Samstag, 28. Juli 2018

Etwas Winter


Barthold Hinrich Brockes / Rezitation: Bettina Radener

Barthold Hinrich Brockes

Wintergedanken

Wie hat es diese Nacht gereift!
Mein Gott, wie grimmig stark muß es gefroren haben!
Wie schwirrt und schreit, wie knirrt und pfeift
Der Schnee bei jedem Tritt! Mit den jetzt trägen Naben
Knarrt, stockt und schleppt der Räder starres Rund,
Ja weigert gleichsam sich, den kalten Grund
Wie sonst im Drehen zu berühren.
Fast alles drohet, zu erfrieren,
Fast alles droht für Kälte zu vergehn.

Wie blendend weiß ist alles, was ich schau,
Sowohl in Tiefen als in Höhn;
Wie schwarz, wie dick, wie dunkelgrau
Hingegen ist der ganze Kreis der Luft,
Zumal da das noch niedre Sonnenlicht
Annoch nicht durch die Nacht des dicken Nebels bricht.

Es scheint, als könne man in einem greisen Duft
Die Kälte selbst an jetzt recht sichtbar sehn;
Sie fänget überall ergrimmt an zu regieren.
Drei Elemente selber müssen
Ihr schwer tyrannisch Joch verspüren
Und deren Bürger all das strenge Szepter küssen,
Das allem, was da lebt, Verlähmung, Pein und Tod,
Ja selber der Natur den Untergang fast droht. -

Laß aber, lieber Mensch, auch du, soviel an dir,
Dein Herz zum Mitleid doch bewegen,
Damit dein Liebesfeur dein armer Nachbar spür;
Komm, lindre seine Not mit deinem Segen.
Such ihm in scharfem Frost ein Labsal zu bereiten,
Damit, wie Hiob spricht, auch seine Seiten,
Wenn sie, durch deine Hülf erwärmt, dich preisen
Und so durch dich dem Schöpfer Dank erweisen.


Gottfried Keller / Rezitation: Otto Mellies

Gottfried Keller

Winternacht

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee.
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet' sie
An der harten Decke her und hin,
Ich vergeß' das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!


Antonio Vivaldi - L'Inverno (Winter), English Chamber Orchestra; 
Leonard Slatkin; José Luis Garcia, hier gefunden

Friedrich Hölderlin

Der Winter

Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder
Der Jahreszeit, so kommt des Winters Dauer,
Das Feld ist leer, die Ansicht scheinet milder,
Und Stürme wehn umher und Regenschauer.

Als wie ein Ruhetag, so ist des Jahres Ende
Wie einer Frage Ton, daß dieser sich vollende,
Alsdann erscheint des Frühlings neues Werden,
So glänzet die Natur mit ihrer Pracht auf Erden.

Winter

When vanished and no longer seen are illustrations
of season, then arrive the winter hours:
the field is empty, mild seem its ablations
and storms blow to and fro with rains and showers.

As if a day for rest, so is this year's cessation
just like a questioning chord requesting consecration:
then Spring's becoming enters the creation
and Nature shines on Earth in glorious elation.

Übersetzung / Translation
von / by Walter A. Aue


François Couperin / Grigory Sokolov

Dienstag, 24. Juli 2018

Carl Gregor Herzog zu Mecklenburg


Alexander-Newski-Kapelle, hier gefunden
weiteres zum Bild folgt unten

„Seine Hoheit 

Dr. phil. Carl Gregor Herzog zu Mecklenburg, Prinz von Mecklenburg-Strelitz, M.A., Fürst zu Wenden, Schwerin und Ratzeburg, Graf zu Schwerin, Herr der Lande Rostock und Stargard ist 

heute morgen, am Montag, den 23. Juli an seinem Wohnsitz, der Villa Silberburg in Hechingen, im 86. Lebensjahr friedlich eingeschlafen.

Der Herzog wurde als viertes Kind des Herzogs Georg zu Mecklenburg und seiner Frau Irina am 14. März 1933 auf Schloss Remplin bei Malchin geboren. Nach dem Brand des Schlosses 1940, dem Verlust des Wohnsitzes in Berlin durch einen Bombentreffer, der Inhaftierung des Vaters im KZ Sachsenhausen verbrachte er die Nachkriegszeit in Sigmaringen und Hechingen. Er studierte Kunstgeschichte, wurde an der Universität Tübingen promoviert und leitete das Diözesanmuseum in Rottenburg.

Er war das letzte in Mecklenburg geborene Mitglied des ehemals regierenden Fürstenhauses.
Seit 1965 war Herzog Carl Gregor mit der Prinzessin Maria Margarethe von Hohenzollern verheiratet, die 2006 verstarb. Die Ehe blieb kinderlos.“

Soweit die offizielle Mitteilung.

Herzog Carl Gregor war der Onkel des heutigen Chefs des Hauses Mecklenburg, Georg Borwin.  Über sein Leben findet man Näheres auf dieser Seite, eine ausführliche Biographie (in englischer Sprache) auf der inoffiziellen Website des Großherzoglichen Hauses.

Alexander-Newski-Kapelle, Inneres

Alexander-Newski-Kapelle
hier gefunden

Wie Architektur aus einem Feenmärchen

Die Alexander-Newski-Kapelle & einige Erläuterungen

Die Alexander-Newski-Kapelle im Alexandria-Park von Peterhof, der Sommerresidenz der Zaren, wurde ab 1831 im Auftrag von Nikolaus I. nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbaut und 1834 geweiht. Sie war die private Familienkirche der Romanows.

Maria Feodorowna, Gemahlin von Alexander III. und Mutter des letzten Zaren Nikolaus II., wurde allerdings vor ihrer Umbettung in die Familiengruft der Kaiserfamilie in der Peter-und-Paul-Kathedrale in Sankt Petersburg 2006 an diesem Ort aufgebahrt, verbunden mit einem Trauergottesdienst.

Selbst bloß von diesen Abbildungen her (die man hier aufsuchen kann) schlägt dieser Bau in seinen Bann. Als Schinkel-Bewunderer erscheint er einem seltsam vertraut, und man gewinnt nicht einmal den Eindruck, daß er sich auf russischem Boden fremd ausmacht.

Als Strelitzer ist man noch einmal verwundert, weil man sich an unseren Baumeister Buttel und seine Neustrelitzer Schloßkirche erinnert fühlt. Ohne ins Detail gehen zu wollen, ist die Verwandtschaft verblüffend. Nun war Buttel gewissermaßen ein Schüler Schinkels und wurde auf dessen Empfehlung hin 1821 in Mecklenburg-Strelitzsche Dienste aufgenommen.

Ob diese Nähe aus der Vertrautheit mit der Ideen- und Formensprache, die er bei Schinkel gelernt hat, rührt oder aus der tatsächlichen Kenntnis von Entwürfen, kann dahingestellt bleiben. Aber wir haben schon einmal eine Verbindung nach Strelitz, die das obige Bild nicht gar so willkürlich erscheinen läßt.

