Saule, Pērkons, Daugava
Unter dem Datum des 18. Juni 2016 schrieb Herr Klonovsky „Wir – und ich habe keine Ahnung, wen genau ich damit meine, wer noch alles aus welchem Teil der Welt dazustoßen wird, ich bin ja ein gänzlich unrassistischer Chauvinist – wir Europäer sind noch lange nicht besiegt.“
Dies war seine sichtlich beeindruckte Reaktion auf die Darbietung von „Saule, Pērkons, Daugava“ durch einen lettischen Chor. Ich kann das durchaus verstehen, bin aber von so pedantischer Natur, daß ich gern genauer wissen will, was mich da zu überwältigen sucht. Es war recht mühsam.
Zunächst zum Text. Der Dichter Rainis (eigentlich Jānis Pliekšāns), eine offenbar reichlich widersprüchlich Gestalt, einerseits Sozialist mit Revolutionsambitionen, fühlte er sich andererseits den nationalen Mythen und Traditionen seines Landes tief verbunden, so daß er am Ende als angesehener Politiker und Literat im unabhängigen Lettland landete und nicht etwa wie sein zeitweiliger Weggefährte Pēteris Stučka als erster Volkskommissar der Justiz der UdSSR.
1916 schrieb er die patriotische Ballade Daugava, aus der das obige Stück stammt. Es spielte wohl eine Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung am Ende des 1. Weltkriegs, aber soweit ich das nachvollziehen kann, ist bis 1989 die tatsächliche Bekanntheit eher fraglich. Das änderte sich jedenfalls während der 2. lettischen Unabhängigkeitsbewegung, als der Musiker und Komponist Mārtiņš Brauns 1988 „Saule, Pērkons, Daugava“ schuf, das bald in den Rang einer inoffizieller Nationalhymne aufstieg und bis heute populär blieb.
Saule, Pērkons, Daugava
Ich habe keine deutsche Übersetzung gefunden, zwar eine französische, die mir, da ich die Sprache nicht beherrsche, nicht wirklich half, aber auf einem Blog (der etwas verwaist wirkte, aber offenkundig über junge Menschen aus Nordeuropa handelte) sah ich in den Kommentaren immerhin endlich eine englische Übersetzung.
Die nun wiederum ins Deutsche zu übertragen, wäre eher albern; daher läuft es im folgenden weitgehend auf deren Inhaltsangabe hinaus (wobei andere englische Übersetzungen, die ich dann doch noch fand, teilweise recht abweichend übertragen, das Gedicht scheint ausgesprochen interpretationsoffen zu sein).
Es treten auf "Saule" (die Sonne), „Pērkons“ (der Donner) als alte lettische Naturgottheiten. Der Fluß Daugava (Düna), der als eine Art lettischer Schicksalsfluß gilt, und „Latve“, die lettische Nation:
Saule setzte Latve dorthin, wo sich die Enden treffen, weißes Meer, grüne Erde, für Latve - der Schlüssel der Tore.
Für Latve - der Schlüssel der Tore, Daugava - der Wächter. Fremde Menschen stürmten die Tore. Ins Meer fiel der Schlüssel.
Blau leuchtender Donner nahm den Schlüssel von den Teufeln, Tod und Leben sind weggeschlossen. Weißes Meer, grüne Erde.
Saule setze Latve an das Ufer eines weißen Meeres, die Winde wirbelten Sand. Was sollen die lettischen Kinder trinken?
Saule bat Gott, die Daugava zu graben, Tiere gruben, Gott ergoß das Wasser des Lebens aus einer Wolke.
Das Wasser des Lebens, das Wasser des Todes strömten zusammen in der Daugava. Ich tauchte die Spitze eines Fingers hinein und fühlte beides in der Seele.
Das Wasser des Lebens, das Wasser des Todes, Wir fühlen beides in unserer Seele.
Saule ist unsere Mutter, Daugava lindert den Schmerz, Donner, der Töter des Teufels – er ist unser Vater.
Reichlich kryptisch und überraschend pagan. Eher eine Anrufung dieser längst versunkenen Götter, ein Heraufbeschwören der alten lettischen Mythen. Die Erwähltheit Lettlands macht es für fremde Mächte, Eindringlinge, „Dämonen“ begehrenswert. Das Land leidet an seiner Erwähltheit.
Offenkundig eine Anspielung auf die wechselhafte Geschichte des Landes, in der die herrschenden, aber auch (in unterschiedlichem Maße) kulturtragenden Schichten deutsch, schwedisch, polnisch und am Ende russisch sprachen, die Letten stellten vor allem die Landbevölkerung. Die nationale Selbstfindung begann spät im 19. Jahrhundert, es ist unklar, ab wann sich die Letten überhaupt als Nation empfanden. Die Unabhängigkeit im frühen 20. Jahrhundert endete bald in der Katrastophe, es war lange unklar, ob diese Nation bestehen bleiben würde.
Das ist nicht der Platz, um über lettische Geschichte zu räsonieren oder darüber zu spekulieren, wer mit den Dämonen denn nun wie gemeint sei. Noch mehr erstaunt, daß der Text vor den eigentlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstand, sie also gewissermaßen zu antizipieren scheint.
Wie auch immer, dies sollten nur ein paar Anmerkungen sein, damit man ggf. eine Ahnung erhält, was einen denn derart beeindruckt.
Martins Brauns - Saule Perkons Daugava
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Übrigens hatte ich ja oben zum Artikel „Baltic religion“ in der Encyclopaedia Britannica verlinkt. So instruktiv der Artikel war, zwei Zitate kann ich nicht vorenthalten, bekanntlich gab es lange einen starken, auch kulturellen deutschen Einfluß auf die baltischen Gebiete, aber man darf das natürlich auch so sehen, nun ja:
„Historical documents, already partially compiled and published, could be expected to yield much more information. Their value, however, is made problematic by the fact that all such documents were written by foreigners, mainly Germans who, in the course of their centuries-long eastward expansion, subjugated the Baltic peoples and exterminated some of them.“
„Old religious beliefs have persisted because the Germans, after conquering the Baltic lands in the 13th and 14th centuries, made practically no attempt at Christianization and contented themselves with only economic gains.“