François Perrier, Die Anbetung des Golden Kalbes, 1642,
Jemand sagte mir, ich müsse an einem vorigen Beitrag feilen. Sarkasmus oder Ironie würden heute nicht mehr verstanden. Dahinter steckt natürlich schon die rührende Überzeugung von der Aufklärungswilligkeit bei Menschen. Ich glaube nicht daran. Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Grundfesten der Vernunft abgeräumt werden, und das am liebsten mit der vernünftigsten Maske. Menschen treiben in ihren Untergangsaufregungen, Vermessenheiten und Ressentimentsaufwallungen hier und da dahin. Dagegen gut und vernünftig zureden zu wollen, halte ich einfach für sinnlos. Man kann es nur noch ein wenig mehr auf die Spitze treiben für die, die es ebenso ermüdet.
Wer etwa die groteske Behauptung unter sich läßt, das Kaiserreich sei ein Hort der Judenverfolgung gewesen, gegen alle leicht auffindbaren Fakten, der will das geglaubt wissen, weil er damit eine Absicht verfolgt.
Der verdienstvolle Herr Klonovsky hatte damals nach dem Ausruf - „Ist dieser Mann noch bei Sinnen?“ die repräsentativeren Synagogenneubauten in Baden-Württemberg und Berlin vorgestellt. Allein in Berlin seien im Kaiserreich sieben neue jüdische Gotteshäuser eröffnet worden (für eines davon steuerte Seine Majestät persönlich die Wandverkleidung bei). Alle diese Synagogen wären von den Nationalsozialisten zerstört worden. Und er folgert: „Das dürfte auch der perfide Grund sein, warum Steinmeier die Juden mit den Sozialistengesetzen und dem Kulturkampf framt.“ Er wolle „den historischen Analphabeten, die er offenbar in großer Zahl unter seinen Zuhörern vermutet, das Kaiserreich als logisches Prius der nationalsozialistischen Judenverfolgung verkaufen“.
Als ich neulich an Dietrich Bonhoeffers Ausführungen über die Dummheit erinnerte (aus "Widerstand und Ergebung“), bestach mich vor allem seine Einsicht, daß Dummheit keine intellektuelle Minderbegabung sei, sondern eine Charakterschwäche (und ich füge hinzu eine Art von Besessenheit). Nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung könne die Dummheit überwinden. „Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen.“
Es gibt die einfache Dummheit, die muntere Dummheit, die arglistige Dummheit, die täuschende Bosheit und danach kann man eigentlich aufhören, denn das Böse tritt fast immer verkleidet auf. Es sagt selten, ich bin das Böse, außer im Faust, und selbst da noch leicht verklausuliert.
Wir leben wieder in einem Zeitalter der Dummheit. Und ich habe bei Bonhoeffer gelernt, daß man manchmal einfach nur warten kann.
Nationaldenkmal Kaiser Wilhelm vor dem Berliner Schloß, etwa 1900, hier gefunden
II
Was mich überhaupt zu dem Beitrag veranlaßt hatte, waren nicht irgendwelche unsägliche Reden, sondern eher Verwunderung. Warum gerät ausgerechnet das Deutsche Reich in den Fokus der Volksaufklärer?
Warum diese Hysterie um die Farben Schwarz-Weiß-Rot? Nur weil manche Menschen, die mit den gegenwärtigen politischen Verhältnissen nicht unbedingt sympathisieren, sich diese zum Identitätssymbol erwählt haben (warum auch immer)? Mit solchen „Abweichlern“ muß jedes System zurechtkommen, und es ist immer interessant und bezeichnend, in welcher Weise dies geschieht. Täten diese Leute als nächstes eine Sonne auf einem Regenbogen erwählen, wollte man dann Sonne und Regenbogen verbieten?
Es ist ein wenig mühsam, in den gegenwärtigen Zeiten den Überblick zu bewahren, und vor allem wartet als Lohn nur noch größere Verstörtheit, zwar besser sortiert und damit klarer, aber letztlich gewinnt man nichts anderes, als was einem das Gefühl nicht schon gesagt hätte. Etwa diese regelmäßigen Haßausbrüche gegen Rekonstruktionen von Vergangenem überraschen kaum mehr.
So wenn der Oberschamane der Antikolonialismus-“Forschung“ an der Universität Hamburg Jürgen Zimmerer sich in einer kulturmaoistischen Fernsehsendung mit der Vorstellung in Ekstase deliriert, „diese Barockfassade mit Stacheldraht“ aufzubrechen.
Um das Humboldt-Forum in einen antirassistischen und antikolonialen (Un-)Ort zu verwandeln, hülfen angesichts der Wucht und Größe des Gebäudes keine kleinen Schrifttafeln oder einzelnen Räume. Mit diesem preußischen Disneyland, das man in die Mitte Berlins gesetzt habe, hätte man die Spuren der deutschen Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich überbaut und überschrieben. Man ginge ja sprichwörtlich architektonisch zurück in den Zustand vor 1914.
Der bekannte Furor, der die Bolschewiki 1931 die Christ-Erlöser-Kathedrale (neben vielen anderen Kirchen) in Moskau hat nicht nur aufbrechen, sondern gleich abbrechen lassen, denen waren deren Wucht und Größe auch zuwider.
Sprengung der Christ-Erlöser-Kathedrale Moskau, 1931,
Denn es kann nur einen Gott geben, nämlich den der immerwährenden Menschheitsbefreiung und des ewigen Fortschritts. Das sei denen gesagt, die einwenden mögen, dies seien doch nur etwas exaltierte Reden eines ansonsten wohlmeinenden Agitators. Kommt Gelegenheit, kommt die Vendée!
