Mittwoch, 23. Mai 2018

Trauergottesdienst für Rosemarie Schuder-Hirsch


Es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und Jesus rief laut: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! Und als er das gesagt hatte, verschied er.
Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen die Frauen zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten. Sie fanden aber den Stein weggewälzt von dem Grab und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesus nicht. Und als sie darüber bekümmert waren, siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern. Sie aber erschraken und neigten ihr Angesicht zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Amen
Lukas 23.44/24.1-6

Der Friede des Auferstandenen sei mit euch!

Liebe Trauerversammlung,

das Buch ist vielleicht die menschlichste Form, um sich dauerhaft mitzuteilen. Jedes Buch ist aber auch immer eine Preisgabe. Der Autor gibt von sich selbst preis und kann nicht wissen, was daraus wird, denn jedes Buch geht irgendwann seinen eigenen Weg. Auf diesem Weg begegnet es dann wieder Menschen und legt vor ihnen Zeugnis ab auch von dem, der es geschrieben hat. Bücher sind Offenbarungen.

Nur noch ihre Bücher zeugen nun lebendig von der Frau, deren Tod uns heute zusammengeführt hat. Das Gespräch mit ihr selbst ist verstummt. Noch haben wir die Melodie ihrer Stimme im Ohr, und wir, die wir sie kannten, werden diese Melodie lebenslang hören, wenn wir ihre Bücher wieder zur Hand nehmen. Mich trägt und ich verkündige euch die Gewissheit, dass die Welten, in denen ihre Wörter einstmals wohnten, ihrerseits wieder die Worte bewohnen, die sie überleben.

Ich blicke auf einen merkwürdigen und im Leben eines Menschen seltenen Wandel zurück, denn ich kannte die Bücher der Verstorbenen lange, bevor ich sie kennenlernen durfte.

Mit ihren Michelangelo-Romanen unternahm ich meine ersten Italienreisen, bevor ich einen Fuß in das uns damals so unendlich ferne Land setzen konnte. Sie machte mir den Künstler und die großen Päpste der Renaissance vertraut und behandelte doch immer auch die Zeit, in der wir lebten. In diesem besten Zusammenhang schrieb sie historische Romane. Sie eröffnete dem Leser die Geschichte genauso, wie das Verständnis der Gegenwart. Sie belehrte uns für die Zukunft.

Die Bücher waren ihr Leidenschaft und Arbeit. Sie erfüllten dieses lange Leben, das am 24. Juli 1928, dem Tag des Heiligen Christophorus, in Jena begonnen hatte. In und mit den Büchern erwuchs ihr eine parallele geistige Existenz, von der man als Leser geprägt werden konnte, auch ohne sie persönlich zu kennen und in der wir, ihre Leser, nun gleichsam als Waisen zurückbleiben.

Die Bücher wurden ihr zur Wohnung und waren es wohl mehr, als selbst das Haus, welches ihr Ehemann Rudolf Hirsch für sie gebaut hatte, es jemals werden konnte. Vierzig Jahre lebten die beiden gemeinsam in einer Lebens-, Liebes- und Schaffensgemeinschaft. Aus den gemeinsamen Jahren erwuchsen gemeinsame Bücher, von denen der „Gelbe Fleck“ zweifellos das bedeutendste bleiben wird.

Immer wieder zeugen ihre Bücher von verlorenen Welten und von vergessenen Menschen. Gerade dadurch aber gelingt es ihnen, diese verlorenen Welten wieder zu errichten, die vergessenen Menschen in Erinnerung zu rufen, ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen und ihnen eine geistige Existenz zu verschaffen, die wie ein Nebel unter uns Lebenden weht.

Manche Bücher durchschreiten wir, wie das Leben selbst, und so blieb Rosemarie auch ihrem Rudolf verbunden, nachdem er 1998 gestorben war. Es war bei ihr immer der Schmerz über diesen Verlust spürbar, noch mehr aber bestimmte sie die Gewissheit davon, dass sie in ihren Büchern vereint blieben und der Welt und den Lesern weiter gemeinsam gegenübertraten. Man muss erlebt haben, wie liebevoll sie von Rudolf Hirsch sprach. Das Schreiben wurde ihr nun die Weise, ihm treu zu bleiben.

