Die mecklenburgischen Herzöge haben sich zwar keine Aeneis schreiben lassen, aber ein wenig doch. Nicolaus Marschalk war ihr Publius Vergilius Maro, mit einer in Deutsch gefaßten Reimchronik, die wir übergehen, und mit seinem Annalium Herulorum et Vandalorum von 1521, offenkundig die Textgrundlage für eine aufwendige Bilderhandschrift von 1526. In dieser wird eine beeindruckende Ahnenreihe ausgebreitet. Das Geschlecht der mecklenburgischen Herzöge reicht nämlich zurück bis in die Zeit Alexanders des Großen! Aus der wollen wir den Anthyrius Crullus vorstellen, mit dem alles beginnt:
„Anthyrius, der eine Amazonin zur Mutter gehabt, ist gewesen ein Heruler von denen, so gewohnet haben oberhalb der Donau in der Gegend des Tanais, des Maeotischen Meeres und des Cimmerischen Bosphori, deren Lage ist gewesen, wie Procopius aufgezeichnet hat, an sumpfigten Oertern, welche die Griechen Haelae nennen; vermöge Jornandis ad Castalium ist er ein Kriegesobrister unter dem Macedonischen Alexander, so der Grosse genennet wurde, gewesen, und zwar so lange, bis dass derselbe durch Gift hingerichtet ward, welches in Macedonien ein Brunn, der Sucistyges heist, herfürbringet, wie der Q. Curtius im neunten Buch von den Geschichten des grossen Alexander berichtet, der mit keinem Metall, sondern nur allein mit Horn von Viehe könte gehandhabet werden; selbiges hat Cassander, des Antipaters Sohn, welcher stets nach der königlichen Hoheit trachtete, überbracht, seinem Bruder, dem Jolla, übergeben und damit des Königs letzten Tranck zu Babylon beschmitzet.
Als nun nach verflossenen sieben Tagen, mittelst welcher Zeit der königliche Leichnam auf dem Throne lag, unter den Vornehmsten ein Missverstand sich erhub von wegen des Königreichs und Nachfolgers in der Regierung und jedweder auf seine Wohlfahrt bedacht war, da dann ein Theil mit Gewalt sich aufzuwerfen, ein Theil - weil ihrer eine grosse Anzahl sich befand - neue Sitze und Wohnungen sich zu suchen entschlossen war, hat auch der Anthyrius sich belieben lassen davonzugehen.“
[Wir wollen die Giftmordthese nicht weiter kommentieren, nur anzeigen, daß wir seine Schilderung der Diadochenkämpfe nach dem Tode Alexanders auslassen - es ist mehr eine ermüdende Aufzählung - und fahren fort.]
„Hierum nun, wie der Anthyrius dieses vermercket, hat er beschlossen, nach den alten Grentzen der Herulen, wovon ihn seine Vorfahren benachrichtiget hatten, sich zu wenden. Derowegen, nachdem er in den 30 folgenden Tagen ein Kriegesvolck zusammen beschrieben, ist er mit einigen hierzu bereiteten Schiffen davongegangen und zum Könige erwehlet worden von den Seinen, welche von wegen der bunten Farbe und Zierlichkeit der Kleider oder der Waffen Obotriten sind benahmet worden, massen solches nicht ungewöhnlich war denen, die unterm Alexander Krieg führeten, wie bey dessen wegen ihrer silbernen und bunten Waffen Argiraspidae genannten Soldaten auch anzunehmen.
In diesem Kriegesheer war mit Barvanus ein Sohn des Gothischen Königs, welcher gleichmässig unter dem Alexandro gedienet hatte. Es sind etliche, welche bejahen, dass sie in den Schiffsflaggen bei ihrer Wegreise geführet haben den Kopf des Bucephali; solcher war ein Pferd des Alexanders, welches er überaus lieb hatte und damahls ritte, wie er vermittelst eines sonderbahren Kampfes den auf einem Elephanten sitzenden frechen Indianischen König Porum überwandt; da denn der Bucephalus tödlich verwundet und des Orts begraben, auch daselbst zu seinem Gedächtniss die Stadt Bucephalea gebauet worden. Es war aber dem Bucephalo auf die Beine ein Büffelskopf gebrannt, wie solches der Solinus in seiner mancherley Geschichtbeschreibung meldet, und gedencket unter andern desselbigen der Strabo im 15ten Buch der Welbeschreibung und Curtius in seinem siebenten und achten Buche.