Die andere Verbindung: Herzog Carl Gregor war ein Angehöriger des „russischen“ Zweiges der Strelitzer Herzogsfamilie. Georg zu Mecklenburg, jüngster Sohn des Großherzogs Georg, hatte 1851 die Großfürstin Katharina Michailowna Romanowa geheiratet, Enkelin Zar Pauls I. und Tochter von Großfürst Michael Pawlowitsch Romanow, einem Bruder Nikolaus I.

Nachdem mit dem Freitod von Großherzog Adolf Friedrich VI. 1918 das Haus Mecklenburg-Strelitz in männlicher Linie ausgestorben war, hat der Baum des Herzogshauses gewissermaßen in diesem Zweig überlebt. Der heutige Chef des Hauses Mecklenburg, Georg Borwin, ist der Neffe des Herzog Carl Gregor. Die Erinnerung an die Romanows, die die beiden Bilder aufrufen, ist also nicht ganz willkürlich. Wir schauen gewissermaßen auf eine Linie im Mosaik dieser merkwürdigen europäischen Familiengeschichten.

Montag, 23. Juli 2018

Brockes - „Die Hummel fliegt mit Brummen hin und her“


Brockes, Barthold Heinrich

Irdisches Vergnügen in Gott

Die Hummel fliegt mit brummen hin und her;
Ihr Cörper ſcheinet in ſich ſchwer,
Als wenn er in der Luft ein kleiner Bär
Mit Flügeln wär.

Noch mehr: Man ſiehet offt an einer Roſen hangen
Faſt aller Edelſteine prangen,
Im Mayen-Käferchen vereint.
Sprecht, ob die ſpielenden Opalen
Veränderlicher ſtrahlen.


Wer muß ſich nicht recht inniglich ergetzen,
Und in der Luſt ſich nicht zugleich entſetzen,
Wann er das Heer der bunten Schmetterlinge
Beſieht, und ihren Putz erweget?

Es ſind wahrhaftig Wunder-Dinge
Den bunten Flügeln eingeprägt.
Man wird mit groſſem Rechte können
Sie fliegende lebendge Bluhmen nennen.



Man theilet ſie, nicht unrecht, insgemein
In Nacht-und Tage-Eulchen ein,
Die alle wunderlich formiret,
Die alle wunderlich gezieret:

Damit ſo gar des Nachts die Luft nicht leer
Von Göttlichen Geſchöpfen wär.
Man kann der Farben Unterſcheid,
Man kann der Bildung Nettigkeit,
Aus welcher ſie beſtehn,
So wenig, als die Zäſer*, zehlen.


*„Zäser“, niederdeutsch für „Käfer“

Barthold Heinrich Brockes (1680–1747): "Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten" in neun Bänden, 1721 ff.
nachgetragen am 25. Juli

Dienstag, 17. Juli 2018

Zum Gedenken an Nikolaus II. von Rußland

Nikolaus II. mit seiner Gattin Alexandra
und den fünf gemeinsamen Kindern (1913), hier gefunden

Manchmal wird ein ganzes Leben aus seinem Tod gerechtfertigt. Heute ist der Gedenktag des Heiligen der russisch-orthodoxen Kirche Nikolaus II. von Rußland und seiner Familie. In der Nacht auf den 17. Juli 1918 wurden sie mit ihren letzten Getreuen im Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg durch die sog. „Bolschewiki“ hingemordet. Als Nikolaus dessen gewahr wurde, was die Absicht der Mörder war, stellte er sich in einer denkwürdigen Wendung vor seine Gattin Alexandra, die 4 Töchter und den Zarewitsch Alexei, als könne er mit seinem Leib die Kugeln aufhalten, die seiner Familie galten. Erfolglos natürlich. Die Töchter hatten in ihre Kleider Schmuckstücke eingenäht, und als die Kugeln deswegen von ihnen abprallten, wurden sie mit Bajonetten niedergestochen, bis ihr Wimmern erstarb.

Nikolaus II. nach der Abdankung, März 1917

Vor 100 Jahren begann die vollendete Selbstzerstörung Europas ihre dämonischen Folgen auszuspeien und dem sinnlosen Grauen des Krieges folgte ein Jahrhundert des Irrsinns. Die Hinmordung der Zarenfamilie ist darin ein sinnfälliges Ereignis.

„Wir haben eine neue Moral. Unser Humanismus ist absolut, denn er gründet sich auf den Wunsch nach Abschaffung jeder Unterdrückung und Tyrannei. Uns ist alles erlaubt, denn wir sind die ersten in der Welt, die das Schwert nicht erheben, um zu unterdrücken und zu versklaven, sondern im Namen der Freiheit… Wir führen nicht gegen einzelne Krieg, wir wollen die Bourgeoisie als Klasse vernichten.“ („Das Rote Schwert“ 18.8.1919, Zitat hier gefunden)

Aus dem „Roten Schwert“ sprach die Tscheka, das spezielle Terrorinstrument der Bolschewiki. Und die Vernichtung als Klasse ist sehr wörtlich und vor allem physisch zu verstehen. Hinter dem Codewort „Bourgeoisie“ steht alles, was der Gesellschaft Struktur, Kompetenz und Bedeutung gegeben hatte -  Gelehrte, Geistliche, freie Bauern, Offiziere, Kaufleute, Beamte… Diese Menschengruppen wurden umgebracht, ausgehungert, mindestens dezimiert, bis die Gesellschaft soweit atomisiert worden war, daß das Unterste nach oben gekehrt frei lag und man sein großartiges Menschheitsexperiment einer völlig neuen „freien“Gesellschaft beginnen konnte.

Schätzungen gehen von mindestens 20 Millionen Toten der Revolution aus (Die Revolutionäre waren nicht sehr bekannt für eine akkurate Buchführung über ihre Opfer). Alexander Solschenizyn, der Chronist des „Archipel Gulag“, schrieb von vierzig bis fünfzig Millionen Häftlingen, die die späteren Lager bevölkerten oder dort starben. Ab wie viel Millionen ist eine eigentlich “gute Idee” ein wenig diskreditiert?

Allein die Zahlen sind so monströs, daß das Vorige, weswegen dies doch alles angeblich notwendig geworden war, in den schwärzesten Farben gemalt werden mußte Und man war damit erfolgreich. Noch heute wird die historisch desinteressierteste Putzfrau (und warum sollte sie sich interessieren) zumindest von jemandem gehört haben, daß die russischen Zaren etwas sehr Böses waren. Über das danach wird sie eher nichts wissen.

Nun wie böse?  Üblicherweise wurden Straftäter (ob politische Gefangene oder wirkliche Verbrecher) nicht getötet, sondern nach Sibirien verbannt (so Lenin 1897 - 1900 und Stalin 1913 - 1917 in das damalige Gouvernement Jenisseisk). In den zaristischen Straflagern sollen in den 1830er Jahren 8.000, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 30.000 Menschen gefangengehalten worden sein (insgesamt, wie gesagt).

