Sonntag, 28. April 2019

Österliche Nachbetrachtungen


Daß der junge Herzog Borwin die Ehre seiner Schwester und die der Familie zu verteidigen suchte, hat uns dieses Fenster beschert, und ihm den Tod. Von daher nahm es jedenfalls seinen Anfang.

Das Fenster findet sich über Altar und Orgel im Borwinheim zu Neustrelitz (ich werde unten ein Situationsphoto anfügen, gewissermaßen, damit man sich eine Vorstellung machen kann). Carl Borwin, jüngerer Bruder des letzten mecklenburg-strelitzschen Großherzogs Adolf Friedrich VI., starb 1908 mit 20 Jahren. Seine Mutter Großherzogin Elisabeth gründete darauf 1910 die „Herzog-Carl-Borwin-Gedächtnis-Stiftung“ für den "Dienst der christlichen Liebestätigkeit im Lande Mecklenburg-Strelitz".


Bis in die 30er Jahre diente es u.a. als Heim für elternlose Kinder; der Saal, gedacht für „Festversammlungen des Jungfrauen- und Jünglingvereins, für Spiel- und Turnaufführungen...“, wurde dann bald von der Stadtkirchengemeinde für Gottesdienste etc. genutzt, und auch die 1840 gegründete und noch immer bestehende Singakademie gewann in ihm einen Ort für Proben und Konzerte.

Dies und weiteres mag man auf dieser ausführlichen Seite nachlesen oder auch hier. Nur, daß Carl Borwin an einer schweren Krankheit starb, ist eine milde Legende, die auch von Hofprediger Horn in seiner Trauerpredigt bemüht wurde. Unter dem 10. Oktober 2013 kann man sie finden, als Dokument damaliger Mentalitäten und Überzeugungen erscheint sie mir recht bemerkenswert.

Ich zitiere mich nunmehr selbst: „Vor 125 Jahren wurde ein Prinz... geboren, dessen Charakter resp. Ehrgefühl ihm früh den Tod schickten. Herzog Carl Borwin starb übrigens an den Folgen eines Duells.“ Seine Schwester, Herzogin Marie war offenkundig von einem Kammerdiener namens Hecht schwanger geworden und hatte danach nur einen französischen Grafen Jametel heiraten können, dessen päpstlicher Adel, zurückhaltend formuliert, leicht zweifelhaft war. Die Ehe war schwierig und wurde auch noch in demselben Jahr 1908 geschieden. Zuvor allerdings hatte besagter Graf seine Noch-Ehefrau in der Gegenwart ihres Bruders wohl so schwer beleidig, daß dieser sich gezwungen sah, ihre Ehre im Duell zu verteidigen, mit bekanntem Ausgang.


Übrigens, falls doch jemand den genannten Beitrag aufsuchen sollte, meide er einen gewissen Link, die Stiftung hat es offenkundig noch zu geben (sie wurde 1928 neu begründet), nur die Seite offensichtlich nicht, da konnte man das letzte Mal eventuell irgendwelche Damenkleidchen erwerben, wenn ich bin mich recht erinnere, ich habe die Domain dann schnell wieder verlassen.

Warum dieser Beitrag. Nun, durch die zurückliegenden hohen Feiertage, war ich etwas öfter an besagtem Ort. Sagen wir es so, die Regelmäßigkeit meiner Gottesdienstbesuche hat gelitten. Und dabei mäanderten meine Gedanken so vor sich hin, während sie sich an der Orgel und der Liturgie erfreuten. Und ja, mehrfach blieben sie an dem Fensterbild über der Orgel hängen.

Während einer Probe des Chores, der mich ertragen muß und sich ebenfalls dort regelmäßig äufhält, hörte ich den Einwand, das Fenster habe schöne Farben, sei hübsch, aber ausdruckslos, leblos, so ungefähr.

In der Tat ist es nicht der leidende Christus, der dort abgebildet wird. Es ist der Christus triumphans, der über den Tod triumphierende Christus und Weltherrscher. In unseren Breiten ist dies der älteste Typus einer Christusdarstellung. Nun reicht das Bild sicher nicht an Vorläufer wie das Triumphkreuz aus der Kathedrale Sant’Evasio in Casale Monferrato

Bildausschnitt, hier gefunden

heran oder das berühmte romanische Mindener Kreuz. 

Kopie des Mindener Kreuzes im Dom zu Minden

Aber es ist auch nicht Paula Jordan:


Nur zur Erklärung, Frau Jordan war einmal, genauer in den zurückliegenden Jahrzehnten eine sehr beliebte Illustratorin im evangelischen Milieu. Daher halte ich auch voller Nostalgie dieses Weihnachtstransparent in Ehren, man bekommt davon einen Eindruck.

Und wo ich bei Erläuterungen bin – auf der oben abgebildeten Kopie des Mindener Kreuzes kann man sehr schön die lateinische Inschrift erkennen:

HOC REPARAT XPC DEUS IN LIGNO CRUCIFIXUS QUOD DESTRUXIT ADAM DECEPTUS IN ARBORE QUADAM

zu Deutsch: „Das stellt Christus, der am Holze gekreuzigte Gott, wieder her, was der am Baum getäuschte Adam zerstört hat.“

Und das nicht minder bedeutende Kruzifix aus dem Piemont war im 19. Jahrhundert in die Sakristei verbannt worden und sollte an einen Antiquitätenhändler verkauft werden, habe ich irgendwo gelesen, ein Kanoniker bewahrte es davor und ließ es recht hoch in der Kirche aufhängen, offenbar rechnete er mir der Trägheit seiner Kollegen, erfolgreich.

