Sonntag, 30. Juli 2023

Zum 125. Todestag Otto von Bismarcks

Franz von Lenbach, Fürst Otto von Bismarck, 1895, von hier

Zum 125. Todestag Otto von Bismarcks richtete der Altmärkische Heimatbund eine Veranstaltung auf Schloß Döbbelin aus (ein paar der beigefügten Bilder geben von dem Ort einen Eindruck), das einem Mitglied der Familie Bismarck gehört, Alexander von Bismarck. 

Ob es sonst noch nennenswerte Gedenkveranstaltungen in dem besten aller Deutschlands gegeben hat, weiß ich nicht. Von seiten des Auswärtigen Amtes jedenfalls offenkundig nicht. Aber die dort gegenwärtig Bestimmenden sind ja auch hinreichend mit Ausradierungs- und Umschreibungsarbeiten an der politischen und kulturellen Tiefenerinnerung dieses „Volkes“ ausgelastet.

Otto von Bismarck hat unter widrigsten und schwierigsten Umständen, die Deutschland förmlich anzuziehen scheint, etwas unerwartet immer noch Dauerndes und Gutes geschaffen, was ihm die Anhänglichkeit von Generationen gewann. Und was die vernachlässigenswerten anderen ihn andauernd so hassen läßt.

Daß dieser Nachtrag so auffallend spät ausfällt, erlaubt mir, auf zwei regionale Artikel zu verweisen, die erfreulich zu lesen sind. Dem einen durfte ich entnehmen,daß der Zeitgeist-Mob nun auch durch die Kantinen stürmt. 

„‘Die Zeiten ändern sich.‘ Mit dieser Aussage verbannte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Februar 2023 den Bismarckhering von der Speisekarte der Kantine im Auswärtigen Amt.“ Diese „Anekdote“, vorgetragen von Prof. Konrad Breitenborn durfte ich dem einen Artikel entnehmen. Aber was diese geschichtswissens-unbefleckten Gestalten nicht ahnen, weil sie gar nicht wissen wollen, selbst wenn sie es denn könnten: Die Zeiten ändern sich ständig.

Es gibt dort auch ein Bild der Vorgetragen-Habenden. Rührend ist dieser andere Artikel, in dem u.a. ein Getreuer aus dem Geburtsort Bismarcks, nämlich Schönhausen, auftaucht, der einstige Wehrleiter Karl-Heinz Pick, 

Im folgenden dokumentiere ich den Vortrag des Herrn Roloff, der hier mittlerweile öfters auftaucht als ich selbst. Das wird dem Niveau eher keinen Abbruch tun.

Otto von Bismarck, Postkarte von A. Fischer, 1890, von hier


Bismarck und Russland oder wie der Reichskanzler um Europas Frieden rang

Wenn man Bismarck ehren und seine Leistungen würdigen will, dann bietet sich geradezu an, seine Politik gegenüber Russland zu vergegenwärtigen. Das Verhältnis zu Russland bildete den Schlüssel zu einer europäischen Ordnung, die unter den Großmächten 43 Jahre den Frieden gesichert hat. Die Haltung Bismarcks gegenüber Russland hatte ihre Grundlage in der traditionellen Verbindung Preußens und Russlands, die aus der napoleonischen Zeit erwachsen ist und in der Funktion, die eine Macht in der Mitte erfüllen muss. Auf diese beiden Aspekte kommt es mir in der Hauptsache an und nicht auf einzelne Bestrebungen.


Denn ganz am Anfang unseres Zusammenhangs steht die Französische Revolution. Schon an ihr wird deutlich, selbst wenn sie von allen mit den besten Absichten begonnen worden wäre, dann führte sie dennoch in eine schwere Katastrophe der europäischen Staatenwelt, in Mord und Unrecht. Es ist nur schwer zu verstehen, warum man ihr dennoch bis heute fast ausschließlich das Etikett von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ anhängt, obwohl sie das genaue Gegenteil bewirkte. Mag es auch zuvor Unrecht und Missstände gegeben haben. Sie wurden bei weitem durch das in den Schatten gestellt, was die Revolution an Mordtaten, Kriegen und kulturellen Verwüstungen hervorgebracht hat.

„The Zenith of French Glory“ von James Gillray, 12.02.1793, von hier

Es brauchte erst einen Napoleon, um den fortschreitenden Terror und die rücksichtslose Zerstörung des Gemeinwesens einzudämmen und die entfesselten Gewalten in die Verwirklichung eines imperialen Gedankens von der Neuordnung Europas zu lenken.

Dies zustande gebracht zu haben, macht die Größe Napoleons aus. Er lenkte die gewaltigen Energien seines entfesselten Landes in beinahe alle Richtungen. Mit dem Rheinbund und Italien stellte sich fast so etwas wie das Reich Karls des Großen wieder her. Das ist ganz erstaunlich nach beinahe einem Jahrtausend getrennter Geschichte. Es zeigt zweierlei. Napoleon wusste die Schwäche des Reiches auszunutzen und machte sich auch die erwachenden nationalen Bestrebungen der Italiener und Polen zu eigen. Er verband so ganz geschickt die beiden, seine Zeit bestimmenden Tendenzen, den Abstieg der universalen Gewalt von Reich und Kirche und die aufsteigenden nationalen Stimmungen.

Um diesen gewonnenen Zustand dann aber tatsächlich zu ordnen, bedurfte es doch wieder der alten Reichsidee, die sich als lebendig erwies. Napoleon nahm den Namen eines Kaisers an und formte, allerdings ein französisches Imperium. Er warf damit seinen fast ausschließlich national motivierten Interessen den Mantel des Reiches um und begann ein kurzes Jahrzehnt großer Herrschaft.
Die Vorherrschaft einer Nation fast über den gesamten Kontinent war nur möglich geworden durch die Schwäche der übernationalen und überstaatlichen Gewalt. Der Rausch der Revolution trat in gewisser Weise an die Stelle der Verbundenheit im christlichen Glauben.