Von 1825 bis 1917 - 6360 politisch Verurteilte, davon 3932 hingerichtet. Das mag man alles finden, wie man will, aber es wurden jedenfalls nicht systematisch Menschen umgebracht, und die Größenordnungen unterscheiden sich im Verhältnis von vielleicht 1 : 10.000. Diese Zahlen werden aber niemanden beeindrucken, weil sie die „gefühlte“ Wahrheit nicht berühren, allenfalls wird man„moralische“ Empörung über diese Art von Buchhaltung hören (Man tue sich nur einmal den Tort, in die Kommentare zu den wenigen Artikeln zu schauen, die aus Anlaß dieses Datums geschrieben wurden).

Nun galt das Zarenreich in Westeuropa auch vor 1917 durchaus als rückschrittlich, repressiv etc. Beispielsweise hielt man in der Reichsregierung eine formelle Kriegserklärung an Rußland für geboten, weil man damit die öffentliche Meinung, einschließlich der Sozialdemokratie, auf seiner Seite wußte.

Jekaterinburg, Kathedrale auf dem Blut

Aber wir wollen uns gar nicht in die Frage vertiefen, wie rückschrittlich Rußland am Ende der Zarenherrschaft tatsächlich war und woran sich Fortschritt eigentlich bemißt. Und es geht mir beim besten Willen nicht um eine Apotheose des Zarentums. Was mit weiterem Grausen erfüllt, ist etwas sehr anderes, nämlich das Bild, das entsteht, nachdem man sich in die Zeit vor Ausbruch des 1. Weltkrieges vertieft hat.

Und jetzt müßten wir das ganze alte Europa in den Blick nehmen. Es ist eine wirkliche Quälerei. Man hatte einen Höchststand von Kultur und Zivilisation erreicht, Technik und Wissenschaft erblühten, sozialer Fortschritt wie Lebenserwartung, Bildungsstand, die materielle Grundlage des Lebens breitester Schichten verbesserten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Europa wurde zu einem Leitbild für die Welt (auch wenn dieses heute als kolonialistisch herabgesetzt wird).

Doch die Großmächte beäugten sich mißtrauisch und sorgten sich um ihre Einflußzonen! Das Empire neidete dem Deutschen Reich den wirtschaftlichen Aufstieg und das damit einhergehende wachsende politische Gewicht, Frankreich suchte Revanche für 1871, Rußland und Österreich-Ungarn rangen um die Beherrschung des Balkan, Rußland wollte das Osmanische Reich beerben und mindestens die Dardanellen für sich.

Und all diese politischen Planungen, Intrigen und Aktionen gingen mit einer Sorglosigkeit und Ignoranz, Eitel- und Böswilligkeit, mit selbstgefälliger Ahnungslosigkeit gepaart einher, daß es einen eben graust (da man heute die Folgen kennt).

Daß die Briten der erfolgreiche germanische Konkurrent mißmutig machte, ist noch plausibel (man spürte, man hatte seine Kräfte überspannt, und sah sich gleichzeitig mit einem gottgegebenen Recht auf Weltherrschaft versehen), Frankreichs Groll, nun ja. Aber Rußland? Die Motive der politisch bestimmenden Kräfte Rußlands bleiben rätselhaft. Man kann zwar nicht bei der noch herrschenden (west-) deutschen Geschichtswissenschaft, aber doch inzwischen bspw. bei Christopher Clark nachlesen, wie mindestens die politische Führung Serbiens in das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger verwickelt war. Wie Rußland dann Serbien ermunterte und nach der Kriegserklärung der Monarchie an Serbien gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn mobil machte.

Es war eben leider Zar Nikolaus II. der 1914 mit der Generalmobilmachung der russischen Armee die Aktivierung der Bündnisverpflichtungen in Gang setzte, die in den Ersten Weltkrieg münden sollten. Es geht nicht um einseitige Schuldzuweisungen. Die europäischen Mächte hatten gewissermaßen kollektiv den Verstand verloren. Aber Rußland, das mit dem 1905 verlorenen Krieg gegen Japan und den folgenden Unruhen noch hinreichend strapaziert war, sich innerlich erkennbar instabil zeigte - das letzte, was Rußland gebrauchen konnte, war ein weiterer Krieg. Das schwache alte Rußland hat mit seiner Unterstützung Serbiens und dem, was daraus folgte, gewissermaßen eine Art von Selbstmord begangen. Und für was, die Dardanellen?

Was brachte Nikolaus II. zu diesem Schritt? Zunächst, war es wirklich sein ureigenstes Anliegen? Zar Nikolaus wird gemeinhin als geistig wenig interessiert, ja entscheidungsschwach beschrieben, dafür aber ausgeprägt konservativ.

Zu  letzterem. Sein Großvater Alexander II. wurde 1881 Opfer eines Attentats. Der damals zwölfjährige Nikolaus war Zeuge seines Todes. Das dürfte ihn nicht ganz unbeeindruckt gelassen haben. Er galt nicht als unsensibel, und wenn er stark gespürt haben sollte, wie die Dinge wegzubrechen drohen, sich dann an einer Art von Konservativismus festzuhalten, nun ja. Er wuchs nach dem Attentat ziemlich abgeschirmt auf, ebenfalls nachvollziehbar, galt als charakterlich gefestigt, pflichtbewußt, aber eher schüchtern. Sein Vater hielt es nicht für erforderlich, ihn frühzeitig wirklich auf das Zarenamt vorzubereiten, starb aber bereits am 1. November 1894. Das machte Nikolaus mit 26 Jahren (nach gregorianischem Kalender am 18. Mai 1868 geboren) zum Herrscher. Daß jemand unter diesen Umständen Neuerungen gegenüber nicht unbedingt aufgeschlossen ist und von Ratgebern abhängig, was Wunder.

Hinzu kommt, daß seine tief religiöse Gattin, welche er zutiefst verehrte, ihn kaum zu unterstützen vermochte. Als 1904 endlich Thronfolger Alexej zur Welt kam (man befand sich gerade im Krieg mit Japan), erwies es sich, daß er die „Bluter“-Krankheit hatte. Das befeuerte den Aberglauben im Volk (welches bereits voreingenommen war, 1896 etwa hatte sich beim Volksfest auf dem Chodynkafeld anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten eine Massenpanik mit 1389 Opfern ereignet). Die Niederlage machte ein übriges. Man mißtraute der „Deutschen“,  noch gesteigert, als diese verzweifelt Hilfe für den Thronfolger Alexej vom „Wunderheiler“ Rasputin erhoffte (der schließlich im Dezember 1916 von nahen Verwandten des Zaren ermordet wurde). Irritierenderweise gibt es Berichte, daß sich der Gesundheitszustand Alexejs tatsächlich gebessert hatte.