Doch zurück zum triumphierenden Christus aus dem Borwinheim. Das Glasfenster ist voller Symbolik, es ist auch eine Darstellung der Trinität, nur daß Gott der Vater, von dem der Heilige Geist ausgeht, im symbolischen Dreieck gestaltlos bleibt. Die Sichel des abnehmenden Mondes im Westen, die von Christus erleuchtete Sonne, man kann sich schon in all dem verlieren.

Und wenn man dann zur Osterliturgie, in der der Glaube von Jahrtausenden gleichsam gespeichert ist, den Christus triumphans hinter dem leeren Kreuz des abwesenden Gottes sieht. Auch Formen und Formeln vermögen zu predigen. Womit ich nicht sagen will, daß nicht auch vom Wort Gottes zu hören war.

Doch 2 Dinge fand ich dann noch einmal hervorhebenswert. Großherzogin Elisabeth (gest. 20. Juli 1933 in Neustrelitz) verlor beide Söhne auf tragische, man muß sagen, letztlich sinnlose Weise (der letzte mecklenburg-strelitzschen Großherzogs Adolf Friedrich VI. nahm sich selbst das Leben). Nicht allein bewahrte sie auch nach dem Ende von 1918 ihre Haltung, wie man zudem einen sinnlosen Verlust zum Anlaß für Bleibendes zu gewinnen vermag, bleibt bewundernswürdig.


Und noch etwas stimmt denn doch froh. Das Borwinheim ist vor 10 Jahren mustergültig saniert worden. Dieser Bericht beschreibt das eindrucksvoll. Man nimmt das gewohnt Gewordene halt zu selbstverständlich und vergißt leicht, mit welcher Liebe zum Detail, mit welcher Sorgfalt und Achtsamkeit in der Gewinnung neuer schöner Formen etwa vorgegangen wurde.


Ich muß für meine Person gestehen, daß meine Skepsis gegenüber der Moderne mir mitunter die Augen davor verschließt, welche überzeugenden Hervorbringungen es durchaus gibt. Und die Möglichkeiten modernen Bauens können Altes eben auch in einer Weise erstrahlen lassen, die seine Präsenz in unerwarteter Weise steigert.

Und das Fenster, nun ja, es fügt sich hier ein.


nachgetragen am 29. April

Sonntag, 21. April 2019

Gesegnete Ostern!


Surrexit Dominus vere, alleluia!


Frohe und gesegnete Ostern!



Dienstag, 16. April 2019

Über den Papst aus der Zurückgezogenheit – Benedikt XVI.

Notre-Dame, Paris, 15. April 2019, 19.20.46 Uhr

Wer je die physische Wahrheit der Metapher, es drehe sich einem der Magen um, erlebt hat, weiß, daß es schwierig ist, anschließend etwas Sinnvolles zu schreiben. So erging es mir bei den apokalyptischen Bildern aus Paris von gestern Abend und heute Nacht nach einen Anruf ungefähr des Inhalts, Notre-Dame in Paris würde gerade niederbrennen. Da braucht es keine Grabesstimme, um sich unmittelbar in das Ende der Zeiten hineingestoßen zu sehen. Da es nicht ganz so ausging, kann ich doch noch auf den ursprünglichen Plan zurückkommen.

Benedikt XVI. wurde als Joseph Aloisius Ratzinger am 16. April 1927 geboren, er vollendet also heute sein 92. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß wollte ich einiges von ihm aufgreifen, das er jüngst in Erinnerung gerufen hat. Mit dem Brand von Notre Dame bekommen seine Worte einen ungeahnten Hintergrund, der es nicht einfacher macht, darüber zu sprechen.

Notre-Dame, 15. April 2019, 20.06.33 Uhr

Natürlich hat er in seinem Amt auch diese Kathedrale besucht. Und so drängt es sich förmlich auf, aus seiner Vesperpredigt zu zitieren, die er in Paris in Notre-Dame am 12. September 2008 gehalten hat:

Benedikt XVI. in Notre -Dame

"Gepriesen sei Gott, der uns diese Begegnung an einem Ort erlaubt, der dem Herzen der Pariser, aber auch aller Franzosen so teuer ist!"

Notre-Dame, Hochaltar, 4. April 2017

"Wir sind hier versammelt in der Mutterkirche der Diözese Paris, in der Kathedrale Notre-Dame, die sich im Herzen der Stadt erhebt als ein lebendiges Zeichen der Gegenwart Gottes mitten unter den Menschen. Mein Vorgänger Papst Alexander III. hat ihren Grundstein gelegt, die Päpste Pius VII. und Johannes Paul II. haben sie mit ihrem Besuch beehrt, und ich freue mich, ihren Spuren zu folgen...

