Zum 125. Todestag Otto von Bismarcks richtete der Altmärkische Heimatbund eine Veranstaltung auf Schloß Döbbelin aus (ein paar der beigefügten Bilder geben von dem Ort einen Eindruck), das einem Mitglied der Familie Bismarck gehört, Alexander von Bismarck.
Ob es sonst noch nennenswerte Gedenkveranstaltungen in dem besten aller Deutschlands gegeben hat, weiß ich nicht. Von seiten des Auswärtigen Amtes jedenfalls offenkundig nicht. Aber die dort gegenwärtig Bestimmenden sind ja auch hinreichend mit Ausradierungs- und Umschreibungsarbeiten an der politischen und kulturellen Tiefenerinnerung dieses „Volkes“ ausgelastet.
Otto von Bismarck hat unter widrigsten und schwierigsten Umständen, die Deutschland förmlich anzuziehen scheint, etwas unerwartet immer noch Dauerndes und Gutes geschaffen, was ihm die Anhänglichkeit von Generationen gewann. Und was die vernachlässigenswerten anderen ihn andauernd so hassen läßt.
Daß dieser Nachtrag so auffallend spät ausfällt, erlaubt mir, auf zwei regionale Artikel zu verweisen, die erfreulich zu lesen sind. Dem einen durfte ich entnehmen,daß der Zeitgeist-Mob nun auch durch die Kantinen stürmt.
„‘Die Zeiten ändern sich.‘ Mit dieser Aussage verbannte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Februar 2023 den Bismarckhering von der Speisekarte der Kantine im Auswärtigen Amt.“ Diese „Anekdote“, vorgetragen von Prof. Konrad Breitenborn durfte ich dem einen Artikel entnehmen. Aber was diese geschichtswissens-unbefleckten Gestalten nicht ahnen, weil sie gar nicht wissen wollen, selbst wenn sie es denn könnten: Die Zeiten ändern sich ständig.
Im folgenden dokumentiere ich den Vortrag des Herrn Roloff, der hier mittlerweile öfters auftaucht als ich selbst. Das wird dem Niveau eher keinen Abbruch tun.
Otto von Bismarck, Postkarte von A. Fischer, 1890, von hier
Bismarck und Russland oder wie der Reichskanzler um Europas Frieden rang
Wenn man Bismarck ehren und seine Leistungen würdigen will, dann bietet sich geradezu an, seine Politik gegenüber Russland zu vergegenwärtigen. Das Verhältnis zu Russland bildete den Schlüssel zu einer europäischen Ordnung, die unter den Großmächten 43 Jahre den Frieden gesichert hat. Die Haltung Bismarcks gegenüber Russland hatte ihre Grundlage in der traditionellen Verbindung Preußens und Russlands, die aus der napoleonischen Zeit erwachsen ist und in der Funktion, die eine Macht in der Mitte erfüllen muss. Auf diese beiden Aspekte kommt es mir in der Hauptsache an und nicht auf einzelne Bestrebungen.
Denn ganz am Anfang unseres Zusammenhangs steht die Französische Revolution. Schon an ihr wird deutlich, selbst wenn sie von allen mit den besten Absichten begonnen worden wäre, dann führte sie dennoch in eine schwere Katastrophe der europäischen Staatenwelt, in Mord und Unrecht. Es ist nur schwer zu verstehen, warum man ihr dennoch bis heute fast ausschließlich das Etikett von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ anhängt, obwohl sie das genaue Gegenteil bewirkte. Mag es auch zuvor Unrecht und Missstände gegeben haben. Sie wurden bei weitem durch das in den Schatten gestellt, was die Revolution an Mordtaten, Kriegen und kulturellen Verwüstungen hervorgebracht hat.
„The Zenith of French Glory“ von James Gillray, 12.02.1793, von hier
Es brauchte erst einen Napoleon, um den fortschreitenden Terror und die rücksichtslose Zerstörung des Gemeinwesens einzudämmen und die entfesselten Gewalten in die Verwirklichung eines imperialen Gedankens von der Neuordnung Europas zu lenken.