Man kann aber vermuten, daß auch Nikolaus selbst Ziel des Mißtrauens patriotischer und panslawistischerer Kreise wurde, die erheblich Auftrieb hatte, wie ganz Europa vom Furor des Nationalismus geschüttelt wurde (etwas, das besonders die Donaumonarchie bedrohte und woran sie schließlich auch u.a. zerbrechen sollte). Nikolaus‘ Widerwillen gegen den Krieg machte ihn vor diesem Hintergrund förmlich mit dem Vorwurf der Schwäche erpreßbar.

Clark bringt eine interessante Charakterisierung, die wir ausnahmsweise zitieren wollen: „So gut wie alle, die den Zaren kannten..., sind sich einig, dass er zwei Wesenszüge in sich vereinte, die sich schlecht miteinander vertrugen. Das eine war ein überaus verständliches Grauen vor der Aussicht eines Krieges und der damit verbundenen Zerstörung für sein Land; das andere war seine Empfänglichkeit für das hochtrabende Pathos nationalistischer Politiker und Reden, eine Vorliebe für Männer und Maßnahmen, welche die patriotischen Gefühle aufputschten.“ (Die Schlafwandler, S. 654)

Ein dringliches Telegramm Wilhelm II. hielt die Mobilmachung dann auch noch einmal an, für einen Tag. Was immer Nikolaus II. letztlich bewogen haben mag, welche Irrtümer, Illusionen, Schwächen immer. Systematische Bösartigkeit war es nicht. Die blieb anderen Akteuren vorbehalten. Der weitere Fortgang der Dinge läßt sich schnell zusammenfassen. Kurzzeitig gelang es den Russen zwar, in Ostpreußen einzufallen, sie wurden dort aber geschlagen und erlitten danach gegen die deutschen Truppen eine Niederlage nach der anderen. Gegen die Österreicher war man zwar etwas erfolgreicher, aber im ganzen war die Kriegsführung desaströs und mit großen eigenen Opfer verbunden. Die Armee begann zusammenzubrechen, Hungerunruhen Anfang 1917 besiegelten das Ende. Der Zar dankte ab und wurde von der bürgerlichen Regierung, die auf die „Februarrevolution“ gefolgt war, unter Hausarrest gestellt. Nach dem Putsch der Bolschewiki im Herbst 1917 fiel die Familie in deren Hände. Das Ende ist eingangs beschrieben.

Nicht nur auf russischer Seite wurde der Krieg mit selbstzerstörerischer Verbissenheit geführt. Für die „Westfront“ gilt dies mindestens in ebensolcher Weise. Was dabei besonders verstört, ist, daß dieses massenhafte gegenseitige Töten, das beispiellos zur vorigen Geschichte Europas dasteht, um förmlich nichts geführt wurde. Nichts, das irgendeine Art von Sinn ergeben würde.

Wahrscheinlich deshalb mußte man nach Kriegsende alle Schuld auf die Verlierer abwälzen und seitens der Alliierten die monströse Lüge von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands in die Welt setzen und mit dem Versailler „Frieden“ den Krieg gewissermaßen auf andere Art fortführen.

Das Grauen, das uns angesichts dieser Ereignisse entgegentritt, geschieht sozusagen in drei Akten, die Hybris und Verblendung, mit der der Krieg begonnen wurde, das furchtbare Ausmaß der auch moralischen Selbstvernichtung in diesem Krieg und wie diese auch geistige Verwüstung  den Dämonen ein Tor geöffnet hat, durch das sie eifrig einfielen, um das Werk der Zerstörung zu vollenden. Es ist mehr als zynisch, daß die Briten diesen Krieg noch immer „Great War“ nennen. Nichts daran war groß.

Das Ausmaß der inneren Selbstzerstörung Europas, das sich in den folgenden Jahrzehnten zeigt, beschreiben zu wollen, würde jeden überfordern. Darum ist es auch so schwierig, über Gedenktage wie diesen zu schrieben. Denn wer deren Tiefe erahnt, gerade als Konservativer, ist vor allem eines, entsetzt. Und mit nichts macht man sich so lächerlich, als wenn man selbstgefällig über die Geschichte zu Gericht sitzen wollte. Was also bleibt übrig?


Ikone der Zaren-Familie

Sicher kein Versuch einer Gegengeschichtsschreibung. Menschen, die davon überzeugt sind, daß es aus höheren Gesichtspunkten gerechtfertigt ist, Kinder zu töten, sind in ihrem verbohrten Ressentiment nicht mehr erreichbar. Aber einfache Beobachtungen sind hilfreich, so wie etwa gegen den Geschichtsrelativismus spricht, daß man zusehen kann, wie die Lügen vergiften und auflösen, also scheint es doch so etwas wie Wahrheit zu geben.

Mögen die Briten weiter an ihren Großen Krieg erinnern, selbst die Überreste ihres Empire zerbröseln ihnen gerade. Mögen die Apologeten einer deutschen Kollektivschuld sich immer tiefer in die deutsche Seele vorgraben, um dort weitere Schichten der Schuld zu finden, wo sie doch eigentlich weder an Deutsches, noch an die Seele, noch an den Wert überindividueller Gemeinschaften glauben.

Wer mit Absichten an die Geschichte herantritt, hat schon verloren. Aber ein Versuch, sie mit interesselosem Bemühen zu sehen, ist vielleicht möglich und entfaltet seine Folgen von selbst. Jetzt mag man mit versteckten Motiven, Perspektiven etc. dagegen anklügeln. Darüber zu räsonieren, lohnt nicht, die Haltung selbst zählt – Kritik, Neugier und Neigung zum Eigenen. Was ist an Neigung interesselos? Nun, wer das Eigene für wertvoll hält, wird es der Wahrheit aussetzen wollen, weil es sich nur in dieser zu erhalten vermag. Und er kann so die Gefährdungen erkennen, die üblicherweise in der Verstellung des Guten, Wohlmeinenden und Vernünftigen daherkommen.

Ganina Jama, Romanov memorial

Mit Pilatus zu reden: Was ist Wahrheit? Wahrheit ist Aufrichtigkeit im Erinnern und das Suchen nach Symbolen der Heilung. Ein Symbol der Heilung ist, daß am 20. August 2000 Nikolaus II. mit seiner Familie unter die Heiligen der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wurde. Die Kirche auf dem Blut in Jekaterinburg, von wo aus hunderttausend Pilger in der Nacht auf den 17. Juli dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill, auf einem 21 Kilometer langen Kreuzweg folgten, in den Wald von Ganina Jama, dem hölzernen Kloster, wo jedem ermordeten Familienmitglied von Hand eine Kirche erbaut worden ist. Das ist Wahrheit.

Aber das ist Religion, höre ich den Einwand. Was sonst.

