Einführung ins Thema
1. Von Fahnen
Hans Bohrdt: "Der letzte Mann" (Ansichtskarte/Reproduktion, das Gemälde ist seit 1916 verschollen), hier gefunden
„Reichskriegsflaggen“ (genauer die des Norddeutschen Bundes von 1867 durchgehend bis zu denen des Deutschen Reiches 1935, ab da sind sie es sowieso) müßten verboten werden. So forderte es eine Juristenvereinigung. Sie stünden für „Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Demokratieverachtung“.
Auch die Innenministerkonferenz wollte seit Dezember 2020 geprüft wissen, inwieweit "ein gesetzliches Verbot des provokativen Zeigens von Reichsflaggen, Reichskriegsflaggen und ähnlichen Symbolen" ins Strafgesetzbuch Eingang finden könne.
Bundesinnen- und Justizministerium antworteten nun besagtem Verein, ein Mustererlaß für Polizei und Ordnungsbehörden zum Umgang mit dem öffentlichen Zeigen der Fahnen sei "zielführender als eine Erweiterung strafrechtlicher Tatbestände". Dieser solle den Ländern rechtssicher ermöglichen, über das Versammlungsrecht das Zeigen von Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen zu unterbinden. Also kein Strafrecht, sondern Polizeirecht. Das ist ja auch ein beweglicheres Instrument.
2. Vom besten Deutschland, das es je gab
„Das Größere Wappen Sr. Majestät des Deutschen Kaisers“,
"Ja, wir leben heute im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat." So sprach unser Volks- ach, was rede ich, unser Bevölkerungspräsident auf dem Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam am 3. Oktober 2020. Und da ein Gegenstand um so heller strahlt, wenn man zugleich auf das düstere Gegenbild weisen kann, hatte er es glücklicherweise auch zur Hand – das zweite Kaiserreich von 1871.
"Die nationale Einheit 1871 wurde erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus."
Das ist so. Man hätte Napoleon III. durch gutes Zureden und Verhandlungen dazu bringen müssen, von seinen imperialen Ambitionen, die sich mit deutscher Einheit nicht vertrugen, abzukommen. Welches Recht hatten die Deutschen schließlich auf ihre Einheit? Haben nicht auch die Italiener ihre Einigungskriege erst geführt nachdem die Deutschen, als ihre Nachbarn, zuvor ihr Placet gaben?
Gustav Heinemann habe beim 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches, stellte sein Nachfolger anläßlich des 150. Jahrestages fest, keinen Grund zur Feier einer Reichsgründung gesehen, „die ein Jahrhundert zuvor wohl für die Herstellung der äußeren Einheit Deutschlands gesorgt hatte, aber weder für die innere Einheit und Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger noch für äußeren Frieden."
Und überhaupt (wir sind wieder am 3. Oktober): "Wie grundsätzlich verschieden war 1871 von 1990. Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich auch nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‚Reichsfeinde‘, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt, Frauen von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen."
Daß selbst Juden eingesperrt wurden, weiß schließlich jedermann. Und alle zivilisierten Völker, wenn man das noch so sagen darf, hatten schließlich das Frauenwahlrecht, außer der Schweiz, da hat es bis 1990 gedauert, bis der letzte Kanton dazu gezwungen wurde.
Nach einer nationalen Feier der Reichsgründung (wir sind zurück zur Ansprache zum 18. Januar) verlange daher heute niemand. "Wir Deutschen stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche.“ Sie seien zwar etwa in Berlin zwar im Stadtbild präsent, entfalteten aber „keine prägende Kraft".
Unsere Perspektive auf diese Epoche deutscher Geschichte sei gebrochen, „schon durch die Kriege, mit denen die Einheit erzwungen wurde, vor allem aber durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Einen ungetrübten Blick zurück auf das Kaiserreich, vorbei an Völkermord, an zwei Weltkriegen und einer von ihren Feinden zerstörten Republik, gibt es nicht und kann es nicht geben."
Die Bundesrepublik Deutschland stehe zwar in Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Tradition des Kaiserreichs. Das Bürgerliche Gesetzbuch ebenso wie die Bismarckschen Sozialgesetze wirkten in den Grundstrukturen bis in die Gegenwart fort, allerdings hätten sich zahlreiche Schichten von notwendigen Anpassungen darübergelegt.
Ein Grundfehler des Kaiserreichs habe in der fehlenden parlamentarischen Regierung gelegen: "Aber diese Parlamentarier gewannen Größe vor allem in Opposition zur Regierung, denn die Übernahme von Regierungsverantwortung war ihnen verwehrt. In Bismarcks Welt kontrollierte die Regierung das Parlament und nicht das Parlament die Regierung."
Auch das Budgetrecht des Parlaments, samt der sonstigen Gesetzgebung gilt da nicht als Einwand.
Und schließlich „ragte mit der sozialen Bedeutung des Militärs und seines Offizierskorps, besonders aber mit der alleinigen Kommandogewalt des preußischen Königs ein Stück Absolutismus in die Gegenwart des Kaiserreichs."
Und wenn es in der spanischen Verfassung in Artikel 62 heißt: „Dem König obliegt es..., den Oberbefehl über die Streitkräfte auszuüben“, dann ist das sicherlich ein Überbleibsel aus der franquistischen Ära.
3. Vom Säubern
Der Bundespräsident ließ auch die positiven Seiten des Kaiserreichs nicht unerwähnt.
"Tatsächlich entfaltete ja die lange ersehnte und zuvor gescheiterte Reichseinigung, wie Bismarck sie schließlich im Sinne Preußens erzwungen hatte, eine beeindruckende Dynamik – die Revolution von oben begünstigte Fortschritte in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur.“
Wie das? Aus dem Süden kommt in Gestalt eines Herrn Käppner die Aufklärung ("Des Kaisers alte Kleider. Das Wilhelminische Reich war nicht besser als sein Ruf. Im Gegenteil." von Joachim Käppner, Süddeutsche Zeitung vom 17. März 2021)
Zunächst: Ohne das Kaiserreich wäre das Dritte Reich undenkbar gewesen. Fast alles von jenem Bösen, sei schon unter Wilhelm II. angelegt gewesen. Aber auch, wenn man das Kaiserreich nur für sich und nicht als Hinführung zur NS-Diktatur ansehe, bestehe wenig Grund, seinen Ruf retten zu wollen.
"Ja, es gab Gutes darin: den Parlamentarismus, die Frauenbewegung, die Selbstbehauptung der Arbeiterschaft, den Aufschwung von Kultur, Literatur, Wissenschaft, die neue Urbanität (Berlin, so 1892 Mark Twain, 'ist die modernste Stadt, die ich je gesehen habe') aber das meiste davon entstand trotz des erdrückenden Gesellschaftssystems und nicht seinetwegen, gewiss ist es nicht dessen Verdienst."
Die Möglichkeit einer friedlichen Evolution des Kaiserreichs zu einer Demokratie habe es niemals gegeben. "Dieses System war nicht fähig zur Reform, weil es sich als Gegenentwurf zur Freiheit verstand."
Und dann habe die SPD 1918 den Todfehler begangen, die alten Eliten zu belassen, "im Interesse der Legitimität, was ehrenwert, aber eine folgenreiche Illusion war. Mit den Führungsschichten eines Unrechtsstaates ließ sich keine Demokratie aufbauen." Das alte System hätte "gründlicher ausgefegt" werden müssen. Vermutlich so:
„Genosse Lenin säubert die Erde vom Unrat“ - Viktor Nikolajewitsch Denisow, 1920
wird fortgesetzt