Dies zustande gebracht zu haben, macht die Größe Napoleons aus. Er lenkte die gewaltigen Energien seines entfesselten Landes in beinahe alle Richtungen. Mit dem Rheinbund und Italien stellte sich fast so etwas wie das Reich Karls des Großen wieder her. Das ist ganz erstaunlich nach beinahe einem Jahrtausend getrennter Geschichte. Es zeigt zweierlei. Napoleon wusste die Schwäche des Reiches auszunutzen und machte sich auch die erwachenden nationalen Bestrebungen der Italiener und Polen zu eigen. Er verband so ganz geschickt die beiden, seine Zeit bestimmenden Tendenzen, den Abstieg der universalen Gewalt von Reich und Kirche und die aufsteigenden nationalen Stimmungen.
Um diesen gewonnenen Zustand dann aber tatsächlich zu ordnen, bedurfte es doch wieder der alten Reichsidee, die sich als lebendig erwies. Napoleon nahm den Namen eines Kaisers an und formte, allerdings ein französisches Imperium. Er warf damit seinen fast ausschließlich national motivierten Interessen den Mantel des Reiches um und begann ein kurzes Jahrzehnt großer Herrschaft.
Die Vorherrschaft einer Nation fast über den gesamten Kontinent war nur möglich geworden durch die Schwäche der übernationalen und überstaatlichen Gewalt. Der Rausch der Revolution trat in gewisser Weise an die Stelle der Verbundenheit im christlichen Glauben.
Allerdings wurde Napoleon sehr schnell gewahr, dass er mithilfe der französischen Militärmacht alle beherrschen musste, wenn seine Konstruktion Dauer erreichen sollte. Das verführte ihn in das russische Abenteuer mit seinem bekannten Ausgang. Man kann die Idee des Reiches nämlich nicht beliebig usurpieren, denn an ihr hängt nicht nur der Name des Kaisers, sondern auch eine für die Mitte Europas ganz und gar unverzichtbare Funktion, von der zu reden sein wird. Napoleon jedenfalls beherrschte für einen historischen Augenblick Europa, er gab ihm aber keine Mitte.
Es war deshalb nicht überraschend, dass Europa die napoleonische Zeit mehr und mehr als Fremdherrschaft erlebte und mit den Befreiungskriegen antwortete. Ich erinnere daran, weil mit ihnen eine für Bismarck ganz entscheidende Prägung verbunden ist, die er in Schönhausen erfahren hat. Er ist dort nicht nur während der hundert Tage des Korsen geboren, sondern trug auch die Beinamen Leopold und Eduard. Das waren zwei nahe Verwandte, die in den Befreiungskriegen gefallen sind.
Das Erlebnis der Befreiungskriege hat die Erziehung und die Vorstellungswelt der Deutschen ein reichliches Jahrhundert stark geprägt. Das machten auch die Jahrhundertfeiern 1913 nochmal deutlich und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig und die Jahrhunderthalle in Breslau sind dafür bis heute prägnante architektonische Zeugnisse.
Im Zentrum dieser Tradition stand immer auch die Vorstellung von dem erfolgreichen Zusammenwirken mit Russland. Die drei konservativen Mächte Preußen, Österreich und Russland bilden die machtpolitische Grundlage des 19. Jahrhunderts. Mit der „Heiligen Allianz“ und später mit Bismarcks Bündniskonstruktionen des „Drei-Kaiser-Abkommens“ von 1873, des Zweibundes von 1879, des „Drei-Kaiser-Bundes“ von 1881 und des Rückversicherungsvertrages von 1887 bewegte er sich immer genau in diesem Zirkel der Nach-Napoleonischen-Zeit.
Warum war Bismarck hier so ganz festgelegt? Erneut müssen wir etwas weiter ausholen.
Europa lebt aus der Wechselwirkung zwischen einzelnen Herrschaften, aus denen sich viel später Nationalstaaten bildeten, und dem Reich in seiner nicht nur geographischen Mitte. Das Miteinander von Universalität und Partikularismus machte das Reich selbst, aber auch das Wesen ganz Europas aus.
Darin liegt der einzige Grund dafür, warum dem Reich, als Träger der universalen Macht, die Aufgabe der Verteidigung zufiel. Das Reich wurde zum Verteidiger der Kirche und des christlichen Glaubens und zum Verteidiger gegen diejenigen äußeren Feinde, denen einzelne Herrscher und Völker nicht gewachsen waren.