Wie sollte man nicht Ihm, der die Materie wie den Geist erschaffen hat, danken für die Schönheit des Gebäudes, das uns umgibt? Die Christen von Lutetia hatten bereits eine dem heiligen Stephanus, dem ersten Märtyrer, geweihte Kathedrale errichtet, die zu klein geworden war und im Laufe des 12. bis 14. Jahrhunderts durch die Kathedrale ersetzt worden ist, die wir heute bewundern können. Der Glaube des Mittelalters hat die Kathedralen erbaut, und eure Vorfahren sind hierhergekommen, um Gott zu loben, ihm ihre Hoffnungen anzuvertrauen und ihre Liebe zum Ausdruck zu bringen."

Er erinnert dann daran, daß diese Kirche auch ein Ort berühmter Bekehrungen gewesen sei und nennt u.a. die des Paul Claudel:

"Die Kunst als Weg zu Gott und das gemeinschaftliche Gebet als Lob der Kirche an den Schöpfer haben Paul Claudel geholfen, den Weg zu einer persönlichen Erfahrung mit Gott zu finden, als er 1886 hier am Weihnachtstag an der Vesper teilnahm. Es ist bezeichnend, daß Gott seine Seele gerade während des Gesangs des Magnifikat erleuchtet hat, in dem die Kirche den Gesang der Jungfrau Maria, der heiligen Patronin dieses Ortes, hört, der die Welt daran erinnert, daß der Allmächtige die Niedrigen erhöht hat…"

Notre-Dame, Südliches Rosettenfenster

Aber dies kann natürlich nicht der Grund für diesen Beitrag gewesen sein. Benedikt  hat jüngst einen Text bekannt gemacht, der zu heftigsten Angriffen und einer selten sachgemäßen Kritik geführt hat. Selbst ein Kurienkardinal ließ darauf schließlich alle diplomatische Zurückhaltung fahren und hat wie folgt geantwortet.

Kardinal Müller über die Kritiker des Mißbrauchs-Textes von Benedikt XVI. 

Benedikt hatte nach den Ursachen für ein Phänomen gesucht, das in seinen moralischen und seelischen Verwüstungen den geistig-materiellen Zerstörungen von Paris „ebenbürtig“ ist. Dem Mißbrauch junger Menschen in der katholischen Kirche. Über diesen Text schreibt nun besagter Kardinal, das Dokument sei: „die tiefgründigste Analyse der Genese der Glaubwürdigkeitskrise der Kirche in Fragen der Sexualmoral und intelligenter als alle Beiträge beim Gipfel der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen zusammen."

Von „Kritikern“, die diesem widersprochen hätten, könne man allerdings nicht reden, „denn das Wort Kritik heißt, geistig anspruchsvolle Dinge zu unterscheiden, um damit einen Beitrag im Verständnis wichtiger Fragen zu leisten.“ „Das sind Leute, die weder glauben noch denken. Vor allem fehlt ihnen der geringste Anstand." Wer auch nur einen Funken christlicher Liebe in sich habe, könne sich nicht zu solchen unflätigen Pamphleten hinreißen lassen.

„Aber wie kann die Liebe die innere Gestalt des Glaubens sein, wenn man den Glauben an den Gott der Offenbarung in Jesus Christus aufgegeben hat, oder höchstens einige Elemente davon noch als Füllmaterial für seine eigene selbstreferentielle Weltanschauung missbraucht." Man spreche von Erneuerung und Reform der Kirche und meine aber nur die Anpassung an die eigene Dekadenz.

Den bisher formulierten katholischen Glauben qualifizierten sie als konservativ ab und meinten, nur ihre "progressive" Sicht wäre die Zukunft der Kirche. Also müsse man die nach ihrem Maß "konservativen" Katholiken, die der Heiligen Schrift, der Apostolischen Tradition und dem Lehramt treu seien, entweder kaltstellen oder mundtot machen. Dazu sei ihnen jedes Mittel, auch der Verleumdung und Ehrabschneidung, recht. „Denn sittlich erlaubt ist alles, was dem eigenen Interesse nützt, das ja identisch ist mit dem Gemeinwohl."

Benedikt XVI., Rom, 12. Oktober 2008
(Bildausschnitt), hier gefunden 

Benedikts „Kampfschrift“

Über die jüngsten Veränderungen der Moral

Was also stellt Benedikt dar, das zu solchen Ausbrüchen führen kann?

Das läßt sich an diesem Ort verständlicherweise nur andeuten (den gesamten Text findet man an jenem Ort). Ausgangspunkt war eine Konferenz im Februar 2019, in der die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen der Welt versammelt waren, „um über die Krise des Glaubens und der Kirche zu beraten, die weltweit durch erschütternde Informationen über den von Klerikern verübten Mißbrauch an Minderjährigen zu spüren war.“

Da er selbst, so Benedikt, zum Zeitpunkt des öffentlichen Ausbruchs der Krise und während ihres Anwachsens an verantwortlicher Stelle als Hirte in der Kirche gewirkt habe, mußte er sich „– auch wenn ich jetzt als Emeritus nicht mehr direkt Verantwortung trage – die Frage stellen, was ich aus der Rückschau heraus zu einem neuen Aufbruch beitragen könne“.

Zunächst versucht er zu zeigen, „daß in den 60er Jahren ein ungeheuerlicher Vorgang geschehen ist, wie es ihn in dieser Größenordnung in der Geschichte wohl kaum je gegeben hat. Man kann sagen, daß in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat.“

„Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ. Die Gewaltbereitschaft, die diese Jahre kennzeichnete, ist mit diesem seelischen Zusammenbruch eng verbunden.“

„Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“

Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie

Unabhängig von dieser Entwicklung habe sich in derselben Zeit ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte.

