln, Stulpenhandschuhen und Rapieren. Die ‚langen Stiefel‘ wurden allerdings meist in Gestalt von Wachstuchschäften aus dem Theater entliehen, während der ‚Fackelzugfrack‘ sich oft von einem Jahrgang auf den anderen vererbte, sofern er nicht in Geldnot beim Trödler Kootz versetzt wurde, der freilich, wenn jemand mit diesem fragwürdigen Kleidungsstück angerückt kam, zunächst immer entsetzt abwinkte: 'Nä! hew noch söß to hängen!' -

Die Gestalten und das Auftreten dieser Chargierten konnten wir als 'lütte Setter' nicht genug bewundern, und jeder hegte den heimlichen Wunsch auch einmal so einherstolzieren zu können." Es seien richtige Pechfackeln vom Seilermeister Günther verwendet worden. 

"Angetreten wurde in der Alle bei der Gasanstalt, dann ging der Zug durch die Hauptstraßen. Beide Reihen der Fackelträger marschierten auf den äußersten Kopfsteinen. Ein Eindringen Unbeteiligter oder ein Durchschreiten des Zuges wurde nicht geduldet." In solchen Fällen gaben die Kleineren Alarm.

"Es kam auch vor, daß Lehrlinge - das waren unsere Hauptgegner - die Fackeln hochzuschlagen suchten." "Bedränglich wurde die Sache meist im Rietpietschengang, wenn der Zug von der Tiergartenstraße zur Strelitzer einbog. Hier war an der einen Seite ein ganz hoch liegender Fußsteig, auf dem sich dann die Mitmarschierenden stauten. Da kam es dann wohl mal zu kleineren Reibereien, aber es verlief alles friedlich, weil die heutige Parteiverbissenheit noch nicht die Gemüter erhitzt hatte. 

Neustrelitz, Marktplatz, 1919, hier gefunden

Auf dem Markt wurden die Fackeln zusammengeworfen – vor der Töpferstraße -  und bei dem lodernden Brand hielt dann der erste Chargierte seine Ansprache, die mit einem 'Gaudeamus igitur" ausklang, begleitet vom Geklirr der gekreuzten Rapiere."

Um die Bedeutung des Wortes Kommers noch schnell zu erläutern, es ist ein in festen Formen gehaltenes studentisches Besäufnis. „Und so war denn auch der zweite Teil, der Kommers, durchaus in akademischen Formen gehalten, d.h. man trank nach studentischem ‚Komment‘, und das war nicht wenig. Es war der Tag, an dem die Sekundaner sozusagen zu Männern geschlagen oder vielmehr getrunken wurden." 

Wenn sonst auch das "Kneipen" den Jüngeren streng verboten war, bei wenigen Gelegenheiten, wie eben hier, war es unter "Beisein und Mitwirkung der Lehrer" zugelassen, ja gar geboten. Am Morgen gab es dann die entsprechenden bleichen Gesichter.

Da kamen also Fackelzug und Initiationsritus zusammen. Kein Wunder, daß das beeindruckte.

Das eigentliche Fest – der 2. September

"Am Morgen des 2. September war große Reveille, ausgeführt von den vereinigten Spielleuten der Schulen. Merkwürdigerweise beteiligte sich die Garnison, nach meiner Erinnerung, an dem ganzen Fest überhaupt nicht. Obgleich der Anlaß ein kriegerischer war, war der Hauptgedanke der Feier völlig ins Zivile hinübergeschaltet: Freude über das geeinte Vaterland.

Nach der Feier in der Schule - unvergeßlich ist mir, wie der alte Schmidt einmal die freudige Erregung in der Stadt bei Eintreffen der Siegesnachricht 1870 schilderte; er war Meister der freien Rede - und nach Überwindung des Katers, oft unter Beihilfe von 'Männing Schulz' oder 'Vadding Nehls' - Zierker Straße - und nach glücklicher Absolvierung des Mittagessens mit allerhand peinlichen Erkundigungen nach dem Verlauf des Abends und dem an ihm vertilgten Quantum ging es zum Antreten zum Festzuge. 

Neustrelitz, Marktplatz mit Stadtkirche, ca. 1900, hier gefunden 

Das war nun der eigentliche Hauptpunkt aller Veranstaltungen. Sämtliche Vereine, Korporationen, die Schützengilde, Schulen usw. beteiligten sich daran. Von ihren Häusern oder Sammelplätzen rückten alle einzelnen Gruppen geschlossen mit Musik zum Markt, um von da in feierlichem Zuge zum Schützenhaus zu marschieren, wo die ganze Festversammlung auf dem freien Platz Aufstellung nahm." Es folgte die Festrede.

"Während sich die Teilnehmer des Festzuges rangierten, stand schon, mit gezücktem Zylinder, der Festredner oben auf dem Balkon, in sinnige Betrachtung seiner Kopfbedeckung versunken und des großen Augenblicks harrend, wo Stille eintrat und die Menge des Volkes in gewaltigen Worten auf die historische Bedeutung des Tages hingewiesen wurde."