Allerdings wurde Napoleon sehr schnell gewahr, dass er mithilfe der französischen Militärmacht alle beherrschen musste, wenn seine Konstruktion Dauer erreichen sollte. Das verführte ihn in das russische Abenteuer mit seinem bekannten Ausgang. Man kann die Idee des Reiches nämlich nicht beliebig usurpieren, denn an ihr hängt nicht nur der Name des Kaisers, sondern auch eine für die Mitte Europas ganz und gar unverzichtbare Funktion, von der zu reden sein wird. Napoleon jedenfalls beherrschte für einen historischen Augenblick Europa, er gab ihm aber keine Mitte.

Es war deshalb nicht überraschend, dass Europa die napoleonische Zeit mehr und mehr als Fremdherrschaft erlebte und mit den Befreiungskriegen antwortete. Ich erinnere daran, weil mit ihnen eine für Bismarck ganz entscheidende Prägung verbunden ist, die er in Schönhausen erfahren hat. Er ist dort nicht nur während der hundert Tage des Korsen geboren, sondern trug auch die Beinamen Leopold und Eduard. Das waren zwei nahe Verwandte, die in den Befreiungskriegen gefallen sind.

Das Erlebnis der Befreiungskriege hat die Erziehung und die Vorstellungswelt der Deutschen ein reichliches Jahrhundert stark geprägt. Das machten auch die Jahrhundertfeiern 1913 nochmal deutlich und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig und die Jahrhunderthalle in Breslau sind dafür bis heute prägnante architektonische Zeugnisse.

Im Zentrum dieser Tradition stand immer auch die Vorstellung von dem erfolgreichen Zusammenwirken mit Russland. Die drei konservativen Mächte Preußen, Österreich und Russland bilden die machtpolitische Grundlage des 19. Jahrhunderts. Mit der „Heiligen Allianz“ und später mit Bismarcks Bündniskonstruktionen des „Drei-Kaiser-Abkommens“ von 1873, des Zweibundes von 1879, des „Drei-Kaiser-Bundes“ von 1881 und des Rückversicherungsvertrages von 1887 bewegte er sich immer genau in diesem Zirkel der Nach-Napoleonischen-Zeit.


Warum war Bismarck hier so ganz festgelegt? Erneut müssen wir etwas weiter ausholen.

Europa lebt aus der Wechselwirkung zwischen einzelnen Herrschaften, aus denen sich viel später Nationalstaaten bildeten, und dem Reich in seiner nicht nur geographischen Mitte. Das Miteinander von Universalität und Partikularismus machte das Reich selbst, aber auch das Wesen ganz Europas aus.

Darin liegt der einzige Grund dafür, warum dem Reich, als Träger der universalen Macht, die Aufgabe der Verteidigung zufiel. Das Reich wurde zum Verteidiger der Kirche und des christlichen Glaubens und zum Verteidiger gegen diejenigen äußeren Feinde, denen einzelne Herrscher und Völker nicht gewachsen waren.

Die innere Struktur Europas war mithin geprägt durch die Bipolarität von Staaten und Nationen auf der einen und einer im Reich repräsentierten überstaatlichen und übernationalen Ordnung auf der anderen Seite. Genauso wie der Mensch selbst in der Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaft lebt, so lebte Europa aus der Beziehung zwischen den Staaten und dem Reich.

Das hatte auch einen zutiefst christlichen Hintergrund, der sich in einer der frühen Reden Bismarcks noch spiegelt: „Erkennt man die religiösen Grundlage des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein, entzieht man diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, …, seine Gesetzgebung würde sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und unbeständigen Begriffen von Humanität, wie sie sich gerade in den Köpfen derjenigen, welche an der Spitze stehen, gestalten.“

(Beinahe möchte man meinen, dass wir gegenwärtig so etwas wie den Höhepunkt der „vagen und unbeständigen Begriffe von Humanität“ in den Köpfen derjenigen, die an der Spitze stehen, erleben. Ich nenne nur die Stichworte Waffenlieferungen, Streumunition und militärisches Heldentum.)

Staatliche Ordnung war ohne religiöse Grundlage nicht zu denken und diese wurde vornehmlich durch das Reich repräsentiert.

Die Verantwortung des Reiches wuchs den Deutschen mehr zu, als dass sie sie suchten. Das war in der Hauptsache der geografischen Lage des Siedlungsraumes der Völkerschaften geschuldet, die einmal die Deutschen werden sollten. In der Mitte des Kontinents konnte man sich schwerlich auf sich selbst zurückziehen, war beeinflusst und durchzogen von den Nachbarn und ihren Kulturen. Man ließ sich aber auch beeinflussen und wurde in Vielem gleichsam zum Schmelztiegel. Immer wieder zeigte sich, dass der Kontinent die zwar nach und nach defensiver werdende, dennoch aber ordnende Gewalt des Reiches brauchte.

Erst der unglaubliche Macht- und Prestigegewinn der großen Kolonialmächte drohte ganz vergessen zu machen, wie sehr man in Europa aufeinander angewiesen, wie sehr das Abendland mit seiner Geistes-, Kultur- und Glaubensgeschichte ein Organismus war, der, wie jeder Organismus, immer nur ein gemeinsames Leben und Überleben gestattet.

Auch Weltreiche bedürfen der sie verbindenden Mitte einer gemeinsamen Identität. Was sie der Welt an Konstruktivem bringen wollten, konnten sie ihr nur gemeinsam bringen.