Schließlich habe sich weitgehend die These durchgesetzt, daß Moral allein von den Zwecken des menschlichen Handelns her zu bestimmen sei. „Der alte Satz ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘ wurde zwar nicht in dieser groben Form bestätigt, aber seine Denkform war bestimmend geworden. So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebensowenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen. Es gab nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relativ, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere.“

Papst Johannes Paul II. habe mit der Enzyklika "Veritatis splendor" vom 6. August 1993 diese Dinge wieder zurechtrücken wollen und prompt „heftige Gegenreaktionen von Seiten der Moraltheologen bewirkt“. Einer von diesen hatte zuvor angekündigt, wenn die Enzyklika entscheiden solle, daß es Handlungen gebe, die immer und unter allen Umständen als schlecht einzustufen seien, wolle er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften dagegen ankämpfen. „Der gütige Gott hat ihm die Ausführung dieses Entschlusses erspart.“

Johannes Paul II. „...konnte und durfte keinen Zweifel daran lassen, daß die Moral der Güterabwägung eine letzte Grenze respektieren muß. Es gibt Güter, die nie zur Abwägung stehen. Es gibt Werte, die nie um eines noch höheren Wertes wegen preisgegeben werden dürfen und die auch über dem Erhalt des physischen Lebens stehen. Es gibt das Martyrium. Gott ist mehr, auch als das physische Überleben. Ein Leben, das durch die Leugnung Gottes erkauft wäre, ein Leben, das auf einer letzten Lüge beruht, ist ein Unleben. Das Martyrium ist eine Grundkategorie der christlichen Existenz.“

Die allgemeine Debatte habe sich dann dahin verschoben, daß Fragen der Moral nicht Gegenstand unfehlbarer Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes werden könnten. Benedikt wischt diesen Einwand nicht gleich beiseite. „Aber es gibt ein Minimum morale, das mit der Grundentscheidung des Glaubens unlöslich verknüpft ist und das verteidigt werden muß, wenn man Glauben nicht auf eine Theorie reduzieren will, sondern in seinem Anspruch an das konkrete Leben anerkennt.“

Schließlich löste man die Moral ins allgemein Menschliche auf, mit dem Argument, „daß alle moralischen Thesen auch Parallelen in den übrigen Religionen kennen würden und ein christliches Proprium daher nicht existieren könne“.  Wir brechen hier ab, haben aber hinreichend gesehen, wie Benedikt die katholische Moraltheologie in einem allgemeinen Relativismus versinken sieht.

Notre-Dame, 21. Februar 2004

Auswirkungen auf die Priesterausbildung und das Leben der Priester

Man möge mir die nachsehen, wenn ich diesen Part nur skizziere.

„Der lang vorbereitete und im Gang befindliche Auflösungsprozeß der christlichen Auffassung von Moral hat... in den 60er Jahren eine Radikalität erlebt, wie es sie vorher nicht gegeben hat. Diese Auflösung der moralischen Lehrautorität der Kirche mußte sich notwendig auch auf ihre verschiedenen Lebensräume auswirken.“

„Bei dem Problem der Vorbereitung zum priesterlichen Dienst in den Seminaren ist in der Tat ein weitgehender Zusammenbruch der bisherigen Form dieser Vorbereitung festzustellen.“ Als besonders hervorstechend benennt er: „In verschiedenen Priesterseminaren bildeten sich homosexuelle Clubs, die mehr oder weniger offen agierten und das Klima in den Seminaren deutlich veränderten.“

„Da nach dem II. Vaticanum auch die Kriterien für Auswahl und Ernennung der Bischöfe geändert worden waren, war auch das Verhältnis der Bischöfe zu ihren Seminaren sehr unterschiedlich. Als Kriterium für die Ernennung neuer Bischöfe wurde nun vor allen Dingen ihre ‚Konziliarität‘ angesehen, worunter freilich sehr Verschiedenes verstanden werden konnte. In der Tat wurde konziliare Gesinnung in vielen Teilen der Kirche als eine der bisherigen Tradition gegenüber kritische oder negative Haltung verstanden, die nun durch ein neues, radikal offenes Verhältnis zur Welt ersetzt werden sollte… Es gab – nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika – einzelne Bischöfe, die die katholische Tradition insgesamt ablehnten und in ihren Bistümern eine Art von neuer moderner "Katholizität" auszubilden trachteten.“

Die Frage der Pädophilie sei nach seiner Erinnerung „erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre brennend geworden“. Sie wäre in den USA zu einem öffentlichen Problem angewachsen, dem das Kirchenrecht nicht recht gewachsen gewesen sei. Warum, dem geht er ausführlich nach, aber wir wollen es überspringen.

Dem unbefangenen Beobachter mögen hier zusätzliche Fragen in den Sinn kommen, aber mir geht es hier nur darum, Benedikts Stellungnahme nachzuzeichnen. Und die ist eben vor allem von der Frage umgetrieben, nicht, wie man praktisch besser hätte reagieren sollen, sondern, wie es überhaupt soweit kommen konnte.

Benedikt XVI. in São Paulo, Brasilien, 10. Mai 2007.