Nikolaus II. im Kloster der "Heiligen Zarenmärtyrer"
Ganina Jama gewidmete Kirche, hier gefunden

nachgetragen am 20. Juli

Sonntag, 8. Juli 2018

Glaube, Liebe, Hoffnung & Barmherzigkeit in der Stadtkirche zu Neustrelitz

Stadtkirche, Neustrelitz

Für diesmal konnte ich meine metaphysische Müdigkeit, die mich an Sonntagen derzeit  regelmäßig überfällt, erfreulich überwinden. Ein solch frohes Ereignis will ich dann auch gleich mit den Bildnissen von Glaube, Liebe, Hoffnung und Barmherzigkeit teilen. Die Figuren, recht anmutig aus Lindenholz geschnitzt, befinden sich in der Neustrelitzer Stadtkirche oberhalb des Altars, auf der Empore darüber. Ich durfte sie, Pf. Feldkamp gilt der Dank, nach dem Gottesdienst näher in Augenschein nehmen.

Geschaffen hat sie der Neustrelitzer Bildhauer Simon Gehle zur Entstehungszeit der weniger alten Kirche (1778 wurde sie geweiht). Und trotz ihres eher jungen Alters sind sie doch schon einige Male in ihr umhergewandert. Ursprünglich standen sie wohl vor dem Altar. Dann wechselten sie auf die Empore, dem Altar gegenüber. Als der Platz dort für die inzwischen wunderbar restaurierte Orgel von 1893 gebraucht wurde, nahmen sie den Ort der kleineren Orgel ein, die sich zuvor über dem Altar befunden hatte und früher aus Wanzka dorthin geschafft worden war.

Die Abbildungen sind, höflich gesagt, etwas „pastos“ geraten. Dafür könnte ich jetzt abwechselnd meine recht begrenzten Photographierfähigkeiten, die Schlichtheit der Kamera, das trübe Tageslicht oder den herzoglichen Leibmedikus Dr. Verpoorten verantwortlich machen. Ich entscheide mich für letztes.

Glaube, Fides

Die Stadtkirche ist, von außen betrachtet, von beeindruckender stiller Würde (Buttel hat bis 1831 den Turm hinzugefügt und die Außenfassade überformt). Sie hat im Innern im einzelnen viele Schönheiten, aber: Ich habe über den Leibmedikus Verpoorten, nach dessen Plänen sie entstanden ist, irgendwo den Begriff eines enthusiastischen Amateurarchitekten gefunden. Das mag sein. Aber Liebe allein genügt nicht immer.

Unterstellen wir einmal, was ich auch irgendwo gelesen habe,  er hätte tatsächlich die Königliche Schloßkapelle von Versailles als Vorbild genommen (nun ja), dieses auf die bescheidenen Neustrelitzer Verhältnisse heruntergebrochen und mit seinem Riß gewissermaßen eine Adaption vorgenommen. Hübsche Idee, und als Riß sah das bestimmt auch nett aus. Aber der begeisterte Architekturliebhaber hat etwa die Lichtverhältnisse nicht bedacht.

Die übermäßigen Emporen verschlucken fast jede Tageshelligkeit (so daß die nicht wenigen Schönheiten der Kirche gewissermaßen im Halbdunkel verdämmern). Zudem erdrücken sie förmlich den Innenraum, das macht, daß die Kirche eher als ein Theater mit Logen erscheint, gewissermaßen eine religiöse Erziehanstalt mit der Predigt als aufgeführtem Erbauungsstück. Das paßt gut zur protestantisch nüchternen Mentalität des 18. Jahrhunderts, und auch der ursprünglich vorhandene typisch evangelische Kanzelaltar fügt sich ins Bild. Die Predigt thront gewissermaßen über dem Sakrament. Doch wir schweifen ab.

Liebe, Caritas 

Kurioserweise gibt es ein Zeugnis vom damaligen Strelitzer Hof und über den Leibmedikus. Einen britischen Reiseautoren namens Nugent verschlug es sogar in diesen Teil Mecklenburgs und dort finden wir folgendes (Thomas Nugents "Reisen durch Deutschland und vorzüglich durch Mecklenburg", aus dem Englischen übersetzt, und mit einigen Anmerkungen und Kupfern versehen... Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai, 1781):

„Er ist mittelmäßiger Statur, von schwärzlichem, aber regelmäßigen Gesicht und ernsthaftem Wesen. Ohngeachtet er ein Hofmann, und wie man sagt, ein Favorit des Herzogs ist, so scheint er doch etwas blöde zu seyn. Sein Vater war Leibmedikus beym Herzog von Coburg, und der Sohn, der eben daher gebürtig ist, ward Leibmedikus beym vorigen Herzog von Strelitz, welchen Posten er auch beym itzt regierenden Herzog behalten hat... Der Doktor zeigte uns auch seine Naturaliensammlung, in welcher viele Seltenheiten vorhanden sind, vorzüglich aber fand ich hier eine ungeheure Menge roher und polirter Steine. Auch ist seine Foßilien- und Muschelsammlung eher nicht zu verachten. In meinem Leben habe ich nicht so viel Ammonshörner auf einem Haufn gesehen, als hier...“


Ich gebe zu, hier stutzte ich. Ein blödes schwärzliches Gesicht inmitten ansonsten höflichen Lobs, das paßte nicht (gut, es mag Milieus geben, in denen das..., doch nein, wir wollen nicht zeitgenössisch werden). Doch wenn man übersetzungshalber ins Original schaut, war er charakterlich eher verlegen, gar schüchtern und von dunkler Gesichtsfarbe. Das ist alles. Das macht ihn als Sonderling nahezu wieder sympathisch. Doch wir schweifen schon wieder ab.

Erneut zu den Figuren. Statuen können zwar offenkundig wandern, aber immer noch nicht sprechen, daher hat man ihnen typischerweise Attribute zugesellt. So daß man weiß, woran man ist.  Bei den christlichen Heiligen ist dies oft dasjenige, womit oder woran sie zu Tode gebracht wurden, um den Stand der Heiligkeit zu erlangen. Der Hl. Laurentius († 10. August 258 in Rom) hält einen Rost, die Hl. Agatha († um 250 in Catania) trägt ihre Brüste vor sich her. Wir gehen hier besser nicht ins Detail.

Wir sind ja auch schon sehr fern von diesen Dingen, in aufgeklärteren, luftigeren, abstrakteren, erdferner abgeklärten Zeiten, genauer, in den dort vorherrschenden Auffassungen. Und jetzt versetzen wir uns in die Rolle des unwissenden Besuchers und schauen uns die Statuen näher an. Figurenraten gewissermaßen. Nun sind wir im protestantischen Spätbarock, da sind die Attribute der christlichen Ikonographie schon etwas durcheinander geraten und verwildert. Aber versuchen wir einfach unser Glück.

Spes, Hoffnung

Glaube, Liebe und Hoffnung sind ein beliebter Topos protestantischer Kunst. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“ Heißt es bei Paulus im 1. Korintherbrief (13. 13). Mitunter gesellt man die Barmherzigkeit noch der Liebe zu. Mit den Namen sind wir also schon mal ziemlich auf der sicheren Seite.