Der Deutsche Bund wurde diesem Zweck allerdings kaum noch gerecht. Er war ohne wirkliches Oberhaupt und wurde scheinbar zur Nebenbühne des heraufziehenden Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Es wurde mehr und mehr unmöglich, Preußen auf die Rolle eines Bundesstaates unter Österreichs Präsidium zu beschränken.

Dennoch erreichte dieses fragile Provisorium eine Lebenszeit von einem halben Jahrhundert. Diese war neben vielen Instabilitäten, die als Nachbeben der großen französischen Revolution zusammengefasst werden können, bestimmt durch neue Versuche der Nachbarn, sich auf Kosten von Bundesterritorien zu erweitern. Die Schleswig-Holstein-Frage und die Luxemburgkrise mögen dafür beispielgebend stehen.

Anders als zu vorherigen Zeiten, in denen es kaum mehr eine Rolle spielte, unter welcher Oberhoheit deutsche Territorien standen, trat nun aber die nationale Stimmung der im Erlebnis der Befreiungskriege zu Deutschen erwachten Landsmannschaften als politischer Faktor hervor.

Die Begehrlichkeiten der Nachbarn weckten und befeuerten den Nationalismus der Menschen, die nun das Ziel in den Blick nahmen, „von der Maas bis an die Memel und von der Etsch bis an den Belt“ zu vereinigen, was zu Deutschland gehörte. Ein wirkliches Reich der Deutschen erschien am Horizont.

Der rein nationale Gedanke war allerdings ein Sprengsatz am österreichischen Vielvölkerstaat und fand darum in diesem einen entschiedenen Gegner. Zum anderen sah Frankreich seine Aussichten auf Wiederaufstieg schwinden und um seine Sehnsucht nach der Rheingrenze getrogen, wenn es zu einem vereinten Deutschland käme und wurde so zum zweiten Feind deutschen Einheitsstrebens.

Philipp Veit, Allegorische Figur der Germania, 1834 bis 1836, von hier

Die Revolution von 1848/49 war zu ideenreich und gleichzeitig zu tatenarm, als dass sie ein geeintes und funktionierendes deutsches Staatswesen hätte instandsetzen können. Zusätzlich erwies sich Russland als selbstloser und treuer Bewahrer des legitimen monarchischen Gedankens und rettete den österreichischen Kaiserstaat durch sein Eingreifen in Ungarn. Dieser status quo hielt sich so noch knappe zwei Jahrzehnte. Und Österreich sollte die Welt durch seinen Undank in Staunen versetzen.

Das tatsächlich Gefährliche am deutschen Nationalismus war, dass er in einer gewissen Weise eben auch den Versuch der Deutschen darstellte, ihrer eigentlichen historischen Verantwortung zu entkommen. Ihnen war die Würde des Reiches zugefallen, von der sie Gründe hatten anzunehmen, dass sie ihnen kein Glück gebracht hatte. Die im Religiösen und im Idealismus verankerte Vorstellung einer Zusammengehörigkeit der europäischen Völker und eines gemeinsamen Suchens nach Recht und Gerechtigkeit, schien veraltet, überholt, tot. Die Nationalstaaten hatten gesiegt, beherrschten den Welthandel und waren dabei, Weltreiche zu errichten. Das wollten die Deutschen nun auch. Sie wollten einen Nationalstaat, der so ist, wie es alle anderen auch waren, und der diesen dann scheinbar nur noch als Konkurrent entgegentrat.

Mitten in dieser Situation erschuf Bismarck in der Mitte Europas ein Deutsches Reich. Im Norddeutschen Bund will die Geschichte bis heute gern den Anfang des deutschen Nationalstaats sehen. Man kommt der Wahrheit allerdings näher, wenn man in diesem Geschehen eher eine Teilung erkennt. Ein Nationalstaat aller Deutschen hätte nämlich die Zerstörung der Habsburgermonarchie nach sich gezogen und unabsehbare Folgen für den gesamten Donau- und Balkanraum mit sich geführt. Die Zerstörung Österreichs kam für Bismarck folglich nicht in Betracht. Er schonte den alten Kaiserstaat nach der Schlacht von Königgrätz.

Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1885, von hier

Mit der Kaiserproklamation in Versailles erstreckten sich dann „zwei deutsche Reiche“, wie man in Russland gerne sagte, in der Mitte Europas, die zusätzlich seit 1873 durch verschiedene Bündnisse eng miteinander verbunden waren. Dieses Bündnis war in gewisser Weise eine Form der Fortsetzung des Deutschen Bundes und stellte das neu geschaffene Reich sogleich hinsichtlich seiner Verteidigung und Sicherheit wieder in eine übernationale Position.

Der Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 schuf für ein knappes halbes Jahrhundert eine neue europäische Ordnung. Benjamin Disraeli erkannte rasch, dass dieser Einschnitt in die europäische Geschichte tiefer sein würde, als es derjenige der französischen Revolution gewesen ist. In einer gewissen Weise waren die Reichsgründung und das aus ihr erwachsende Einvernehmen der konservativen Kaisermächte die eigentliche Gegenrevolution. Disraeli sprach sogar von der „deutschen Revolution“ als Gegensatz zur „französischen Revolution“. Ihr Kern lag darin, die Verhältnisse nicht zu zerstören, sondern an die innere Struktur wieder anzuknüpfen und sie gleichsam lebensfähig zu machen. War also die französische Revolution ein Angriff auf das alte Europa, so war die deutsche der Versuch einer Wiederherstellung.

Mit dem Bündnis zwischen dem Reich und Österreich hat Bismarck den Deutschen Bund wiederaufgenommen, nicht der Form, sehr wohl aber seiner Funktion nach.