Auf der Suche nach Antworten

„Was müssen wir tun?“, fragt Benedikt schließlich: „Müssen wir etwa eine andere Kirche schaffen, damit die Dinge richtig werden können? Nun, dieses Experiment ist bereits gemacht worden und bereits gescheitert.“

Als Lutheraner kann ich ihm da leider kaum widersprechen, allerdings vor allem in Bezug auf das, was folgt. Denn er dringt jetzt theologisch wirklich in die Tiefe vor. Ich kann ihn da nur zitieren und für sich wirken lassen:

„Wenn wir den Inhalt des in der Bibel grundgelegten Glaubens wirklich ganz kurz zusammenfassen wollen, dürfen wir sagen: Der Herr hat eine Geschichte der Liebe mit uns begonnen und will die ganze Schöpfung in ihr zusammenfassen. Die Gegenkraft gegen das Böse, das uns und die ganze Welt bedroht, kann letztlich nur darin bestehen, daß wir uns auf diese Liebe einlassen. Sie ist die wirkliche Gegenkraft gegen das Böse. Die Macht des Bösen entsteht durch unsere Verweigerung der Liebe zu Gott. Erlöst ist, wer sich der Liebe Gottes anvertraut. Unser Nichterlöstsein beruht auf der Unfähigkeit, Gott zu lieben. Gott lieben zu lernen, ist also der Weg der Erlösung der Menschen.“

„Das erste grundlegende Geschenk, das uns der Glaube darbietet, besteht in der Gewißheit, daß Gott existiert. Eine Welt ohne Gott kann nur eine Welt ohne Sinn sein. Denn woher kommt dann alles, was ist? Jedenfalls hat es keinen geistigen Grund. Es ist irgendwie einfach da und hat dann weder irgendein Ziel noch irgendeinen Sinn. Es gibt dann keine Maßstäbe des Guten oder des Bösen. Dann kann sich nur durchsetzen, was stärker ist als das andere. Die Macht ist dann das einzige Prinzip. Wahrheit zählt nicht, es gibt sie eigentlich nicht. Nur wenn die Dinge einen geistigen Grund haben, gewollt und gedacht sind – nur wenn es einen Schöpfergott gibt, der gut ist und das Gute will – kann auch das Leben des Menschen Sinn haben.“

Was ich für mich so zusammenfasse: Wenn Moral keinen Grund mehr außerhalb des jeweiligen Interesses hat, bleibt nur die Durchsetzungsfähigkeit des Stärkeren übrig. Wenn verschiedene „Wahrheiten“ nicht Annäherungen an die eine Wahrheit sind, bleiben zufällige Konventionen übrig, die sich auch jederzeit wieder ändern können. Aber wir müssen uns ja gar nicht nur der Wahrheit anzunähern suchen, denn sie kommt zu uns:

„Aber ein Gott, der sich überhaupt nicht äußern, nicht zu erkennen geben würde, bliebe eine Vermutung und könnte so die Gestalt unseres Lebens nicht bestimmen. Damit Gott auch wirklich Gott in der bewußten Schöpfung ist, müssen wir erwarten, daß er in irgendeiner Form sich äußert.“ Dies habe er entscheidend in der Weise getan, „die über alles Erwarten hinausführt: Gott wird selbst Geschöpf, spricht als Mensch mit uns Menschen“.

Die Abwesenheit Gottes in der westlichen Gesellschaft

Jedoch: „Eine Gesellschaft, in der Gott abwesend ist – eine Gesellschaft, die ihn nicht kennt und als inexistent behandelt, ist eine Gesellschaft, die ihr Maß verliert. In unserer Gegenwart wurde das Stichwort vom Tod Gottes erfunden. Wenn Gott in einer Gesellschaft stirbt, wird sie frei, wurde uns versichert. In Wahrheit bedeutet das Sterben Gottes in einer Gesellschaft auch das Ende ihrer Freiheit, weil der Sinn stirbt, der Orientierung gibt. Und weil das Maß verschwindet, das uns die Richtung weist, indem es uns gut und böse zu unterscheiden lehrt.“

Die westliche Gesellschaft sei eine, „in der Gott in der Öffentlichkeit abwesend ist und für sie nichts mehr zu sagen hat. Und deswegen ist es eine Gesellschaft, in der das Maß des Menschlichen immer mehr verloren geht. An einzelnen Punkten wird dann mitunter jählings spürbar, daß geradezu selbstverständlich geworden ist, was böse ist und den Menschen zerstört. So ist es mit der Pädophilie.“

Der letzte Grund für die Pädophilie liege in der Abwesenheit Gottes. „Eine erste Aufgabe, die aus den moralischen Erschütterungen unserer Zeit folgen muß, besteht darin, daß wir selbst wieder anfangen, von Gott und auf ihn hin zu leben. Wir müssen vor allen Dingen selbst wieder lernen, Gott als Grundlage unseres Lebens zu erkennen und nicht als eine irgendwie unwirkliche Floskel beiseite zu lassen.“

„Das Thema Gott scheint so unwirklich, so weit von den Dingen entfernt, die uns beschäftigen. Und doch wird alles anders, wenn man Gott nicht voraussetzt, sondern vorsetzt. Ihn nicht irgendwie im Hintergrund beläßt, sondern ihn als Mittelpunkt unseres Denkens, Redens und Handelns anerkennt.“

Die Gefahr der Theologie sei, „daß wir uns zu Herren des Glaubens machen, anstatt uns vom Glauben erneuern und beherrschen zu lassen“.