Gern hätte ich auch ihn persönlich erlebt und wohl am meisten seinen Humor geschätzt. Er war aber schon tot als ich Rosemarie Schuder im Geburtshaus von Novalis das erste Mal begegnete. Hätte es einen zauberhafteren Ort für die Begegnung mit einer Schriftstellerin, deren Bücher man schon lange kannte, geben können, als dieses verwunschene Schloss?

Zu den Büchern trat nun die Frau, die diese Welt erschaffen hatte. Als Letzte trat sie für mich in den Kreis des Naumburger Meisters, Jan van Leydens, Michelangelos, Kepplers, Boschs, Servets und Freiligraths. Auch jetzt hat sie ihn nicht wieder verlassen. In einer gewissen Weise gehört sie ihm nun sogar noch wirklicher an.

Darüber wollen wir heute nachdenken. Noch sind wir in ihrer Gegenwart, geben aber alles, was irdisch war, aus der Hand. Wir werden ihren Leib begraben.

Im Buche Jesus Sirach lesen wir. Gott hat den Menschen geschaffen aus der Erde; und bestimmt ihnen die Zeit ihres Lebens. Er gab ihnen Vernunft, Sprache, Augen, Ohren und Verstand und Erkenntnis.

Rosemarie hat alle diese Gaben wunderbar genutzt. Sie war eine kluge, scharfsinnige und manchmal, aber nur wo es not tat, auch scharfzüngige Frau. Immer war es ihr auch darum zu tun, den Verstand der Zuhörer und der Leser zu schärfen und ihre Erkenntnis zu wecken. Es war ihr ungeheuer wichtig, stets weiter zu arbeiten.

Das sich mit dieser Arbeit dann sogar noch eine späte Heimkehr ereignete, das ist schon wieder eine ganz eigene Geschichte, die mit der geteilten Stadt Guben, der vermögenden Familie Wilke und einem kleinen Stadtwächterstübchen im Zusammenhang steht. Es ist eine eigene Geschichte, aber, mein lieber Andreas Peter, vor allem Dein großes Verdienst um den Lebensweg der Frau, die wir heute betrauern.

Auch darin hat sich die Erwartung von Novalis erfüllt, der auf die Frage: Wohin gehen wir? schlicht zur Antwort gab: Immer nach Hause!

Wo aber sollen wir dieses Zuhause erhoffen? Wie sollen wir die Richtung des Weges wissen, wenn wir nicht in dem lesen, was uns ihr Lebensweg lehrt. Wo doch nun jedes Buch seinen geistigen Ursprung hat und bewahrt, um wie viel mehr sollten wir da nicht auch einen geistigen Ursprung haben, in den wir zurückkehren dürfen? Wir können der tiefen jüdischen Weisheit Jesus Sirachs vertrauen, der uns Gott als unseren Ursprung bezeichnet. Er hat uns unsere Zeit bemessen und uns mit vielerlei Gaben ausgestattet. Nach langem Weg ruft er uns zurück. Der Schöpfer der Welt ist unser Zuhause.

Auf diese Heimkehr hat Rosemarie sich vorbereitet. Wie sie ihre Angelegenheiten geordnet hat, ist ein großes Vermächtnis, das wir bei der Familie Rupp wohl verwahrt wissen. Seit dem Aschermittwoch dieses Jahres ist die Verstorbene sehr bewusst dem folgenden Gedanken nachgegangen und hat sich von ihm leiten lassen:

Der Psalmist betet: Sei mir ein starker Fels. Das Wort war über die Zeit des Sterbens geschrieben, wie über einem Tor, vor dem wir stehen. Die Christenheit begann wie in jedem Jahr ihre Wanderung nach Golgatha, indem den Gläubigen das Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet wurde. Dieses Kreuz dient der Erinnerung an das Kreuz des Herrn aber auch der Erinnerung an das eigene Sterben. „Gedenke Mensch, das Du Staub bist und wieder zu Staub werden wirst.“ Diese Zeit dient so auch nicht nur der Erinnerung an das Leiden und Sterben Christi, sondern schließt unseren eigenen Tod mit ein und vergegenwärtigt diese Wirklichkeit unseres Daseins.

Sei mir ein starker Fels und eine Burg, daß du mir helfest!