Bismarck selbst sagt dazu in seinen Gedanken und Erinnerungen: „Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für niemanden etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige Assekuranz beider in dem deutschen Bundesverhältnis von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.“

Er spricht selbst von den „beiden deutschen Reichen“ und nimmt Bezug auf den Bund. Das Zitat ist übrigens Teil seiner Argumentation gegenüber seinem Kaiser, der das Bündnis mit Österreich 1879 zunächst mehr als Gefahr für das Einvernehmen mit Russland angesehen hat und es darum ablehnte. Er sollte sich irren, denn das Bündnis mit Österreich zog dann 1881 den Drei-Kaiser-Bund gleichsam nach sich.

Zwei Bestrebungen trafen nämlich seit 1871 radikal und kontrovers aufeinander. Das neue Reich hatte jedes Interesse daran, den gewonnenen Bestand zu bewahren, seine friedliche Entwicklung in jeder Hinsicht zu fördern und zu diesem Zweck sich jeder Unterstützung zu versichern, die es bekommen konnte. Bismarcks defensive Bündnispolitik war dafür das beste Indiz.

Frankreich hingegen verfolgte verbissen die Revision des Frankfurter Friedens, was ohne die Zerstörung des preußisch-deutschen Staates aber nicht möglich war.

Alle anderen Mächte vertrauten zunächst vollständig den friedlichen und Frieden stiftenden Absichten Bismarcks. Der Berliner Kongress 1878 und die Kongokonferenz 1884/85 waren dafür wichtige Beispiele. Bismarcks Bestreben war es tatsächlich, das Reich im Konzert der europäischen Mächte als „ehrlichen Makler“ zu platzieren. Darüber hinaus gelang es dem Fürsten, das Einvernehmen der drei Kaisermächte immer wieder herzustellen. 

Anton von Werner, Berliner Kongreß, 1892, von hier

Das war insbesondere auf dem Berliner Kongress von 1878 nicht ganz leicht. Eine Schilderung des Fürsten lässt es uns ahnen und gibt darüber hinaus ein wunderschönes Beispiel für seine eindrucksvoll bildreiche Sprache: „Meine angedeutete, endlich ausgesprochene Forderung, die russischen Wünsche uns vertraulich, aber deutlich auszusprechen und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den Eindruck, dass Fürst Gortschakow von mir, wie eine Dame von ihrem Verehrer, erwartete, dass ich die russischen Wünsche erraten und vertreten würde, ohne dass Russland selbst sie auszusprechen und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte.“

Dennoch gelang es Bismarck immer wieder, den Faden zu Russland weiterzuspinnen und auch die Konflikte zwischen Österreich und Russland so weit wie möglich und nötig auszugleichen.

Dies gründete in seiner ehrlichen Überzeugung davon, dass für das Reich auch ein gewonnener Krieg keinen Siegespreis mehr in Aussicht stellte, der es wert wäre, ihn zu führen.

Das vorwiegend protestantische Deutsche Reich begann, mit seiner Rolle als Mitte und Vermittler und im Bündnis mit dem katholischen Österreich-Ungarn und dem orthodoxen Russland etwas von dem zurückzugewinnen, was die Bedeutung des alten Reiches ausgemacht hat. Auch die Symbolik der drei Kaiser und der drei Konfessionen spricht hier für sich.

Die Situation Europas war dadurch gekennzeichnet, dass es keine äußeren Feinde hatte, sondern nur sich selbst durch Revolution und Nationalismus zum Feind werden konnte und genau das galt es zu verhindern.

Das Einvernehmen mit Österreich-Ungarn und ein verlässliches Verhältnis zu Russland waren dazu zwingend erforderlich, weil ein Ausgleich mit Frankreich unmöglich blieb, solange es die Realitäten des Frankfurter Friedens nicht anerkannte. Ohne Bündnis mit Russland drohte also der Zwei-Fronten-Krieg. Ohne Bündnis mit Russland entstand die gefährliche Situation, die dann auch 1914 in die Katastrophe führen sollte.

Für Bismarck war immer maßgeblich, was er am 5. Dezember 1888 dem kolonialbegeisterten Eugen Wolf, der ihm eine Karte Afrikas zeigte, sagte: „Ihre Karte ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.“

Weil also ein Bündnis mit Frankreich ausgeschlossen blieb, war das Einvernehmen mir Russland immer existenziell und nie nur irgendwie sentimental. Die drei Kaisermächte konnten den Frieden immer nur gemeinsam wahren. Sie waren das Rückgrat einer antirevolutionären Ordnung, wenn dieses Rückgrat brach, dann drohten schlimmere Umbrüche als die der vorangegangenen Revolutionen. Deshalb musste auch Russland immer wieder verdeutlicht werden, dass es vom Frieden am meisten profitieren würde und jeder Krieg es in seiner Existenz bedroht. Der Fortgang der Geschichte hat die Richtigkeit dieser Einschätzung wieder und wieder bestätigt.

Die anderen europäischen Mächte nutzten allerdings die zugegebener Maßen ungewöhnliche Situation, dass das Reich in der Mitte, die naturgemäß vermittelnde Gewalt, im Gewand eines Nationalstaats daherkam, um diese zu unterminieren und zu diskreditieren. Das war aber erfolgreich nur möglich, nachdem 1890 das Einvernehmen mit Russland aufgegeben und der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert worden war.

Man war in Berlin sogar so naiv oder dumm, die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, der ja ein Geheimvertrag gewesen ist, nach London zu melden, vermutlich in der Erwartung, dafür Sympathie zu ernten.

Die britische Reaktion war aber abwägend kühl, denn Deutschland hatte durch diese Entscheidung deutlich an Gewicht verloren und war für ein festes Bündnis sogar weniger attraktiv.