„Wenn wir also nachdenken, was zu tun ist, so wird klar, daß wir nicht eine von uns erdachte andere Kirche brauchen. Was notwendig ist, ist vielmehr die Erneuerung des Glaubens an die uns geschenkte Wirklichkeit Jesu Christi im Sakrament.“

„Ja, wir müssen den Herrn dringend um Vergebung anflehen und vor allen Dingen ihn beschwören und bitten, daß er uns alle neu die Größe seines Leidens, seines Opfers zu verstehen lehre. Und wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen Eucharistie vor Mißbrauch zu schützen.“

Das Mysterium der Kirche 

Und schließlich kommt er auf das Mysterium der Kirche zu sprechen, Romano Guardini zitierend, als freudige Hoffnung, „die sich ihm und vielen anderen damals aufdrängte: ‚Ein Ereignis von unabsehbarer Tragweite hat begonnen; die Kirche erwacht in den Seelen.‘ Er wollte damit sagen, daß Kirche nicht mehr bloß wie vorher ein von außen auf uns zutretender Apparat, als eine Art Behörde erlebt und empfunden wurde, sondern anfing, in den Herzen selbst als gegenwärtig empfunden zu werden – als etwas nicht nur Äußerliches, sondern inwendig uns berührend. Etwa ein halbes Jahrhundert später fühlte ich mich beim Wiederbedenken dieses Vorgangs und beim Blick auf das, was eben geschah, versucht, den Satz umzukehren: ‚Die Kirche stirbt in den Seelen.‘ In der Tat wird die Kirche heute weithin nur noch als eine Art von politischem Apparat betrachtet…

Die Krise, die durch die vielen Fälle von Mißbrauch durch Priester verursacht wurde, drängt dazu, die Kirche geradezu als etwas Mißratenes anzusehen, das wir nun gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten müssen. Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“

„In diesem Zusammenhang ist es notwendig, auf einen wichtigen Text in der Offenbarung des Johannes zu verweisen...  In der Apokalypse wird uns das Drama des Menschen in seiner ganzen Breite dargestellt. Dem Schöpfergott steht der Teufel gegenüber, der die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung schlechtredet. Der sagt nicht nur zu Gott, sondern vor allen Dingen zu den Menschen: Seht euch an, was dieser Gott gemacht hat. Angeblich eine gute Schöpfung. In Wirklichkeit ist sie in ihrer Ganzheit voller Elend und Ekel. Das Schlechtreden der Schöpfung ist in Wirklichkeit ein Schlechtreden Gottes. Es will beweisen, daß Gott selbst nicht gut ist und uns von ihm abbringen.“

Die Aktualität dessen sei offenkundig. Es gehe heute in der Anklage gegen Gott vor allen Dingen darum, seine Kirche als ganze herabzusetzen, um so von ihr abzubringen. „Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will durch eine lügnerische Logik, auf die wir zu leicht hereinfallen.

Nein, die Kirche besteht auch heute nicht nur aus bösen Fischen und aus Unkraut. Die Kirche Gottes gibt es auch heute, und sie ist gerade auch heute das Werkzeug, durch das Gott uns rettet. Es ist sehr wichtig, den Lügen und Halbwahrheiten des Teufels die ganze Wahrheit entgegenzustellen: Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche Gott, der liebende Gott sich uns zeigt. Gott hat auch heute seine Zeugen (‚martyres‘) in der Welt. Wir müssen nur wach sein, um sie zu sehen und zu hören.“

Soweit Benedikt XVI.



Dornenkrone und Reliquiar von 1862, 
Schatzkammer der Kathedrale Unserer Lieben Frau, Paris
hier und dort gefunden

Er endet sehr katholisch - die Kirche „das Werkzeug, durch das Gott uns rettet“. Aber wollte man einem Papst vorwerfen, daß er katholisch ist und spricht. (Obwohl uns da Physiognomien einfallen, denen auch das zuzutrauen wäre). Als Protestant steht man jetzt natürlich daneben, da man auf das unmittelbare Gnadenwirken Gottes in Jesus Christus vertraut (und auch da fallen einem Physiognomien ein…).

Doch auch Protestanten sprechen im Glaubensbekenntnis von der Kirche. Und daß die Kirche in den Seelen erwacht und in den Seelen stirbt, wer wollte dem widersprechen. Nun, so sagt Benedikt es ja tatsächlich nicht, er fühlt sich versucht und hat der Versuchung offenkundig widerstanden, da die Kirche nicht sterben kann. Aber Seelen können es. Und diese toten Seelen, die äußerlich noch Lebendigkeit vorzutäuschen vermögen, bringen mit dem Gift der Fäulnis das Böse in die Welt.

Auch Seelen, die noch lebendig sind, können Fehl gehen, aber sie sind dem nicht hilflos ausgeliefert.

So gibt Benedikt XVI. Einblicke in das Seelenleben der Kirche, genauer, Einblicke in das Seelenleben derer, die für diese Kirche stehen oder vorgeben, es zu tun. Er gibt den Blick auf ein Schlachtfeld frei. Und weniges mögen die Irrenden weniger, als wenn ihr Tun sichtbar wird. Ich scheue mich etwas, den Vergleich zu ziehen, aber da es eine sehr ernste Sache ist, scheint er mir nicht unangebracht.