Die Nachkommen haben anstatt des Bucephali Kopfes aus einem Irrthum des Nahmens, wie es in uralten Dingen zu geschehen pfleget, sich gebrauchet eines Büffelskopfs, dessen sich annoch die Fürsten beyderseits gebrauchen; wiewohl die vormahls weissen Büffelshörner durch Begnadigung des Römischen Kaysers und Böhmischen Königes Caroli IV in güldene verwandelt und mit einer güldenen Crone gezieret zur nachrichtlichen Erinnerung der vor Zeiten gehabten königlichen Würde. Sie halten gleichfalls davor, dass das Vordertheil gemeldeten Schiffes bezeichnet gewesen mit einem güldenen Greiffe im blauen Felde, welches Wappens sich dann bisanhero meistens die Wenden bedienet. Des Barvani von seinen Vor-Eltern anererbtes Wappen stand hinten am Schiffe.
Zu Anfang landeten sie an das Gothische Ufer, woselbsten sie gar willkommen waren und etliche Tage feyerlich zubrachten, und befand sich die mit vortrefflicher Schönheit begabte Symbulla, des Königs Tochter und Barvani Schwester, mit zugegen an der königlichen Tafel. Nachgehends kamen sie vermittelst guten Windes in die zwischen dem Cimberschen Meere und der Elbe gelegene Gegend, woselbst der Cl. Ptolomaeus im elften Kapitel seines zweiten Buches die Pharodinen setzet, davon nicht weit die Vindaler, also geheissen von Vindus (oder der Oder), wie solches der C. Plinius zu verstehen giebet in seinen Büchern von der Welt. Hiervon haben die Vandalen den Nahmen, und daher sind entstanden der Wenden Könige und deren anjetzo fürhandene fürstliche Nachkommen.
Anfangs haben sie eine grosse, mehr als fünf Meilen Weges im Umkreis sich erstreckende Stadt angeleget, welche sie Megapolis genennet, zusamt einem (nachmahls schönen und fest erbaueten) Schlosses nicht weit von der Ostsse, wovon noch alte Kennzeichen vorhanden und zum Gedächtnis annoch Megapolis geheissen wird, davon auch die Herrschaften noch heut zu Tage ihren Nahmen führen, darum dass sie auch mit den Gothen und Schweden in Bündnis sich eingelassen; ingleichen vermöge der Heyrathungen, und dass sie vermittelst Krieges anderer Oerter sich bemächtiget.
Da sie nun anfangs von den Herulen und Wenden benennet werden, nachgehends den königlichen Titul über die Schweden und Sarmater auch erlanget haben, dass den um soviel weniger zu verwundern, weil von selbigen Fürsten noch innerhalb 100 Jahren Hertzog Albrecht zu Mecklenburg besessen hat das Königreich Schweden, das Reich, so Plinius in den Büchern von der Welt das Schwedische, das Land aber an sich selbst der Cornelius Tacitus Sveviam nennet. Über die Stadt Megapolis ist Herula (Werlen) erbauet, wovon nur der nechste Platz an der Warne noch verhanden, imgleichen noch auf einem hohen Berge das noch daselbst befindliche Stargard.
Nachdem der Anthyrius nun solcher Gestalt seinen Sitz und Königreich bestätiget, hat der Gothen Könige nicht übel gedaucht, seine Tochter, die Symbullam, ihme zu versprechen, mit welcher er viele Kinder gezeuget, worunter männliches Geschlechtes Sicherus, Anthyrius, Visibertus, Barvanus, Anavas, Domicus, Brandebardus, Friedebaldus, Thenericus, Radagasus. Der Sicherus, so von seiner Mutter Bruder mit Finnland beschencket, hat sein Vaterland verlassen. Anthyrius mit dem Zunahmen der Jüngere hat in dem Kriege, welchen er mit den Cimbern geführet, sein Leben eingebüsset; ingleichen ist auch der Barvanus, wie es mit 16 Schiffen in die Ostsee, um Feindseligkeit zu verüben, gieng, ersoffen und geblieben. Friedebaldus hat die Vandalen unter seine Herrschaft bekommen. Den Visibertum aber haben die in der Gegend der Insel Schonen wohnende Gothen erfodert und bey sich behalten.“
(Marschalk, Annalen II,I)
Zusammengefaßt: Ein Offizier Alexander des Großen wandert nach dessen Tod mit seinen Leuten, die ihn zum König erheben, nach Norden, gründet eine große Stadt, begründet eine Dynastie und heiratet die Tochter des Gotenkönigs. Der Büffelkopf im Wappen ist eigentlich ein Mißverständnis, eigentlich gehört dort ein Pferdekopf hinein, von wegen des Bukephalos (von altgriechisch βουκέφαλος, „Ochsenköpfiger“, aufgrund des Brandzeichens), des Pferds Alexanders. Diese erbauliche Geschichte ist eine komplette Erfindung, jedenfalls was die Gestalt des Anthyrius angeht, allerdings eine unterhaltsame.