Bismarck Denkmal im alten Elbpark in Hamburg, von hier

Der Fortgang der Geschichte ist so bekannt wie tragisch. Insbesondere nach den Marokkokrisen wurde der Vorwurf stereotyp erhoben, dass das Reich nach der Vorherrschaft in Europa strebe und es wurde immer wieder das unscharfe Argument von der Störung des Gleichgewichts in Europa erhoben, und das, obwohl den „beiden deutschen Reichen“ seit 1908 die verbündeten Weltreiche Großbritanniens, Frankreichs und Russlands gegenüberstanden. Eine merkwürdige Vorstellung vom Gleichgewicht.

Alles das ist heute aber schon gar nicht mehr unser Thema. Ein bloßer Blick auf die Landkarte lässt deutlich werden, wie dramatisch die Folgen davon waren, dass man in Deutschland glaubte, einer „Welt von Feinden“ durch militärische Stärke und allein mit Österreich-Ungarn trotzen zu können. Dass Russland im panslawistischen Wahn glauben wollte, dass der Weg nach Konstantinopel durch das Brandenburger Tor führt und dass Frankreich für Revanche und Elsass-Lothringen kein Preis zu hoch war.

Erst 1990, genau 100 Jahre nachdem das Einvernehmen mit Russland aufgegeben worden war, öffnete sich die Tür zu einem neuen Versuch, die Gestalt Europas zurückzugewinnen. Aber er scheint auch diesmal zu scheitern.

Wir meinen gern, heute wäre das Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten und zu Amerika ein anderes und wir wären von Freunden umgeben.

Der Ukrainekrieg muss uns aber nachdenklich machen, weil neben dem Angriff auf die Ukraine nach wie vor der Angriff auf deutsche Infrastruktur in der Ostsee steht. Wer auch immer verlangt, dass politische Interessen in Europa nicht mehr gewaltsam und mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden dürfen, der sollte an keinem dieser Angriffe beteiligt gewesen sein.

Mir ging es heute einzig darum aufzuzeigen, wie sehr Bismarck in der geschichtlichen Wirklichkeit zuhause war und wie umsichtig und verantwortungsvoll er dem Reich und Europa gedient hat. Die von ihm geschaffene Ordnung des Frankfurter Friedens hatte Europa in die Situation gebracht, dass es keine Feinde mehr hatte außer den Krieg selbst. Es war ihm gelungen, die Funktion des Reiches durch die Konstruktion der verbündeten beiden deutschen Mächte und die „Heiligen Allianz“ durch ihre Übersetzung in die Erfordernisse der modernen Staatenwelt wiederherzustellen und durch sie beide den Frieden zu sichern. 

Wie weit unsere Gegenwart von diesen Vorstellungswelten entfernt ist zeigt ein Zitat von Ernst Moritz Arndt, mit dem ich schließen möchte: „Und weil ihr das Herz sein solltet von Europa, seid ihr mir lieb gewesen, wie mein eigenes Herz, und werdet mir lieb bleiben ewiglich.“

Otto von Bismarck um 1881, von hier

nachgetragen am 6. August

Sonntag, 16. Juli 2023

Zum 6. Sonntag nach Trinitatis

Günter Johl, "Christus als Herrscher über Gut und Böse", Altarfenster in der Kreuzkirche in Magdeburg, von hier

Predigt in der Kreuzgemeinde Magdeburg

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Gott erlöst sein Volk

1Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. 3Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige in Israel, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Mohren und Seba an deine Statt. 4Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, mußt du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb; darum gebe ich Menschen an deine Statt und Völker für deine Seele. 5So fürchte dich nun nicht; denn ich bin bei dir. Ich will vom Morgen deinen Samen bringen und will dich vom Abend sammeln. 6und will sagen gegen Mitternacht: Gib her! und gegen Mittag: Wehre nicht! Bringe meine Söhne von ferneher und meine Töchter von der Welt Ende, 7alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich geschaffen habe zu meiner Herrlichkeit und zubereitet und gemacht.

Jes 43,1-6

Liebe Gemeinde,

365 mal soll diese Aufforderung in der Heiligen Schrift zu finden sein. Für jeden Tag des Jahres kann der Mensch sich eine Bibelstelle suchen, die ihm zuspricht: Fürchte dich nicht!

Raphael, Prophet Jesaja, von hier

Besonders eindringlich ist darunter dieser Prophetentext des Jesaja. Er verkündet, was er vom Allmächtigen vernommen hat. „So spricht der HERR“. In dieser Weise leiten die Propheten des Alten Testaments oft die direkte Rede Gottes ein. So spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob,:

Gott hat dich geschaffen. Gott hat dich geschaffen, so wie er Adam erschaffen hat und so wie er Jakob schuf. Der Moment des Erschaffens ist immer ein Moment des „Ich und Du“. Gott schafft jeden Menschen und darum erneuert sich die ganze Schöpfung in jedem Menschen. In jedem Menschen beginnt die Schöpfung neu, in jedem Menschen ist Hoffnung und Offenbarung und Gnade.

Und so spricht der Herr, der dich gemacht hat, Israel.

Die Verdoppelung der Anrede verstärkt und unterstreicht die Aussage, denn Jakob und Israel sind dieselbe Person. Am Jabbok, nach dem berühmten Gotteskampf, den Jakob führte und in dem er den Allmächtigen bedrängt mit der Forderung: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, wurde er gesegnet und bekam vom Herrn den Namen Israel, Gottesstreiter, Gottkämpfer, Gott kämpft.

Im Namen Israel klingt zugleich an, dass der Mensch immer in Gemeinschaft ist. Aus Jakob und seinen zwölf Söhnen wird ein großes Volk. Gott nennt einen und er meint alle. Das ist bei Gott kein Widerspruch. Der weitere Weg der Geschichte formte in Israel das Gottesvolk, das aus Ägypten heraus in die Freiheit geführt wurde, das das Königtum Davids und Salomos hervorbrachte, den Tempel baute und nach dessen Zerstörung auf Neuanfang hoffte und den Messias erwartete.