Die Kirche (und damit auch unser Abendland), stehen im Feuer wie Notre-Dame. Und so wie die Pariser Kirche nicht ganz zerstört wurde, dürfen wir hoffen, daß auch wir noch nicht am Ende der Zeiten angekommen sind, daß es möglich ist, zu retten und wiederaufzubauen, bis wir dann eines Tages wirklich vor den Toren der Ewigkeit stehen werden.

Gott segne das Leben Benedikts XVI. 
und die Allerseligste Jungfrau möge dem Heiligen Vater beistehen 


beendet am 17. April

Mittwoch, 3. April 2019

Über Bach oder das 5. Evangelium - der andere Teil

Altes Johann Sebastian Bachdenkmal in Leipzig

Zu überspringende Vorbemerkung

Der Anfang dieses Beitrages liegt hier. Aber je näher ich der Neuzeit und damit der Gegenwart kam, um so mürrischer wurde ich, einmal mehr. Da brach ich ab. Darüber bin ich jetzt hinweg. Denn wir wollten ja weiter über Bach reden, oder eher noch, wie andere über Bach redeten.

Er hat etwas von einem magischen Spiegel. Einer meiner lang dauernden Irrtümer lag darin, daß Größe beschämen müßte (ein anderer übrigens, daß Sympathie für eine Sache irgendwie verbinden sollte), und darum, wenn nicht zur Verehrung, dann doch wenigstens zum Schweigen bringen.

Natürlich nicht. Größe bringt auf, macht rachsüchtig, klein etc. etc, zumeist jedenfalls. Man schaue sich nur diesen Artikel eines weiland berühmten Kritikers an, der gierig jeden auch nur denkbaren Charakterfehler Bachs aufzusaugen sucht. Er kratzt noch aus dem abgelegensten Denkmal gewissermaßen den Fugenmörtel, um nach dem Geehrten damit schmeißen zu können. Man soll ja von Toten nur Gutes sprechen (weil sie sonst als Gespenst über einen kommen), aber egal, was für ein Charakter-A.

Goethe über Bach

Wer selbst groß ist, schreibt mehr wie unser Goethe (worüber sich oben geartete Geister natürlich eher lustig machen):



"Wohl erinnerte ich mich bey dieser Gelegenheit an den guten Organisten von Berka; denn dort war mir zuerst, bey vollkommener Gemüthsruhe und ohne äußere Zerstreuung, ein Begriff von Eurem Großmeister [Seb. Bach] geworden. Ich sprach mir's aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben, so bewegte sich's auch in meinem Innern, und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte."
Johann Wolfgang von Goethe: 
Brief an Carl Friedrich Zelter vom 18. Juli 1827 

Bachs Musik als die Gedanken Gottes vor (!) der Weltschöpfung, die sich dem Geheimrat hier mitteilen. Ein kühner Gedanke und sehr platonisch. Aber warum eigentlich nicht.

Bach, Mendelssohn Bartholdy und Heines Sottisen zu beiden

Stich von Albert Henry Payne aus "Leipzig um 1860" 

Von dieser Höhe werden wir nun herabsteigen müssen; wenn auch nicht gleich. Erst einmal haben wir die sog. Bachrenaissance. Zeitgeistschnittige Bemerkungen von heute werden dazu etwa sagen: Zu den Ironien der Musikgeschichte gehöre es, daß ausgerechnet das jüdische Bürgertum es gewesen sei, welches die Bach-Renaissance in Gang setzte.

Das ist in so vieler Hinsicht derart übel, daß wir daran besser vorbeigehen. Was daran stimmt, ist, daß der sehr junge Felix Mendelssohn Bartholdy es war, der, durch Carl Friedrich Zelter mit ihm bekannt gemacht, Bach wieder die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit gewinnen wollte, als er 1829 die Matthäuspassion mit der Berliner Singakademie nach 100 Jahren, wie er meinte, erneut aufführte.

Sing-Akademie, Gemälde von Eduard Gaertner (1843)

"Wir besprachen den wunderlichen Zufall, daß gerade hundert Jahre seit der letzten Leipziger Aufführung vergangen sein mußten, bis diese Passion wieder an's Licht komme“, so Eduard Devrient in „Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy...“Leipzig 1872.

Und wo wir eben bei dem Schauspieler & Sänger etc. sind, und seine Erinnerungen gern als Steinbruch für alles mögliche benutzt werden, wollen wir uns diesem üblen Brauch anschließen und ebenfalls zitieren. Wie nämlich Mendelssohns Bekanntschaft mit Bach entstand:

„So lernte er die Musikwerke kennen und behandeln, welche Zelter - wie einen geheimnißvollen heiligen Schatz - vor der Welt verborgen hielt, für welche sie, nach seiner Meinung, keinen Werth mehr hatten; hier lernte Felix auch einzelne Stücke aus Bach's Passionsmusiken kennen und sein glühendster Wunsch wurde es, die große Passion nach dem Evangelisten Matthäus zu besitzen, ein Wunsch, den ihm seine Großmutter zu Weihnachten 1823 erfüllte. Es war nicht leicht gewesen, von Zelter, dem eifersüchtigen Sammler, die Erlaubniß der Abschrift zu erbitten.“

Doch endlich:

„Felix zeigte mir am Weihnachtsfeste, zu dem ich mit Therese geladen war, mit ehrfurchtsvoll verklärtem Gesicht die musterhafte Abschrift des heiligen Meisterwerkes, das nun zu seinem Lieblingsstudium diente.“

Berlin, Sing-Akademie, 1941

Zurück zur Aufführung vom 11. März 1829. Im Publikum fanden sich übrigens Friedrich Wilhelm III., Hegel, Schleiermacher und selbst Heine. Wobei letzterer schwerlich als Bach-Verehrer durchgeht.