Dabei ist ihr Urheber nicht einmal unbedingt eine dubiose Gestalt gewesen. Nikolaus Marschalk, mit dem Zunamen Thurius (aus Thüringen), kam nach Mecklenburg als herzoglicher Rat und starb 1525 als Professor für Geschichte, Astronomie und Naturgeschichte an der Universität Rostock. Hier werden seine „zu ihrer Zeit bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen… auf dem Gebiet der lateinischen und griechischen Philologie“ gerühmt, wer also mehr zu ihm wissen will, suche dort.
Warum also diese schmeichelhafte Fiktion. Sein Dienstherr Herzog Heinrich V., wurde nicht nur zurecht als der Friedfertige gerühmt, so förderte er die Reformation in umsichtiger Weise (während der Ehrgeiz seines Bruders und Mitregenten Albrecht VII. nur noch von dessen Erfolglosigkeit übertroffen wurde), er war auch sehr an genealogischen Fragen interessiert. Und was erhöht den Ruhm eines Hauses mehr als eine weit zurückreichende Ahnenreihe?
Wenn man dann dabei selbst bis in das Sinn und Würde stiftende Altertum gelangen kann, wird die eigene Dynastie und die eigene Herkunft zu einem Teil der großen abendländischen Erzählung. Man darf mutmaßen, daß Herr Marschalk sich hier einfühlsam, entgegenkommend und erfindungsreich der Hoffnungen des Herzogs annahm. Nun mag man das tadeln, und nachdem seine Erfindungen zunächst begierig aufgegriffen und auch literarisch weitergesponnen worden sind, ist das deutlich später von seriösen Landeshistorikern auch heftig geschehen.
Aber einmal ist Gefälligkeitswissenschaft auch heutzutage nicht ganz unbekannt und dann dürfte der Schaden gegenwärtig deutlich höher liegen, während bei Marschalk ein paar Papier- und Pergamentseiten verbraucht wurden und die historische Wahrheit etwas Schaden nahm, nun ja.
Nun sind diese aufgeplusterten Ahnenreihen an sich keine originäre Erfindung Marschalks. Widukind von Corvey etwa läßt die Sachsen von Alexanders Geschlecht abstammen, Sachsenchronik und Sachsenspiegel (um 1230 entstanden) lassen sie in Alexanders Heer dienen und nach dessen Tod auswandern.
Marschalk hat diese Erzählung gewisser als Blaupause genommen und auf die Obotriten übertragen. Er geht auch sehr geschickt vor, rollt bekanntes Historisches aus, zitiert ständig Autoritäten, wie z.B. Quintus Curtius Rufus mit seiner Alexandergeschichte oder die Gotengeschichte des Jordanes und fügt dort seine Inventiones ein, so daß man gar nicht auf den Gedanken kommt, vieles könnte frei erfunden sein oder doch „abgewandelt“.
„So ist gleich der Name des Stammvaters Anthyrius aus Orosius [Paulus Orosius, ein hispanischer Historiker und Theologe († um 418), der die erste christliche Weltgeschichte schrieb.] entlehnt und geht zurück auf den aus Herodot bekannten Skythenkönig Idanthyrsos, der den Perserkönig Darius Hystaspis in die pontischen Steppen lockte und so zum schmählichen Rückzug zwang.“ [Adolph Hofmeister: Das Lied vom König Anthyrius, in Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 61 (1896)]
Bei Hofmeister findet sich auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit Marschalk und seinen Nachwirkungen. Und wir haben ja auch nur den Anfang der langen Reihe, die bei ihm noch folgt, in Augenschein genommen.
Man mag das alles als Kuriosum abtun oder als gelehrte Scharlatanerie. Aber man kann darin auch einen rührenden Versuch sehen, für Mecklenburg und sein ja tatsächlich altes Fürstenhaus einen Bogen hin zur antiken Überlieferung zu schlagen, der eine Art Rückbindung an das Innerste abendländischen Herkommens zu liefern vermag. Eine Fiktion, sicherlich.
Aber wie sehr unterscheiden wir uns eigentlich, wenn wir uns die Geschichte gewissermaßen heimisch machen, indem wir unsere Traditionslinien in sie zu zeichnen suchen?
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