Die innere Struktur Europas war mithin geprägt durch die Bipolarität von Staaten und Nationen auf der einen und einer im Reich repräsentierten überstaatlichen und übernationalen Ordnung auf der anderen Seite. Genauso wie der Mensch selbst in der Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaft lebt, so lebte Europa aus der Beziehung zwischen den Staaten und dem Reich.
Das hatte auch einen zutiefst christlichen Hintergrund, der sich in einer der frühen Reden Bismarcks noch spiegelt: „Erkennt man die religiösen Grundlage des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein, entzieht man diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, …, seine Gesetzgebung würde sich dann nicht mehr aus dem Urquell der ewigen Wahrheit regenerieren, sondern aus den vagen und unbeständigen Begriffen von Humanität, wie sie sich gerade in den Köpfen derjenigen, welche an der Spitze stehen, gestalten.“
(Beinahe möchte man meinen, dass wir gegenwärtig so etwas wie den Höhepunkt der „vagen und unbeständigen Begriffe von Humanität“ in den Köpfen derjenigen, die an der Spitze stehen, erleben. Ich nenne nur die Stichworte Waffenlieferungen, Streumunition und militärisches Heldentum.)
Staatliche Ordnung war ohne religiöse Grundlage nicht zu denken und diese wurde vornehmlich durch das Reich repräsentiert.
Die Verantwortung des Reiches wuchs den Deutschen mehr zu, als dass sie sie suchten. Das war in der Hauptsache der geografischen Lage des Siedlungsraumes der Völkerschaften geschuldet, die einmal die Deutschen werden sollten. In der Mitte des Kontinents konnte man sich schwerlich auf sich selbst zurückziehen, war beeinflusst und durchzogen von den Nachbarn und ihren Kulturen. Man ließ sich aber auch beeinflussen und wurde in Vielem gleichsam zum Schmelztiegel. Immer wieder zeigte sich, dass der Kontinent die zwar nach und nach defensiver werdende, dennoch aber ordnende Gewalt des Reiches brauchte.
Erst der unglaubliche Macht- und Prestigegewinn der großen Kolonialmächte drohte ganz vergessen zu machen, wie sehr man in Europa aufeinander angewiesen, wie sehr das Abendland mit seiner Geistes-, Kultur- und Glaubensgeschichte ein Organismus war, der, wie jeder Organismus, immer nur ein gemeinsames Leben und Überleben gestattet.
Auch Weltreiche bedürfen der sie verbindenden Mitte einer gemeinsamen Identität. Was sie der Welt an Konstruktivem bringen wollten, konnten sie ihr nur gemeinsam bringen.
Der Deutsche Bund wurde diesem Zweck allerdings kaum noch gerecht. Er war ohne wirkliches Oberhaupt und wurde scheinbar zur Nebenbühne des heraufziehenden Dualismus zwischen Österreich und Preußen. Es wurde mehr und mehr unmöglich, Preußen auf die Rolle eines Bundesstaates unter Österreichs Präsidium zu beschränken.
Dennoch erreichte dieses fragile Provisorium eine Lebenszeit von einem halben Jahrhundert. Diese war neben vielen Instabilitäten, die als Nachbeben der großen französischen Revolution zusammengefasst werden können, bestimmt durch neue Versuche der Nachbarn, sich auf Kosten von Bundesterritorien zu erweitern. Die Schleswig-Holstein-Frage und die Luxemburgkrise mögen dafür beispielgebend stehen.
Anders als zu vorherigen Zeiten, in denen es kaum mehr eine Rolle spielte, unter welcher Oberhoheit deutsche Territorien standen, trat nun aber die nationale Stimmung der im Erlebnis der Befreiungskriege zu Deutschen erwachten Landsmannschaften als politischer Faktor hervor.
Die Begehrlichkeiten der Nachbarn weckten und befeuerten den Nationalismus der Menschen, die nun das Ziel in den Blick nahmen, „von der Maas bis an die Memel und von der Etsch bis an den Belt“ zu vereinigen, was zu Deutschland gehörte. Ein wirkliches Reich der Deutschen erschien am Horizont.
Der rein nationale Gedanke war allerdings ein Sprengsatz am österreichischen Vielvölkerstaat und fand darum in diesem einen entschiedenen Gegner. Zum anderen sah Frankreich seine Aussichten auf Wiederaufstieg schwinden und um seine Sehnsucht nach der Rheingrenze getrogen, wenn es zu einem vereinten Deutschland käme und wurde so zum zweiten Feind deutschen Einheitsstrebens.