Ist das nicht eine ganz naheliegende Reaktion? Wenn mir ein schwerer Weg bevorsteht, dann will ich mich für ihn rüsten, indem ich nach Kräften suche, die mich diesen Weg bestehen lassen. Der Mensch stimmt seinen Leib und sein ganzes Leben auf eine vor ihm liegende Prüfung ein.

Wir Christen beten:

Sei mir ein starker Fels.

Wir tun das, weil wir nach Stärkung und Halt suchen. Wir spüren unser Menschsein ganz besonders darin, dass wir gerade in solchen Situationen nach Gemeinschaft suchen – nach der Gemeinschaft mit vertrauten Menschen – aber auch nach der Gemeinschaft mit Gott.

Novalis hat gedichtet:

Wenn alle untreu werden,
So bleib’ ich dir doch treu;
Daß Dankbarkeit auf Erden
Nicht ausgestorben sei.

Vor ihr lag nicht irgendeine Aufgabe, Prüfung oder schwere Zeit, sondern die Passion unseres Herrn und der Weg in den eigenen Tod.

„Meine Zeit steht in Deinen Händen.“

Da streift auch uns der Hauch der Gewissheit, dass unsere Zeit verrinnt und vergeht.
Wir trösten uns mit den Freuden des Lebens und schauen mit Wohlgefallen auf die Dinge, die wir vielleicht geschaffen haben. Unzweifelhaft aber bleibt, dass wir sterben müssen, und dass wir nicht einfach vor dem Tor stehen bleiben können.

Noch einmal soll Rosemarie Schuder selbst zu Wort kommen. Ihr Roman „Die Erleuchteten“ endet: „Die Handlanger öffnen den Sarg, nehmen den Körper heraus, binden ihn an den Pfahl hoch oben auf dem Scheiterhaufen. Es dauert eine Weile, sie sind gründlich. Vor seine Füße stellen sie das Bild, daneben legen sie die Schriften. Noch ein Handlanger springt hinzu, schlägt vom Kopf des Toten das schwarze Barett. Jetzt schreien die Menschen, weil der Holzstoß entzündet wird. Wer will entscheiden, ob das Böswilligkeit oder Ungeschicklichkeit oder Absicht war. Der Feuersog reißt die Schriften auseinander, der aufsteigende Rauch trägt sie. Es sind zu viele Blätter, die Wächter können sie nicht einfangen. Sie können auch nicht nachprüfen, wer sich unbemerkt eine dieser Schriften unters Hemd gesteckt hat. Sie können es nicht verhindern, daß die Worte des David Joris in der Welt bleiben, Worte vom Pferd und seinen Augen:

„Meine Mutter erklärte mir, wie es kommt, daß ein Pferd einen Reiter erträgt. Mit seinen großen Augen sieht es alle Dinge neunmal größer. Also auch den Reiter. Wüßte es, wie klein der in Wahrheit ist, würde es ihn abschütteln.

Wer verzweifeln will, ob der Übermacht des Feindes, soll nicht kleinmütig werden und die Welt mit Pferdeaugen betrachten. Wer zweifeln will, ob wir es wirklich sind, ausersehen, die Welt zu verändern, der soll verstehen: Wir sind nicht der Anfang und nicht das Ende.“

Trotz alledem hat sich Rosemarie so unendlich schwer getan, ihren Frieden mit Gott zu finden. Nun wird Gott, auf unser Bitten hin, seinen Frieden mit ihr machen.

Begegne Du nun dem, der sich als der offenbart hat, der Anfang und Ende ist. Er ist mit seinen am Kreuz ausgebreiteten Armen die Tür, durch die du nun gehst.

Amen.

Der Friede des Auferstandenen sei alle Zeit mit euch. Amen.

Thomas Roloff

Photo (privat)

So der Herr will, wird Herr Roloff in wenigen Stunden diese Ansprache beim Trauergottesdienst für Rosemarie Schuder-Hirsch halten. Die Trauerfeier findet um 12 Uhr in der Feierhalle auf dem Friedhof der Sozialisten (Zentralfriedhof Friedrichsfelde) statt. Um 13 Uhr wird sie an der Seite ihres 1998 verstorbenen Mannes Rudolf Hirsch unweit der Feierhalle in der Abteilung: „Künstlerweg“ beigesetzt.

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