Im Dezember 2018 schrieb ich über die Großherzogin Marie: "Die Kopie von 1859 des obigen Abbildes der Hl. Familie von Raffael zieht absolut in den Bann. Es hing einst an der Chorwand links neben dem Altar in der Schloßkirche von Neustrelitz (das eigentliche Altarbild – eine Grablegung Christi von Prof. Kannengießer - ist verloren, ich bilde mir ein, irgendwo gelesen zu haben, die Russen hätten es ´45 zerschossen, kann die Stelle aber gerade nicht wiederfinden)."
Die Russen hießen Bosinski und Dziedo. Genauer, als das Altarbild tatsächlich verlorenging, bekleidete (ab 1959) Gerhard Ernst Bosinski das Amt des Landessuperintendenten des Kirchenkreises Stargard (eine Art Teilbischof desselben in der damaligen Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs mit Sitz in Neustrelitz) und Hans Hermann Dziedo war von 1956 bis zu seinem Tod 1965 Pastor an der Schloßkirche. Und in beider Amtszeit fanden Renovierungsarbeiten an der Schloßkirche statt, über die ich eben einen längeren Bericht im Carolinum vom Sommer 1965 finde.
Ich brauche also nicht länger nach der besagten Stelle zu suchen. Ich war einem ärgerlichen Irrtum aufgesessen, den ich umgehend klarstellen will, samt der nun unumgänglichen Namensnennung. Stutzig hätte ich eher werden können. Denn schon im August 2020 erinnerte ich angesichts der aktuellen Restaurierungen in der Schloßkirche an einen Kulturfrevel, der vor Jahrzehnten in der Friedhofskapelle stattgefunden hatte:
"Man sollte bei dieser Gelegenheit erwähnen, daß mit Carl Eggers Neustrelitz einen Maler aus dem Kreis der Nazarener um Friedrich Overbeck hervorgebracht hat. Sein Auferstehungsengel, ein Freskogemälde in der Friedhofskapelle von Neustrelitz wurde in den 50ern übergeschmiert. Wir wollen den Namen des selbstgefälligen Kirchenmannes, der diese Schandtat begangen hat, nicht aus dem verdienten Vergessen reißen. Übergeschmiert geht halt schnell, wieder Freilegen ist mühsam."
Carl Eggers (1787-1863), Madonna mit der Nelke, vor 1863, von hier
Jetzt aber zu dem Aufsatz eines Prof. Dr. Friedrich Scheven (der Ausgabe 56/57 vom Herbst 70 ist zu entnehmen, daß der 1890 geborene regelmäßige Autor ein in Kunstgeschichte promovierter Theologieprofessor war) unter dem Titel "Erneuerungsarbeiten an den kirchlichen Bauten in Neustrelitz" im Carolinum Nr. 42, Sommer 1965, S. 54ff.). Er ist neben den enthaltenen Nachrichten auch aus anderen Gründen aufschlußreich, u.a. weil der Autor den damaligen Akteuren offensichtlich nahe gestanden zu haben scheint.
Wir starten mit seiner allgemeinen Bemerkung, auf die wir noch werden zurückkommen müssen, nämlich: "Eine große Zahl von Landkirchen ist gründlich überholt, meist recht ansprechend, gelegentlich freilich scheint die Erneuerungsfreudigkeit etwas zu weit gegangen zu sein auf Kosten alter Formen und Einrichtungsgegenstände. Wenn nicht Achtung vor einem Kunstwerk, so hätte doch Pietät und Ehrfurcht vor dem, was die Väter uns zur frommen Nutzung hinterlassen haben, hier und da zu größerer Zurückhaltung mahnen müssen."