Philipp Veit, Allegorische Figur der Germania, 1834 bis 1836, von hier
Die Revolution von 1848/49 war zu ideenreich und gleichzeitig zu tatenarm, als dass sie ein geeintes und funktionierendes deutsches Staatswesen hätte instandsetzen können. Zusätzlich erwies sich Russland als selbstloser und treuer Bewahrer des legitimen monarchischen Gedankens und rettete den österreichischen Kaiserstaat durch sein Eingreifen in Ungarn. Dieser status quo hielt sich so noch knappe zwei Jahrzehnte. Und Österreich sollte die Welt durch seinen Undank in Staunen versetzen.
Das tatsächlich Gefährliche am deutschen Nationalismus war, dass er in einer gewissen Weise eben auch den Versuch der Deutschen darstellte, ihrer eigentlichen historischen Verantwortung zu entkommen. Ihnen war die Würde des Reiches zugefallen, von der sie Gründe hatten anzunehmen, dass sie ihnen kein Glück gebracht hatte. Die im Religiösen und im Idealismus verankerte Vorstellung einer Zusammengehörigkeit der europäischen Völker und eines gemeinsamen Suchens nach Recht und Gerechtigkeit, schien veraltet, überholt, tot. Die Nationalstaaten hatten gesiegt, beherrschten den Welthandel und waren dabei, Weltreiche zu errichten. Das wollten die Deutschen nun auch. Sie wollten einen Nationalstaat, der so ist, wie es alle anderen auch waren, und der diesen dann scheinbar nur noch als Konkurrent entgegentrat.
Mitten in dieser Situation erschuf Bismarck in der Mitte Europas ein Deutsches Reich. Im Norddeutschen Bund will die Geschichte bis heute gern den Anfang des deutschen Nationalstaats sehen. Man kommt der Wahrheit allerdings näher, wenn man in diesem Geschehen eher eine Teilung erkennt. Ein Nationalstaat aller Deutschen hätte nämlich die Zerstörung der Habsburgermonarchie nach sich gezogen und unabsehbare Folgen für den gesamten Donau- und Balkanraum mit sich geführt. Die Zerstörung Österreichs kam für Bismarck folglich nicht in Betracht. Er schonte den alten Kaiserstaat nach der Schlacht von Königgrätz.
Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1885, von hier
Mit der Kaiserproklamation in Versailles erstreckten sich dann „zwei deutsche Reiche“, wie man in Russland gerne sagte, in der Mitte Europas, die zusätzlich seit 1873 durch verschiedene Bündnisse eng miteinander verbunden waren. Dieses Bündnis war in gewisser Weise eine Form der Fortsetzung des Deutschen Bundes und stellte das neu geschaffene Reich sogleich hinsichtlich seiner Verteidigung und Sicherheit wieder in eine übernationale Position.
Der Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 schuf für ein knappes halbes Jahrhundert eine neue europäische Ordnung. Benjamin Disraeli erkannte rasch, dass dieser Einschnitt in die europäische Geschichte tiefer sein würde, als es derjenige der französischen Revolution gewesen ist. In einer gewissen Weise waren die Reichsgründung und das aus ihr erwachsende Einvernehmen der konservativen Kaisermächte die eigentliche Gegenrevolution. Disraeli sprach sogar von der „deutschen Revolution“ als Gegensatz zur „französischen Revolution“. Ihr Kern lag darin, die Verhältnisse nicht zu zerstören, sondern an die innere Struktur wieder anzuknüpfen und sie gleichsam lebensfähig zu machen. War also die französische Revolution ein Angriff auf das alte Europa, so war die deutsche der Versuch einer Wiederherstellung.
Mit dem Bündnis zwischen dem Reich und Österreich hat Bismarck den Deutschen Bund wiederaufgenommen, nicht der Form, sehr wohl aber seiner Funktion nach.