Als Beleg soll eine (übrigens sehr unterhaltsame und dort nachlesbare) Straßenszene aus den Reisebildern von 1826 herhalten, zunächst die Akteure:

„Es war ein wunderliches Trio... Der eine von jenen beiden, winterlich gekleidet in einen weißen Flausrock, war ein stämmiger Mann, mit einem dickroten Banditengesicht, das aus den schwarzen Haupt- und Barthaaren, wie ein drohender Komet, hervorbrannte, und zwischen den Beinen hielt er eine ungeheure Baßgeige, die er so wütend strich, als habe er in den Abruzzen einen armen Reisenden niedergeworfen und wolle ihm geschwinde die Gurgel abfiedeln; der andre war ein langer, hagerer Greis, dessen morsche Gebeine in einem abgelebt schwarzen Anzuge schlotterten… die Tochter des alten Buffo... akkompagnierte mit der Harfe die unwürdigsten Späße des greisen Vaters, oder stellte auch die Harfe beiseite und sang mit ihm ein komisches Duett... Obendrein schien das Mädchen kaum aus den Kinderjahren getreten zu sein, ja es schien, als habe man das Kind, ehe es noch zur Jungfräulichkeit gelangt war, gleich zum Weibe gemacht, und zwar zu keinem züchtigen Weibe.“

Wir nähern uns dem angekündigten Zitat:

„Es war ein echt italienisches Musikstück, aus irgendeiner beliebten Opera buffa, jener wundersamen Gattung, die dem Humor den freiesten Spielraum gewährt, und worin er sich all seiner springenden Lust, seiner tollen Empfindelei, seiner lachenden Wehmut, und seiner lebenssüchtigen Todesbegeisterung überlassen kann. Es war ganz Rossinische Weise, wie sie sich im »Barbier von Sevilla« am lieblichsten offenbart. Die Verächter italienischer Musik, die auch dieser Gattung den Stab brechen, werden einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen, und sind vielleicht verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören, als Fugen von Sebastian Bach.

Heine nahm dem Mendelssohn dessen Bachabhängigkeit, wie er es sah, recht übel und hielt ihm Rossini als leuchtendes Gegenbild vor. Auch hier noch ein Zitat (aus Lutetia – Zweiter Teil, Artikel XLIII, Paris, Mitte April 1842):

„Der Himmel bewahre mich, gegen einen so verdienstvollen Meister wie der Verfasser des »Paulus« hierdurch einen Tadel aussprechen zu wollen, und am allerwenigsten wird es dem Schreiber dieser Blätter in den Sinn kommen, an der Christlichkeit des erwähnten Oratoriums zu mäkeln, weil Felix Mendelssohn Bartholdy von Geburt ein Jude ist. Aber ich kann doch nicht unterlassen, darauf hinzudeuten, daß in dem Alter, wo Herr Mendelssohn in Berlin das Christentum anfing (er wurde nämlich erst in seinem dreizehnten Jahr getauft), Rossini es bereits verlassen und sich ganz in die Weltlichkeit der Opernmusik gestürzt hatte. Jetzt, wo er diese wieder verließ und sich zurückträumte in seine katholischen Jugenderinnerungen... jetzt, wo die alten Orgeltöne wieder in seinem Gedächtnis aufrauschten und er die Feder ergriff, um ein ‚Stabat‘ zu schreiben: da brauchte er wahrlich den Geist des Christentums nicht erst wissenschaftlich zu konstruieren, noch viel weniger Händel oder Sebastian Bach sklavisch zu kopieren...“

Das zu Heine. Und zurück zu Mendelssohn. Jener hat nämlich auch das älteste Bach-Denkmal von 1843 gestiftet, das hier schon mehrfach auftauchte, da es so reizvoll erscheint.

Altes Johann Sebastian Bachdenkmal in Leipzig von Süden

Ich hatte oben aus Eduard Devrients "Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy" zitiert und dort abgebrochen, wo es für andere erst richtig interessant wird, also noch einmal:

"Wir besprachen den wunderlichen Zufall, daß gerade hundert Jahre seit der letzten Leipziger Aufführung vergangen sein mußten, bis diese Passion wieder an's Licht komme, 'und' rief Felix übermüthig, mitten auf dem Opernplatz stehen bleibend, 'daß es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!'

Felix vermied sonst entschieden seiner Abstammung zu gedenken, hier riß ihn das Frappante der Bemerkung und die fröhliche Stimmung hin."

Und damit wären wir dann schon im folgenden, unerfreulichen Jahrhundert, doch das soll seine eigene, kürzere Fortsetzung finden.

nachgetragen am 10. April