Bei den Attributen müssen wir etwas knobeln. Spes, die Hoffnung, kann zahlreich charakterisiert werden - gen Himmel gestreckte Hände, ein aufgerichteter Blick, darüber eine Krone oder die Hand Gottes, ein Vogel im Käfig, Biene, Phönix, Taube, Blütenzweig, Füllhorn...  (wir tappen noch im Dunkeln), aber auch ein gesegneter Leib und, spät, der Anker. Wir haben einen Anker. Das Kreuz bei derselben Figur würde eher auf den Glauben deuten, aber wir haben, denke ich, die Hoffnung gefunden. Also Nr. 3 (von links gezählt).

Glaube, Fides. Das Kreuz ist schon vergeben und auch kein weiteres Mal vorhanden. Ein unterworfener Häretiker z.B. wäre auch ein paar Jahrhunderte zu spät dran, die gibt es jetzt überall, es hätte nicht mehr ganz in die Zeit gepaßt, ein Kelch mit Hostie, Fehlanzeige. Aber es kommen auch Bücher oder Schriftrollen mit einem Glaubensbekenntnis vor. Und wo wir in der Hl. Schrift vor uns hin blättern: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat (1. Joh. 5.4).  "Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" (1. Kor. 15.55)  Es wird der Glaube sein (also Nr. 1).

Barmherzigkeit, Misericordia 

Jetzt fehlen uns noch Liebe und Barmherzigkeit.  Die Barmherzigkeit, Misericordia (wörtl. etwa Erbarmen des Herzens) wird gewöhnlich an ihren Werken erkannt. Das spräche für Nr. 4. Unglücklicherweise sieht sie ein wenig aus, als hätte sie die falschen Drogen genommen (was immer das bedeuten mag). Man kann es diesen Abbildungen nicht gut ansehen, aber die Statuen sind im übrigen durchaus eindrucksvoll und künstlerisch überzeugend.

Uns fehlt die Liebe. Es gibt sie in 2 Variationen, als Caritas Dei (Liebe zu Gott) oder Caritas Proximi (zum Nächsten). Alle diese abstrakten Personifikationen tauchen in der christlichen Kunst übrigens eher spät auf (man hat sich zuvor lieber an konkrete Gestalten gehalten). Die Liebe wird gern gekrönt dargestellt, mit Flügeln oder brennendem Herz, mit Kelch, Lanze, Fackel, Füllhorn, Pelikan oder als Mutter mit Kindern, wie auf diesem eher gruseligen Gemälde von Julius Schnorr von Carolsfeld.


Und dann haben wir noch das Lamm. Zum Glück ist nur noch diese Figur übrig, und die Hinwendung zum Nächsten ist mit der Barmherzigkeit bereits hinreichend hervorgehoben. Es wird das Lamm Gottes sein, also Christus, das zu Füßen über der Hl. Schrift wacht. Auch die Liebe fußt wortwörtlich auf derselben, und Herz und Blick weisen gen Himmel.

Mir fiel eben ein. Virtus kommt von Vir (der Mann) und steht bekanntlich für Tapferkeit, Tugend, Tüchtigkeit, Leistung, Mannhaftigkeit, ist aber dem grammatikalischen Geschlecht nach weiblich.  Kein Wunder also, daß sie bildlich ebenso dargestellt wird. Entweder ein böser Trick des systemischen Patriarchats oder eine frühe Reflexion der Anima (i. S. Jungs), das darf man ganz nach Parteizugehörigkeit entscheiden.

Und noch ein letzter schräger Schlenker (der ein wenig an eine launige Bemerkung von vorhin anschließt). Die Vase auf dem abschließenden Bild ist neu, sie ist eine der beiden, die das Gebälk der hinter dem Altar aufragenden Schaufassade bekrönen.

Im Oktober letzten Jahres brach ein offenbar psychisch kranker 29-Jähriger, benebelt von Alkohol und Drogen, in die verschlossene Stadtkirche ein, verwüstete mit einem Feuerlöscher den Innenraum, schlug u.a. Fenster ein und warf benannte Vase nach unten. So entkirchlicht diese Gegend inzwischen ist, kommen Drogen ins Spiel, bricht der Diabolos sich doch wieder Bahn.

Denn warum hat sich der Verwirrte ausgerechnet eine Kirche für sein Toben ausgesucht, zumal das ja mit erheblichen Anstrengungen verbunden war, er mußte schließlich erst einmal hineingelangen. Nun steht diese blumenumkränzte Vase wieder proper an ihrem Ort, nur daß sie jetzt ebenfalls üblicherweise nur noch aus der Ferne bewundert werden kann.

nachgetragen am 10. Juli

Montag, 2. Juli 2018

Über Puritanismus &

Ruinen der St Andrews Cathedral, zerstört ab 1559 
durch Anhänger des schottischen Reformators John Knox

„Jede späte Philosophie enthält den kritischen Protest gegen das unkritische Schauen der Frühzeit. Aber diese Kritik eines seiner Überlegenheit sicheren Geistes trifft auch den Glauben selbst und ruft die einzige große Schöpfung im Religiösen hervor, die Eigentum der Spätzeit ist und zwar jeder: den Puritanismus.

Er erscheint im Heere Cromwells und seiner eisernen, bibelfesten, psalmensingend in die Schlacht ziehenden Independenten, im Kreise der Pythagoräer, die im bittren Ernst ihrer Pflichtenlehre das fröhliche Sybaris zerstörten und ihm für immer den Makel einer sittenlosen Stadt anhängten, im Heere der ersten Kalifen, das nicht nur Staaten, sondern auch die Seelen unterwarf. Miltons Verlorenes Paradies, manche Suren des Koran, das wenige, was sich über pythagoräische Lehren feststellen läßt — das ist alles eins: Begeisterung eines nüchternen Geistes, kalte Glut, trockne Mystik, pedantische Ekstase.

Aber noch einmal lodert doch eine wilde Frömmigkeit darin auf. Was die zur unbedingten Herrschaft über die Seele des Landes gelangte große Stadt an transzendenter Inbrunst aufbringen kann, das ist hier gesammelt, wie mit der Angst, daß es künstlich und vorübergehend ist, und deshalb ungeduldig, ohne Verzeihung, ohne Barmherzigkeit. Dem Puritanismus nicht nur des Abendlandes, sondern aller Kulturen fehlen das Lächeln, das die Religion aller Frühzeiten verklärt hatte, die Augenblicke tiefer Lebensfreude, der Humor.

Nichts von der stillen Glückseligkeit, die in magischer Frühzeit in den Kindheitsgeschichten Jesu oder bei Gregor von Nazianz so oft aufleuchtet, findet sich in den Suren des Koran, nichts von der versonnenen Heiterkeit der Gesänge des heiligen Franz bei Milton. Ein tödlicher Ernst ruht über den jansenistischen Geistern von Port Royal und den Versammlungen der schwarzgekleideten Rundköpfe, die das old merry England Shakespeares, auch ein Sybaris, in wenigen Jahren vernichtet haben.