Bismarck selbst sagt dazu in seinen Gedanken und Erinnerungen: „Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für niemanden etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige Assekuranz beider in dem deutschen Bundesverhältnis von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.“
Er spricht selbst von den „beiden deutschen Reichen“ und nimmt Bezug auf den Bund. Das Zitat ist übrigens Teil seiner Argumentation gegenüber seinem Kaiser, der das Bündnis mit Österreich 1879 zunächst mehr als Gefahr für das Einvernehmen mit Russland angesehen hat und es darum ablehnte. Er sollte sich irren, denn das Bündnis mit Österreich zog dann 1881 den Drei-Kaiser-Bund gleichsam nach sich.
Zwei Bestrebungen trafen nämlich seit 1871 radikal und kontrovers aufeinander. Das neue Reich hatte jedes Interesse daran, den gewonnenen Bestand zu bewahren, seine friedliche Entwicklung in jeder Hinsicht zu fördern und zu diesem Zweck sich jeder Unterstützung zu versichern, die es bekommen konnte. Bismarcks defensive Bündnispolitik war dafür das beste Indiz.
Frankreich hingegen verfolgte verbissen die Revision des Frankfurter Friedens, was ohne die Zerstörung des preußisch-deutschen Staates aber nicht möglich war.
Alle anderen Mächte vertrauten zunächst vollständig den friedlichen und Frieden stiftenden Absichten Bismarcks. Der Berliner Kongress 1878 und die Kongokonferenz 1884/85 waren dafür wichtige Beispiele. Bismarcks Bestreben war es tatsächlich, das Reich im Konzert der europäischen Mächte als „ehrlichen Makler“ zu platzieren. Darüber hinaus gelang es dem Fürsten, das Einvernehmen der drei Kaisermächte immer wieder herzustellen.
Anton von Werner, Berliner Kongreß, 1892, von hier
Das war insbesondere auf dem
Berliner Kongress von 1878 nicht ganz leicht. Eine Schilderung des Fürsten lässt es uns ahnen und gibt darüber hinaus ein wunderschönes Beispiel für seine eindrucksvoll bildreiche Sprache: „Meine angedeutete, endlich ausgesprochene Forderung, die russischen Wünsche uns vertraulich, aber deutlich auszusprechen und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den Eindruck, dass Fürst Gortschakow von mir, wie eine Dame von ihrem Verehrer, erwartete, dass ich die russischen Wünsche erraten und vertreten würde, ohne dass Russland selbst sie auszusprechen und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte.“
Dennoch gelang es Bismarck immer wieder, den Faden zu Russland weiterzuspinnen und auch die Konflikte zwischen Österreich und Russland so weit wie möglich und nötig auszugleichen.
Dies gründete in seiner ehrlichen Überzeugung davon, dass für das Reich auch ein gewonnener Krieg keinen Siegespreis mehr in Aussicht stellte, der es wert wäre, ihn zu führen.
Das vorwiegend protestantische Deutsche Reich begann, mit seiner Rolle als Mitte und Vermittler und im Bündnis mit dem katholischen Österreich-Ungarn und dem orthodoxen Russland etwas von dem zurückzugewinnen, was die Bedeutung des alten Reiches ausgemacht hat. Auch die Symbolik der drei Kaiser und der drei Konfessionen spricht hier für sich.
Die Situation Europas war dadurch gekennzeichnet, dass es keine äußeren Feinde hatte, sondern nur sich selbst durch Revolution und Nationalismus zum Feind werden konnte und genau das galt es zu verhindern.
Das Einvernehmen mit Österreich-Ungarn und ein verlässliches Verhältnis zu Russland waren dazu zwingend erforderlich, weil ein Ausgleich mit Frankreich unmöglich blieb, solange es die Realitäten des Frankfurter Friedens nicht anerkannte. Ohne Bündnis mit Russland drohte also der Zwei-Fronten-Krieg. Ohne Bündnis mit Russland entstand die gefährliche Situation, die dann auch 1914 in die Katastrophe führen sollte.
Für Bismarck war immer maßgeblich, was er am 5. Dezember 1888 dem kolonialbegeisterten Eugen Wolf, der ihm eine Karte Afrikas zeigte, sagte: „Ihre Karte ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika.“
Weil also ein Bündnis mit Frankreich ausgeschlossen blieb, war das Einvernehmen mir Russland immer existenziell und nie nur irgendwie sentimental. Die drei Kaisermächte konnten den Frieden immer nur gemeinsam wahren. Sie waren das Rückgrat einer antirevolutionären Ordnung, wenn dieses Rückgrat brach, dann drohten schlimmere Umbrüche als die der vorangegangenen Revolutionen. Deshalb musste auch Russland immer wieder verdeutlicht werden, dass es vom Frieden am meisten profitieren würde und jeder Krieg es in seiner Existenz bedroht. Der Fortgang der Geschichte hat die Richtigkeit dieser Einschätzung wieder und wieder bestätigt.