In dieses Volk hinein sandte Gott seinen Sohn. Durch ihn sind wir Israel. Die Kirche ist Israel. Nur darum können wir ja singen: Freue dich Israel seiner Gnaden!

Dem einen und uns allen spricht der Gott, der uns geschaffen hat, zu: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Fürchte dich nicht, der Allmächtige ist um uns, so wie er unser Ursprung war, so ist er auch das Ziel. Gleichsam zur Bekräftigung schließt sich nun ein zweifacher Doppelklang an: Weder Wasser noch Ströme, weder Feuer noch Flamme sollen dir etwas anhaben, denn ich rief dich bei deinem Namen.

Darin drückt sich aus, dass Gott eine, bis in den letzten Abgrund schauende, Kenntnis von uns hat. Er ruft uns bei unserem Namen, er spricht an, was wir im Innersten sind. Jede Äußerlichkeit kann davor verfallen und sogar unsere Vergänglichkeit bleibt ohne Bedeutung, denn das, was Gott in uns ruft, ist ja ein Teil von ihm. Es ist unverlierbar, unzerstörbar und von ihm genommen. Er führt uns heim!

Ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige in Israel, dein Heiland. Gott ist Herrscher und weil er in Israel ist, in dem einen und in allen, ist er DEIN Heiland, so wie er auch mein Heiland ist.

Alles gibt Gott hin, alles vergeht vor seinem Angesicht. Er gibt Völker, Länder und Menschen als Lösegeld.

Unsere Gegenwart hat ein ausgeprägtes Problem damit, dass ein Volk erwählt ist und alle anderen nicht. Sie hält das für ungerecht und für einen Verstoß gegen die Gleichheit aller. Sie behauptet, damit wären alle anderen Völker diskriminiert.

Diese Haltung ist kein Atheismus. Dem Atheisten kann es herzlich gleichgültig sein, welches Volk der Gott, an dessen Wirklichkeit er nicht glaubt, sich erwählt. Diese Haltung ist also schlimmer als der Atheismus, weil sich in ihr Hass auf Gott ausdrückt, den man für ungerecht erklärt.

Wir hingegen müssen ganz nüchtern feststellen: Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Völkern. Sie sind genauso normal und vielfältig wie es die Unterschiede sind, die es zwischen Menschen gibt. Es wäre ganz unsinnig, wirklichkeits- und wahrheitsfern, sie zu leugnen. Es gibt auch heute die Wenigen, die sich hier versammelt haben und es gibt die Vielen, die nicht hier sind. Und natürlich macht das einen Unterschied und diskriminiert dennoch niemanden, weil jeder andere auch hätte kommen können.

Wie ist diese Erwählung dann folglich zu verstehen? „Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter den Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat.“ So heißt es bei Mose und Jesaja schreibt: „Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb.“

Michelangelo, Jesaja, Decke der Sixtinischen Kapelle, Rom, von hier

Es gibt nichts, worauf sich das erwählte Volk etwas einbilden könnte, es ist mitnichten größer oder mächtiger als andere Völker. Es hat auch keinen Vorrang, sondern es hat zunächst und vor allem eine Aufgabe. Dieses Volk soll die Liebe Gottes in der Welt sichtbar werden lassen. Gott hat seine Liebe zu diesem Volk entdeckt und will, dass sie in der Welt sichtbar wird, denn es ist gut für diese Welt, dass diese Liebe sichtbar in ihr ist. 

Gott tut darin genauso wenig ein Unrecht, wie es der verliebte junge Mann tut, der seine Liebe zu einem Menschen herausschreit. Vielmehr sind alle diejenigen der Sünde des Neides und der Missgunst schuldig, die den beiden ihre Liebe und ihr Glück nicht gönnen. Alle anderen Menschen aber können sich mit den Verliebten freuen und werden spüren, dass auch ihr Leben heller und schöner wird durch diese Freude, die sie empfinden.

Vielleicht heiraten unsere beiden Verliebten auch irgendwann und geben sich damit ein verpflichtendes Versprechen. Offenbar gehören die Liebe und das Versprechen nämlich wirklich schon immer fest zusammen.

Auch unser Text fährt fort: Wehre nicht! Bringe meine Söhne von ferneher und meine Töchter von der Welt Ende, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich geschaffen habe zu meiner Herrlichkeit und zubereitet und gemacht.

Er hat sein Volk erwählt, damit er seinen Eid hielte, den er den Vätern geschworen hat, denn er hat sie mit seinem Namen genannt. Es ist von Bedeutung, dass anfangs davon die Rede war, dass Gott uns bei unserem Namen ruft und hier am Ende davon gesprochen wird, dass wir mit seinem Namen genannt sind.

Nichts ist verwerflich daran, wenn jemand sein Liebesversprechen auch tatsächlich hält, schon gar nicht, wenn Gott dies tut. Alles, was Gott vor aller Welt tut, das tut er, damit die Welt erzittert vor Staunen über seine Gewalt, die eine Gewalt der Liebe ist.

Du sollst wissen, hier offenbart sich der alleinige, der einzige und der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit hält. Der Bund und die Barmherzigkeit sind ein schöner Ausdruck dafür, dass bei Gott alles unlöslich und gleichzeitig Ordnung seiner Weisheit und Regung seines Herzens ist. Er hält Bund und Barmherzigkeit. Darum sollen auch wir Menschen unseren guten Herzensregungen verlässliche Ordnungen geben und sie auch halten. Sie können ein Weg sein, unsere Liebe zu Gott auszudrücken.