Der Autor macht nun einige launige Bemerkungen über die Festredner, etwa daß in dem Zylinder, der so eingehend betrachtet wurde, der Text der Rede lag. Die letzte wollen wir ausführlich zitieren:

"Eine große Überraschung war es für uns, als die Garnitur altgewohnter Redner einmal aufgefrischt wurde und der spätere Südwestafrikaner Max Schmidt, der hier junger Hilfsprediger war, auf dem Balkon erschien. Er hatte offenbar das Bestreben, mit dem alten zopfigen Ton zu brechen, und wollte seine Ansprache auch dadurch etwas lebhafter gestalten, daß er an wichtigen Stellen die Begeisterung zu entflammen suchte, indem er mitten hinein in seinen Vortrag herausfordernde Fragen warf, auf die die Versammlung ein Ja oder Nein schmettern sollte. 

Wir Schüler waren aber 'intellektuell zu sehr verbildet' und dachten: aha! das sind wohl die 'rhetorischen Fragen‘, von denen wir in der lateinischen Grammatik gehört haben,  ‚auf die keine  Antwort erwartet wird'. Und bei den Erwachsenen hatte er nicht mit der Langsamkeit und Zähigkeit der Mecklenburger gerechnet, die das nicht so schnell erfaßten, so daß die paar antwortenden Stimmen nur kümmerlich wirkten und er schleunigst zu gewohnten Methoden zurückkehrte.“

Man dürfe aus diesen Schilderungen nicht folgern, daß die Festreden wirkungslos geblieben wären. Nur blieben komische Eindrücke gerade bei jungen Menschen länger haften. "Man stand doch immer unter dem Eindruck eines großen Erlebnisses. Wenn ich rückblickend etwas an diesen Reden kritisieren sollte, so wäre es das, daß wir zwar auf die Großtaten unserer Väter hingewiesen wurden, daß wir uns aber zu sehr in der Sicherheit des Siegers wiegten.“

Man hätte an jedem Sedantage die Reichstagsrede Moltkes vom 16. Februar 1874 zur ersten Lesung des Reichsmilitärgesetzes wieder verlesen sollen. Der Autor zitiert aus dieser dann länger. Wir wollen den Schluß des Zitats bringen: "Ein großes, weltgeschichtliches Ereignis, wie die Wiederauferrichtung des Deutschen Reiches, vollzieht sich kaum in einer kurzen Spanne Zeit. Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird. Darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: wir haben seit unsern glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen'. -

Wir aber wuchsen auf in dem Gefühl: uns kann kein Mensch was. Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Einjähriger [also beim Militärdienst] zum ersten Mal in meinem Leben von dem Gedanken förmlich überrannt wurde, als ich mir vorstellte, die Landkarte von Deutschland könne noch einmal wieder anders aussehen.

Nach der Festrede, und nur dann erklang das ‚Deutschland, Deutschland über alles!‘.“

Darauf rückte die ganze Gesellschaft auf den Festplatz zu den Schau- und anderen Buden. "Die Schulen schossen für gewöhnlich, um der Bedeutung des Tages Rechnung zu tragen, mit Armbrust oder Luftgewehr um Preise, für die vorher gesammelt war. Nur die Realschule machte ein Schauturnen.

Den Schluß des Festes bildete abends, etwas abseits vom Festplatz das Abbrennen eine Holzstoßes, dessen Spitze eine Teertonnee krönte; dazu ein Feuerwerk.“ Mit erneuter Rede und dem Absingen patriotischer Lieder, wie etwa der „Wacht am Rhein“.

hier gefunden

Und sein Schlußresumé.

"Von diesem Tage aber ging wirklich eine belebende Wirkung auf uns aus Es war ein Fest, wie es das Deutsche Reich in seiner republikanischen Zeit noch nicht wieder hervorzuzaubern vermocht hat. Ein deutsches Nationalfest werden wir erst wieder haben, wenn das deutsche Volk eine große gemeinsame Leistung vollbracht hat, deren segensreiche Wirkung jeder spürt. Gefühle lassen sich nicht kommandieren. Der Sedantag gab uns das erhebende Gefühl Glieder einer mächtigen Volksgemeinschaft zu sein, und das ist die Grundlage aller wahren Staatsbürgergesinnung.“

Und ganz am Ende macht der Herr Nahmmacher, für ihn in dieser Schrift eher untypisch, auch noch eine recht politische Bemerkung, die wir des Zeitgeistes wegen nicht vorenthalten wollen.

„Und es ist einfach nicht wahr und wird durch häufige Wiederholung nicht richtiger, wenn heute von gewissen Kreisen immer so getan wird, als hätten im alten Vorkriegs-Deutschland sich alle Klassen verständnislos und wie Kampfhähne gegenübergestanden. Das ist erst später so geworden, als die politische Verhetzung immer mehr um sich griff. Aber es ging auch da nicht bis aufs Mark, sondern alle Deutschen fühlten sich einig im Falle der Gefahr. Dafür ist der beste Beweis die Stimmung zu Anfang des großen Krieges und der Schwur, den auch die Sozialdemokratischen Führer - damals die äußerste Linke -  dem Kaiser in die Hand ablegten: auszuhalten bis zum letzten Hauch von Mann und Roß! - Sie haben ihn nicht gehalten. ---

Karl Nahmmacher, Neustrelitz vor 50 Jahren, Jugenderinnerungen (Januar 1933)

Neustrelitz, Marktplatz mit Rathaus, ca. 1900, hier gefunden

beendet am 5. September