Sammlung der Predigten des Hl. Gregor von Nazianz, 
Vision des Ezechiel, hier gefunden

Der Kampf gegen den Teufel, dessen leibhafte Nähe sie alle fühlten, wurde erst jetzt mit einer finstren Erbitterung geführt. Im 17. Jahrhundert sind mehr als eine Million Hexen verbrannt worden und nicht nur im protestantischen Norden und katholischen Süden, sondern auch in Amerika und Indien. Freudlos und gallig ist die Pflichtenlehre des Islam (fikh) mit ihrer harten Verständigkeit so gut wie die des Westminsterkatechismus (1643) und die Ethik der Jansenisten (Jansens 'Augustinus' 1640) — denn auch im Reiche Loyolas gab es mit innerer Notwendigkeit eine puritanische Bewegung.

Religion ist erlebte Metaphysik, aber sowohl die Gemeinschaft der Heiligen, wie die Independenten sich nannten, als die Pythagoräer, als die Umgebung Mohameds erlebten sie nicht mit den Sinnen, sondern zuerst als Begriff... Ein zügelloser und doch trockener allegorischer Geist ist in aller puritanischen Dichtung an die Stehe gotischer Visionen getreten. Der Begriff ist die wahre und einzige Macht im Wachsein dieser Asketen. Um Begriffe und nicht wie Meister Eckart um Gestalten ringt Pascal.

Man verbrennt Hexen, weil sie bewiesen sind und nicht, weil man sie nachts in den Lüften sieht; die protestantischen Juristen wenden den Hexenhammer der Dominikaner an, weil er auf Begriffen errichtet ist. Die Madonnen der frühen Gotik waren den Betenden erschienen, die Madonnen Berninis hat niemand gesehen. Sie sind vorhanden, weil sie bewiesen sind, und man begeistert sich für diese Art von Existenz. Cromwells großer Staatssekretär Milton verkleidet Begriffe in Gestalten und Bunyan hat einen ganzen Begriffsmythos in eine ethisch-allegorische Handlung gebracht. Ein Schritt weiter und man steht vor Kant, aus dessen Begriffsethik zuletzt der Teufel als Begriff in Gestalt des Radikal-Bösen herauswuchs.

Man muß sich vom Oberflächenbilde der Geschichte befreien und ganz über die künstlichen Grenzen hinwegsetzen können, welche die Methodik abendländischer Einzelwissenschaften gezogen hat, um zu sehen, daß Pythagoras, Mohammed und Cromwell in drei Kulturen ein und dieselbe Bewegung verkörpern.

Pythagoras war kein Philosoph. Nach allen Aussagen der vorsokratischen Denker war er ein Heiliger, Prophet und Stifter eines fanatisch-religiösen Bundes, der seine Wahrheiten mit allen politischen und militärischen Mitteln der Umgebung aufzwang. In der Zerstörung von Sybaris durch Kroton, die sicherlich nur als Höhepunkt eines wilden Religionskrieges in der geschichtlichen Erinnerung haften blieb, entlud sich derselbe Haß, der auch in Karl I. von England und seinen fröhlichen Kavalieren nicht nur eine Irrlehre, sondern auch die weltliche Gesinnung ausrotten wollte.

Ein gereinigter und begrifflich befestigter Mythos mit einer rigorosen Sittenlehre verlieh den Auserwählten des Pythagoräerbundes die Überzeugung, vor allen andern zum Heil zu gelangen. Die in Thurioi und Petelia gefundenen Goldtäfelchen, welche den Leichen der Geweihten in die Hand gegeben wurden, enthielten die Versicherung des Gottes: 'Seliger und Gebenedeiter, du wirst nicht mehr ein Sterblicher, sondern ein Gott sein'.

Es ist dieselbe Überzeugung, die der Koran all denen verlieh, die im heiligen Kriege gegen die Ungläubigen fochten — 'das Mönchtum des Islam ist der Religionskrieg' lautet ein Hadith des Propheten — und mit welcher Cromwells Eisenseiten die 'Philister und Amalekiter' des königlichen Heeres bei Marston Moor und Naseby zersprengten."

aus Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes Kapitel III, III, Puritanismus

Pariser Psalter, Mitte des 10. Jahrhunderts, byzantinisch 
Durchgang durch das Rote Meer, hier gefunden

Das war ein sehr langes Zitat und ein vermutlich ermüdendes. Sei es so. Es ist erstaunlich, welche Umwege manchmal dazu führen, daß man ein Buch wieder in die Hand nimmt, von dem man irgendwann beschlossen hatte, es sei unlesbar. Spenglers Untergang des Abendlandes gehört in diese Kategorie.

Erst einmal will ich ihm zugute halten, er ist immerhin lesbarer als z.B. Heidegger. Und seine Methode ist durchaus interessant. Vergleichbar mit St. Jordan (also Prof. Peterson, dem inzwischen berühmten religiösen Agnostiker aus Toronto, den ich mit sehr leiser Ironie für mich inzwischen derart tituliere) sieht Spengler überall Analogien, Synchronizitäten etc. etc.

Das ist oft verblüffend anregend, nicht selten aber auch anstrengend, um höflich zu bleiben. Der Gesamteindruck mag im Zwiespalt verharren, aber leben wir nicht alle auf einem Zwiespalt, bei diesen zweifellos großen Geistern ist er halt etwas weiter gespannt. Und wenn seine Erklärungsmuster mitunter auch nicht unbedingt überzeugen. Auch falsche Schlüsse können anregen. Die Phänomene sieht er sehr scharf umrissen -  „kalte Glut, trockne Mystik, pedantische Ekstase“. Ich kann mich nicht erinnern, eine präzisere Beschreibung irgendwo gelesen zu haben.

Spengler sieht Kulturen als Lebewesen, das ist weniger absurd als es auf den ersten Blick erscheint. Denn woraus bestehen denn Kulturen. Aus Zahnrädern? Und wenn Menschen über ein Bewußtsein verfügen, was offenkundig regelmäßig der Fall ist, sollte es dann nicht auch kollektives Bewußtsein abgrenzbarer Gruppen geben, mit einer je eigenen Geschichte?