Darum sucht die Liebe zum alleinigen Gott in euch. Darum allein macht Gott seine Liebe in der Welt sichtbar, dass die Welt ihn mit ihrer Liebe suchen möge. Das Volk Gottes findet darin Gemeinsamkeit, Verantwortung und auch Verwandtschaft.

Denn wir verkünden der Welt, dass mit Christus die Erwählung des Volkes Israel für immer bewahrt und doch gleichzeitig an die ganze Welt verschenkt wurde. Die Erwählung des Volkes Israel bleibt in Christus bestehen, und dennoch ist der Horizont aufgerissen, damit Gott sich sein Volk in der Taufe aus allen Völkern erwählen kann. Gottes Liebe hat sich in der Geschichte sichtbar, erlebbar und dauerhaft gemacht, damit sie alle erreicht.

Jan Assmann hat in seinem bemerkenswerten Buch „Mose der Ägypter“ den Satz aufgeschrieben: „Da Gott seine Absichten in der Geschichte versteckt hat, wird historische Forschung zur theologischen Aufgabe oder lässt sich als solche legitimieren.“

Als Christen viel mehr als alle anderen müssen wir die Geschichte ernst nehmen als den Ort, an dem sich Gottes Wille ausdrückt. Der Hochmut verführt die Menschen immer wieder dazu, die Geschichte als etwas zu benutzen, was sie meinen aus ihren kleinen Begriffen von Gerechtigkeit Gott um die Ohren hauen zu dürfen, oder gar an seiner Statt die Gerechtigkeit selber herstellen zu müssen.

Dabei lehrt uns die Geschichte doch mit großer Eindringlichkeit wieder und wieder, dass Menschen und Völker nie das Gleiche empfangen und haben werden, sondern das sie den Dienst tun sollen, der ihnen auferlegt ist, nämlich ihn zu lieben und seine Gebote zu halten. 

Immer müssen wir dabei daran denken, dass einer der Unterschiede zwischen Gott und Mensch darin besteht, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt der Geschichte selbst erleben, sie vor Gott aber, der gestern, heute, morgen und derselbe in Ewigkeit ist, immer als Ganzes steht. Seine Gerechtigkeit erklärt sich erst und nur in der Ganzheit der Geschichte. 

Insofern ist diese Ganzheit der Geschichte der eigentliche und tiefste Ausdruck auch für das Jüngste Gericht, das wir erwarten, uns als Menschen aber immer nur als ein künftiges denken können.

Einzig Gott macht uns gleich und gerecht, durch die Liebe, die er auf seinen Wegen lässt sichtbar werden in uns und in unserer Welt! Und darum: Fürchtet euch nicht! Wir sind erlöst! Wir sind bei unserem Namen gerufen und in seinem Namen getauft. Gott spricht: Du bist mein!

Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist, denn alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Thomas Roloff

nachgetragen am 17. Juli

Sonntag, 9. Juli 2023

Zum 5. Sonntag nach Trinitatis

Nicolaikirche_Westseite, hier gefunden

Herr Roloff hat heute diese Predigt in Magdeburg gehalten. Zu meiner Überraschung gibt es davon sogar eine Tonaufnahme, der man hier folgen kann. Die Predigt beginnt bei 22.56.

Predigt in St. Nicolai Magdeburg

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Die ersten Jünger

35Des andern Tages stand abermals Johannes und zwei seiner Jünger. 36Und als er Jesum sah wandeln, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! 37Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesu nach. 38Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was suchet ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Meister, wo bist du zur Herberge? 39Er sprach zu ihnen: Kommt und sehet's! Sie kamen und sahen's und blieben den Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. 40Einer aus den zweien, die von Johannes hörten und Jesus nachfolgten, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41Der findet am ersten seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden (welches ist verdolmetscht: der Gesalbte), 42und führte ihn zu Jesu. Da ihn Jesus sah, sprach er: Du bist Simon, Jona's Sohn; du sollst Kephas (Fels) heißen. 43Des andern Tages wollte Jesus wieder nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! 44Philippus aber war von Bethsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus.45Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Joseph's Sohn von Nazareth. 

46Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es! 47Jesus sah Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. 48Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.49Nathanael antwortete und spricht zu ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 50Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum; du wirst noch Größeres denn das sehen. 51Und spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.

Joh 1,35-51

Gott segne an uns sein Wort! Amen.

Liebe Gemeinde,

mit dem Predigttext haben wir nun vier sehr verschiedene Lesungen gehört, die aber eines gemeinsam haben. In ihnen wird die Frage beantwortet: Wer kann dir ein Kompass sein? Wie kann man in dieser Welt und in unserem Leben Orientierung gewinnen? Zusätzlich stellt die Epistel die Frage danach, welchen Stellenwert unsere Klugheit in diesem Zusammenhang hat.

Die verlässlichste Wegweisung im Leben erfahren wir Menschen stets dann, wenn wir denjenigen finden, dem wir uns anschließen können. Dazu müssen wir Zutrauen fassen und uns einlassen. Dazu müssen wir manchmal aber auch loslassen und losgelassen werden.

So nämlich beginnt unser Predigttext. Johannes der Täufer steht vor uns mit zweien seiner Jünger, die er um sich gescharrt hatte und mit denen gemeinsam er die Botschaft von Buße und Taufe verbreitete. Solche Jüngergemeinschaften waren eine eigene Mischung aus Lehrer-Schüler-Verhältnis, Familienverband und Pilgergruppe. Und nun gibt Johannes seinen Jüngern den Hinweis: Siehe, das ist Gottes Lamm!

Es ist ganz unerheblich, was stärker wog, der Hinweis des Täufers und das Vertrauen, das seine Jünger zu ihm hatten oder die gewaltige Anziehungskraft, die der Herr ausgeübt hat. Die Jünger folgen ihm.