Und jetzt sind wir bei der Schloßkirche, genauer, zunächst bei einer höchst widerstrebenden Würdigung der Leistung unseres Buttel:
"Den Anstoß zu den Erneuerungsarbeiten gab die Erinnerung an das 100jährige Bestehen der Schloßkirche, die 1855-1859 unter Großherzog Georg durch Baurat Buttel erbaut wurde. Friedrich Wilhelm Buttel, in dessen Schaffen die Spätromantik sich voll auslebte, hat dem Strelitzer Lande eine Reihe von beachtlichen Kirchenbauten gegeben... Uns muten diese Bauten in ihrer ausgeklügelten Neugotik meist akademisch trocken an, nicht selten in den Turmbauten und Schmuckformen verspielt (Leppin).“
Akademisch trocken und verspielt zugleich! Das muß man erst einmal hinbekommen. Und die Generalkritik - “Wir vermissen einen Bauwillen, der eigene Formen zu finden sucht. Das gilt auch von der Neustrelitzer Schloßkirche, neben der Kirche in Fürstenberg der größte Buttelsche Bau im Lande. Aber das darf nicht hindern, das Beachtliche an ihr zu sehen. Das hat Erich Brückner in Nr. 33 dieser Zeitschrift (1961, S. 49ff.) herausgestellt. Man wird ihm freilich nicht in allen Wertungen beistimmen können. Wir werden das Ganze nur bejahen können, wenn wir Bauformen und Bildgehalte aus dem Geist der Spätromantik historisch zu verstehen suchen.“
Ein nicht untüchtiger Epigone also wohl. Dann kommt er auf das, glücklicherweise etwas günstigere Schicksal der Kirche zu sprechen:
„Der Krieg und die Zerstörung der nahen Schloßbauten hat die Schloßkirche nicht berührt. Aber die Schäden, die sich an dem hundertjährigen Bau bemerkbar machten... erforderten Instandsetzungsarbeiten. Sie wurden im Innern mit Zurückhaltung vorgenommen.“
ursprüngliche Fassung der Chorapsis
Diese „Zurückhaltung“ sah nämlich folgendermaßen aus, und man gewinnt dabei einen Eindruck von dem Geisteszustand der Zeitgenossen: „Am stärksten waren die Eingriffe bei der Chorapsis. Das von neugotischen Zierformen umrahmte große Altarbild von Prof. Kannengießer, mit seinen Ausdrucksformen noch ganz in der Schule der Nazarener wurzelnd, wurde beseitigt. Es mußte mit Recht weichen, denn es war kein Bild, das den heutigen Beschauer hätte erbauen und sammeln können. Mit ihm mußten die im Sinne der Nazarener lieblich gemalten Engelsköpfchen weichen und die die Gewölbezwickel ausfüllenden Waffeleisenmuster.“
Wie hatten wir noch eben gelesen: „Wenn nicht Achtung vor einem Kunstwerk, so hätte doch Pietät und Ehrfurcht vor dem, was die Väter uns zur frommen Nutzung hinterlassen haben, hier und da zu größerer Zurückhaltung mahnen müssen." Ein kleiner Selbstwiderspruch? Weder Achtung vor dem Kunstwerk noch anderweitige Pietät walteten. Was dem Zeitgeschmack nicht gefällt, muß weg!
„An Stelle des Altarbildes schmückt jetzt ein schlichtes, freischwebendes, schmiedeeisernes Kreuz den Altarraum, dessen Kreuzesarme, in Holz geschnitten, mit leuchtender Vergoldung die Evangelistensymbole tragen. Der Entwurf des Kreuzes stammt von der Dresdener Bildhauerin Frau Grossmann-Lauterbach. Der neue Schmuck des Altars fügt sich in seiner grazilen Schwerelosigkeit gut in die neugotischen Formen der Kirche ein. Frau Grossmann hat sich hier ebenso wie in andern Kirchen des Strelitzer Landes als eine feinempfindende Künstlerin bewährt, die Werke zu schaffen versteht, die modernem Stilempfinden entsprechen, sich aber zugleich in den geschichtlich gewordenen Rahmen einfügen..."
Das Ding gibt es immer noch, nur hängt es halt mittlerweile in der Zierker Dorfkirche. Und dann doch noch eine gefühlige Wertung des Buttelschen Meisterwerks, die Schloßkirche,„das ausgeklügelte Werk eines theoretisch und praktisch tüchtigen Baumeisters, dem wir die Achtung nicht versagen können, so fern wir auch seinem Kunstempfinden stehen,“ lasse „uns“ „weithin kalt“. Im Gegensatz zur Stadtkirche nämlich. Aber um die soll es hier nicht gehen.
Das Altarbild von Prof. Kannengießer wurzelte mit seinen Ausdrucksformen also noch ganz in der Schule der Nazarener und hatte daher beiseite geschafft zu werden.
Man muß die Nazarener nicht mögen. Ich habe da teilweise selbst meine nicht unerheblichen Schwierigkeiten. Aber seinen persönlichen Geschmack oder den der Zeit so zum unhinterfragten Maßstab und Muster zu machen, da hilft es sicher enorm, wenn man sich nah zum lieben Gott weiß. Oder noch etwas böser: Ich habe gerade bei Leuten aus dem geistlichen Fach nicht selten den Eindruck, daß sie durch den beruflichen Umgang mit dem Ewigen oft nicht mehr recht zu unterscheiden wissen, wo ihre Person aufhört und die des Herrgott anfängt. So wie offenkundig hier.
Probefreilegungen in der Chorapsis mit wieder eingesetztem Fenster des Erzengel Michael (siehe dortigen Beitrag)