Und können nicht wiederkehrende Konstellationen vergleichbare Muster hervorrufen? Spengler nennt  sein Werk im Untertitel „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“. Und dieser Ansatz einer Strukturgeschichte der Menschheit, das Aufspüren und Deuten wiederkehrender Muster etc. ist sicher eine enorm notwendige und herausfordernde Angelegenheit. Wobei mir allerdings Schelers Vergleichsmaschine mitunter etwas zu, nun ja mechanisch daherkommt. Und sein Relativismus ist auch eher beschwerlich. Z. B.:

"Gäbe es Wahrheiten abgelöst von den Daseinsströmen, so könnte es keine Geschichte der Wahrheit geben. Gäbe es eine einzige, ewig richtige Religion, so wäre Religionsgeschichte eine unmögliche Vorstellung." III, III, 16

Eine Geschichte der „Wahrheit“ wäre tatsächlich eine Geschichte von Meinungen. Letztlich bedeutungslos. Was aber möglich erscheint, wäre eine Geschichte des Bewußtwerdens der Wahrheit.

Doch zurück zum Puritanismus. Schelers Analogie zum Islam fand ich interessant. Und wenn man darüber nachdenkt, fallen einem in der Tat ständig Parallelen auf: Freudlosigkeit, aggressive Proselytenmacherei, Bilder- und Kulturfeindschaft, eine Klaustrophobie erzeugende Denk- und Glaubenshaltung, noch eine Menge mehr. Aber ich will mich auf die christliche Variante beschränken. Mir war Puritanismus immer instinktiv zuwider.

Und ich habe gelernt, wenn man die falschen Geister aufspüren will, folge man der Spur der Verwüstung. Als ich einmal in Irland war, fiel mir bald auf: Der heilige Krieger Cromwell hatte mehr Kirchen zerstört als drei Heere der Ungläubigen es vermocht hätten. Gewissermaßen eine kriegerische Form des Askese, angemaßte Heiligkeit durch Feindschaft gegen das Lebendige. Doch wir schweifen ab. Zurück zum Calvinismus. Denn dieser radikalisierte Calvinismus hat die Untugenden seines Ursprungs noch verschärft.

Das ist jetzt nicht besonders ökumenisch. Aber ich will kurz aufzählen, welche calvinistischen bzw. reformierten Lehren mir als bloße Irrlehren erscheinen. Die bekannteste ist wohl die sog. „doppelte Prädestination“.  Gott offenbart an einem Teil der Menschheit seine Gnade, an einem anderen seine Gerechtigkeit. Mit anderen Worten, noch vor der Schöpfung hat Gott für jeden künftigen Menschen bestimmt, ob er gerettet oder verworfen werden soll.  Die Auserwählten dürfen Gott erkennen und werden auferstehen, die Nicht-Erwählten bleiben unwissend und dürfen in der Hölle schmoren.

Gründe für diese eher willkürlich erscheinende Entscheidung werden nicht angeboten. Gott tut, was ihm beliebt. Das kann man zwar glauben, aber warum mußte er dann in seinem Sohn sterben. Gut, das war jetzt fast häretisch. Nein, ich bin kein Patripassianer. Die Jungfrau steh mir bei!

Naheliegenderweise ist Jesus Christus dann nur für die Auserwählten am Kreuz gestorben. Die Auserwählten vermögen ihrer Erwählung auch nichts entgegenzusetzen, sie sind ihr hilflos ausgeliefert  und mangeln darin eines freien Willen. Es ist ihnen ebenso unmöglich, Gottes Gnade wieder zu verlieren. Wir brechen  hier besser ab.

Ach vielleicht dies noch: Die Väter des reformierten Glaubens (sprich Calvin und Zwingli) hatten vorgeschrieben, daß nur gelten solle, was in der Hl. Schrift ausdrücklich bestimmt ist, und wollten daher ursprünglich nicht nur die Bilder aus den Kirchen zu schaffen, da diese schließlich in der Bibel verboten sind, sondern auch Glocken und Orgeln, da sie in dieser nicht erwähnt werden…

Man kommt leicht auf den Gedanken, daß sich derartiges nur fromme Sadisten und Zwangsneurotiker ausdenken konnten. Mir ist es immer unbegreiflich geblieben, wie man den christlichen Glauben zu einer derart vergiftenden Sache deformieren kann. Damit meine ich nicht, daß man nur als Lutheraner selig werden kann, beim besten Willen nicht, aber hier ist doch eindeutig eine Grenze überschritten. *Grusel

Pariser Psalter, Mitte des 10. Jahrhunderts, byzantinisch 
Der Prophet Jesaja und Nyx, die Nacht, hier gefunden

Und jetzt will ich endlich aufklären, was mich zu derart eifernden Gedanken trieb. Ein Beitrag in einem konservativen „rechtgläubigen“ Blog aus Amerika (der sinnigerweise daher auch „Orthosphere“ heißt), den ich seit einiger Zeit regelmäßig verfolge und der mich erstens zurück zu Spengler brachte und zweitens eine originelle Linie in die Neuzeit zieht. Meine Haltung zur modernen Kunst deckt sich mit der des Autors zwar nicht so ganz, aber sie ist interessant und ohne weitere Umschweife werden ich den letzten Teil dieses Beitrags daher jetzt einfach, aus dem Englischen von mir dürftig übersetzt, folgen lassen:

„Moderne Häßlichkeit ist ein und dasselbe wie moderner Puritanismus. Eine gotische Marienkirche ist ein Wunder seltener Kunstgriffe, in jedem Detail schön, mit jedem Detail zu einem erhabenen Ganzen beitragend, das die Summe seiner bloßen Teile übersteigt. Eine gotische Kirche ist voller Bilder. Die byzantinische Isaurische Orthodoxie und der Islam waren - und der Islam blieb es - nicht nur anikonisch, sondern willentlich ikonoklastisch…

Die Implikationen der künstlerischen Schönheit, die nicht von spiritueller Schönheit getrennt werden kann, bedrohten diese Regime. Ob Luther und Calvin sie dazu aufforderten oder nicht, frühe Protestanten übten den Ikonoklasmus aus: Die Zerstörung des katholischen Eigentums und der katholischen Kunst in England und Nordeuropa, besonders in Schweden, war weit verbreitet und entsetzlich.

Die moderne liberale Mentalität ist ikonoklastisch und daher auch in vielerlei Hinsicht puritanisch. Sie möchte alle christlichen Bilder aus der Öffentlichkeit verbannen. Sie greift die Schönheit immer und überall an und ersetzt sie durch jede Form von Mißbildung und Häßlichkeit. Es ist ihre Absicht, alles, was sie beleidigt, aus dem Blickfeld zu entfernen, sei es eine Bronzestatue eines konföderierten  Generals oder ein Gemälde von John Waterhouse, das "den männlichen Blick" wiedergibt. Die Tatsache, daß die moderne liberale Mentalität sofort eine Allianz schließt mit dem Islam gegen die Traditionen des Westens deutet darauf hin, dass er psychisch mit dem Islam konvergiert. Die Verflachung des tiefen-getränkten dreidimensionalen Bildes durch die Moderne im Kubismus oder die flachen gegenstandslosen Flecken abstrakter Kunst sind zugleich ikonoklastisch und puritanisch. Es verachtet die Welt.“

St Andrews Cathedral Ruins at dusk, Scotland

nachgetragen am 3. Juli