Die Jünger verlassen Johannes und schließen sich Jesu an. Es war eine Torheit, das gewohnte zu verlassen und die Gemeinschaft mit Johannes, dem charismatischen Boten, aufzugeben. Es war ein Aufbruch wider alle Vernunft, der aber zum Segen werden sollte.

Er sollte zum Segen werden, so wie Abrahams Aufbruch zum Segen geworden ist und ihn zum Vater großer Völker gemacht hat. Mit Abraham begann nämlich der Weg des Gottesvolkes und in der Gemeinschaft mit Jesus, mit dem Lamm Gottes, endet er am Kreuz. Er führt an das Kreuz, das eine Torheit ist und in dem die Klugheit des Menschen kein Heil finden kann, wenn nicht der Glaube ihr zur Seite tritt.

Als Christen sind wir Menschen, die auch ihren Verstand durch den Glauben leiten lassen. Als Christen sind wir Menschen, die darauf achten, dass ihr Verstand nicht zu einem Instrumentarium wird, das sich anmaßt und dazu missbraucht wird, den Glauben zerstören zu wollen.

Achten wir damit den Verstand gering? Nein! Aber, wir haben den Messias gefunden. Wir sind demjenigen begegnet, der nicht, wie Johannes, von Buße und vom Heil redet. Im Herrn sind wir dem begegnet, der das Heil ist. Dazu hat die Vernunft nur Zugang, wenn er ihr vom Glauben her aufgeschlossen wird.

Die Vernunft hätte die Johannesjünger von damals und auch Dich und mich nur anstiften können, abzuwarten und die Frage zu stellen, wie viele Propheten denn noch kommen werden und was überhaupt aus Nazareth Gutes kommen kann. Johannes aber wusste: Hier ist das Ende der Prophetie, weil die Erfüllung offenbar ist.

An der Hinwendung zum Herrn, zum Lamm Gottes, hängt auch die Erfüllung unseres Lebens. Andreas, Simon, Philippus, Nathanael und der Evangelist selbst, machen genau diese Glaubenserfahrung. Sie schließen sich dem Herrn an und folgen ihm ans Kreuz. Etwas Unvernünftigeres kann es nicht geben, als jemandem ans Kreuz zu folgen.

Der Evangelist selbst ist nämlich dieser zweite Jünger, der da am Anfang unserer Geschichte steht und der uns diesen Bericht gibt. Wir erfahren hier also nichts aus dem Hörensagen, sondern vernehmen den, der selbst dieses erste Wort, das an ihn durch den Herrn gerichtet wurde, vernommen hat: Was sucht ihr?

Darüber muss zunächst einmal Klarheit hergestellt werden. Was suchen wir in diesem Leben und in dieser Welt? Die fragende Antwort der beiden lautet: Meister, wo bist du zur Herberge? Das meint, wo können wir dich finden und mit dir Gemeinschaft haben? Das ist es, was wir Menschen suchen, die Gemeinschaft mit dem, der uns erschaffen hat und der uns kennt und der uns erlöst.

Kommt und seht es! Der Evangelist weiß auch viele Jahre später noch, als er sein Buch verfasste, ganz genau, zu welcher Stunde ihm diese Offenbarung zuteil geworden ist. Es war um die zehnte Stunde, also kurz vor Tagesende. 

Aber diese Zeit reichte aus, um eine Verbindung zu stiften, die nie wieder gelöst werden sollte und die sich bis in unsere Tage fortsetzt.

Denn der Frage Jesu „Was sucht ihr?“ schließt sich nun eine Kaskade des Findens an. Andreas findet seinen Bruder Simon, dem der Herr dann den Namen Petrus gibt. Jesus selbst findet dann am folgenden Tag Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus findet dann Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.

Viermal antwortet das Wort „finden“ auf Jesu Frage „Was sucht ihr!“ Ein Bruder findet den anderen und bringt ihn zu Jesus. Das hat Fortsetzung gefunden seit der Zeit Jesu bis in unsere Tage. Ein Bruder findet den anderen, Menschen erzählen vom Glauben und helfen anderen Menschen, den Herrn zu finden.

Das ist das Amt der Kirche, das ist das Wesen der Gemeinde, dass wir Begegnung mit Christus ermöglichen, mit dem Herrn der Welt, der uns schon kannte, ehe wir denn in unserer Mutter Leib bereitet waren und der uns gesehen hat, als wir unter dem Baum saßen und unseren Gedanken nachhingen. 

Das ist übrigens das genaue Gegenteil von dem, was wir gegenwärtig, jedenfalls nach meinem Eindruck, oft erleben, dass man sich auch in unserer Kirche für Meinungen, Ideen und Lehren begeistert, die ohnehin von allen uniform propagiert werden und durch die der Eindruck erweckt wird, der Allmächtige würde unserer Hilfe bedürfen. Wir sollen aber nicht Meinungen, Lehren und Ideen zu den Menschen tragen, die durch Selbstermächtigung und Anmaßung geprägt sind, sondern wir sollen die Begegnung mit Jesus suchen und ihm nachfolgen, denn er rettet die Welt, erlöst die Schöpfung und heiligt alles, was ist.

Wer sich ihm anschließt, der erlebt, wie der Verstand das armselige Kind in der Krippe sieht, der Glaube aber erkennt den von der Jungfrau Geborenen. Der Verstand sieht den armen Wanderprediger aus Nazareth, der Glaube aber erkennt den Messias seines Volkes. Der Verstand sieht den am Kreuz Gescheiterten und den Ermordeten, der Glaube aber erkennt das Zeichen des Heils, die Gotteskraft, in der sich der Allmächtige offenbart.

Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.

Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn. Amen

Thomas Roloff

"Näher, mein Gott, zu dir" / "Nearer, my God, to Thee", hier gefunden