Die anderen europäischen Mächte nutzten allerdings die zugegebener Maßen ungewöhnliche Situation, dass das Reich in der Mitte, die naturgemäß vermittelnde Gewalt, im Gewand eines Nationalstaats daherkam, um diese zu unterminieren und zu diskreditieren. Das war aber erfolgreich nur möglich, nachdem 1890 das Einvernehmen mit Russland aufgegeben und der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert worden war.
Man war in Berlin sogar so naiv oder dumm, die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, der ja ein Geheimvertrag gewesen ist, nach London zu melden, vermutlich in der Erwartung, dafür Sympathie zu ernten.
Die britische Reaktion war aber abwägend kühl, denn Deutschland hatte durch diese Entscheidung deutlich an Gewicht verloren und war für ein festes Bündnis sogar weniger attraktiv.
Bismarck Denkmal im alten Elbpark in Hamburg, von hier
Der Fortgang der Geschichte ist so bekannt wie tragisch. Insbesondere nach den Marokkokrisen wurde der Vorwurf stereotyp erhoben, dass das Reich nach der Vorherrschaft in Europa strebe und es wurde immer wieder das unscharfe Argument von der Störung des Gleichgewichts in Europa erhoben, und das, obwohl den „beiden deutschen Reichen“ seit 1908 die verbündeten Weltreiche Großbritanniens, Frankreichs und Russlands gegenüberstanden. Eine merkwürdige Vorstellung vom Gleichgewicht.
Alles das ist heute aber schon gar nicht mehr unser Thema. Ein bloßer Blick auf die Landkarte lässt deutlich werden, wie dramatisch die Folgen davon waren, dass man in Deutschland glaubte, einer „Welt von Feinden“ durch militärische Stärke und allein mit Österreich-Ungarn trotzen zu können. Dass Russland im panslawistischen Wahn glauben wollte, dass der Weg nach Konstantinopel durch das Brandenburger Tor führt und dass Frankreich für Revanche und Elsass-Lothringen kein Preis zu hoch war.
Erst 1990, genau 100 Jahre nachdem das Einvernehmen mit Russland aufgegeben worden war, öffnete sich die Tür zu einem neuen Versuch, die Gestalt Europas zurückzugewinnen. Aber er scheint auch diesmal zu scheitern.
Wir meinen gern, heute wäre das Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten und zu Amerika ein anderes und wir wären von Freunden umgeben.
Der Ukrainekrieg muss uns aber nachdenklich machen, weil neben dem Angriff auf die Ukraine nach wie vor der Angriff auf deutsche Infrastruktur in der Ostsee steht. Wer auch immer verlangt, dass politische Interessen in Europa nicht mehr gewaltsam und mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden dürfen, der sollte an keinem dieser Angriffe beteiligt gewesen sein.
Mir ging es heute einzig darum aufzuzeigen, wie sehr Bismarck in der geschichtlichen Wirklichkeit zuhause war und wie umsichtig und verantwortungsvoll er dem Reich und Europa gedient hat. Die von ihm geschaffene Ordnung des Frankfurter Friedens hatte Europa in die Situation gebracht, dass es keine Feinde mehr hatte außer den Krieg selbst. Es war ihm gelungen, die Funktion des Reiches durch die Konstruktion der verbündeten beiden deutschen Mächte und die „Heiligen Allianz“ durch ihre Übersetzung in die Erfordernisse der modernen Staatenwelt wiederherzustellen und durch sie beide den Frieden zu sichern.
Wie weit unsere Gegenwart von diesen Vorstellungswelten entfernt ist zeigt ein Zitat von Ernst Moritz Arndt, mit dem ich schließen möchte: „Und weil ihr das Herz sein solltet von Europa, seid ihr mir lieb gewesen, wie mein eigenes Herz, und werdet mir lieb bleiben ewiglich.“