Christ-Erlöser-Kathedrale Moskau, August 2016, hier gefunden
III
Die kognitive Dissonanz, mit einem Staat nichts zu tun haben zu wollen, mit dem man rechtlich identisch ist, nach eigenem Bekunden, überrascht dann auch nicht mehr.
Denn schließlich bettelt eine bestimmte Fraktion im Bundestag immer wieder fast regelmäßig darum, die "These von der Fortexistenz des Deutschen Reiches“ endlich zurückzuweisen, damit sie nicht von Neonazis und ähnlichem Gelichter benutzt werden könne.
Und mit der Regelmäßigkeit eines Drehorgelliedes erfolgt darauf die Antwort: Das Bundesverfassungsgericht habe in ständiger Rechtsprechung festgestellt, daß das Völkerrechtssubjekt "Deutsches Reich" nicht untergegangen und die Bundesrepublik Deutschland nicht sein Rechtsnachfolger, sondern mit ihm als Völkerrechtssubjekt identisch sei.
Aber ansonsten will man mit dem Deutschen Reich nichts zu tun haben.
Noch ein anderes Beispiel: Im sog. Traditionserlaß („Die Tradition der Bundeswehr – Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“) heißt es gegenwärtig:
„Traditionen von Verbänden ehemaliger deutscher Streitkräfte werden an Truppenteile und Dienststellen der Bundeswehr nicht verliehen; ihre Fahnen und Standarten werden in der Bundeswehr nicht mitgeführt oder begleitet.“
Die gestörte Beziehung zum Eigenen der Geschichte ist gewissermaßen konstitutiv für diese Republik.
Fahne des I. Bataillon des 1. Garde-Regiment zu Fuß,
ab 1889, hier gefunden
Fahne des II. Bataillons und des Füsilier-Bataillons, hier gefunden
Aber diese Störung wächst sich mit zelotische Eifer, dessen kulthafte Züge immer gespenstischer hervortreten, mittlerweile mehr zu einem Hexensabbat aus. Um an dieser Stelle eine mögliche Verwirrung angesichts des Titels des Ganzen aufzulösen:
Da haben wir einmal den sprichwörtlichen „Tanz um das goldene Kalb“. Die Israeliten waren gerade aus Ägypten ausgezogen und Mose war fort. Gott sprach nämlich mit ihm auf dem Berge Sinai (2. Mose 32).
1. Da aber das Volk sah, daß Mose verzog, von dem Berge zu kommen, sammelte sich's wider Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns her gehen! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat... 7. Der Herr aber sprach zu Mose: Gehe, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat's verderbt. 8. Sie sind schnell von dem Wege getreten, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben.
Die Geschichte geht dann spannend weiter, man mag es unter dem angegebenen Ort weiterlesen.
Henri-Paul Motte, Der Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb, 1899, hier gefunden
Und dann haben wir den sog. „Sündenbock“. Einmal im Jahr (beim Versöhnungsfest) jagten die Israeliten einen Schafbock in die Wüste, auf den zuvor die Sünden des Volkes gelegt worden waren.
Und Aaron soll den Farren, sein Sündopfer, herzubringen, daß er sich und sein Haus versöhne, und darnach die zwei Böcke nehmen und vor den Herrn stellen vor der Tür der Hütte des Stifts, und soll das Los werfen über die zwei Böcke: ein Los dem Herrn, das andere dem Asasel. Und soll den Bock, auf welchen das Los des Herrn fällt, opfern zum Sündopfer. Aber den Bock, auf welchen das Los für Asasel fällt, soll er lebendig vor den Herrn stellen, daß er über ihm versöhne, und lasse den Bock für Asasel in die Wüste.
Und wenn er vollbracht hat das Versöhnen des Heiligtums und der Hütte des Stifts und des Altars, so soll er den lebendigen Bock herzubringen. Da soll Aaron seine beiden Hände auf sein Haupt legen und bekennen auf ihn alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren Sünden, und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der bereit ist, in die Wüste laufen lassen, daß also der Bock alle ihre Missetat auf sich in eine Wildnis trage; und er lasse ihn in die Wüste.
3. Mose 16, 6-10 und 20-22
William Holman Hunt, Der Sündenbock, 1854, hier gefunden
Beide Gestalten hat der Kult der Gegenwart gewissermaßen zu einer fusioniert. Und die anderen Opfertiere? Nun diese spürt man immer wieder in der „eigenen“ Geschichte auf, um sie dann auf dem Altar des guten Gewissens verbrennen zu können. Alles, was an deutscher Geschichte lebenstief, geiststiftend und traditionsgegründet ist, muß dafür herhalten. Aber ihr Gott ist ein gieriger Gott. Es ist nie genug, und er ist auf Novitäten aus. Also müssen sie in entlegenere Gegenden vordringen und immer weiter jagen. Dieser Kult der Zerstörung arbeitet sich rückwärts durch die Geschichte und wird irgendwann zielsicher bei Kain und Abel angelangen, um herauszufinden: Kain war Deutscher!
Da hilft nur noch ein kräftiger Exorzismus.
Joachim Rupalley, Exorzismus durch St. Exuperius,
Kathedrale von Bayeux, hier gefunden
Christ-Erlöser-Kathedrale Moskau, hier gefunden