Sonntag, 31. März 2019

Über Bach oder das 5. Evangelium - Teil 1

Altes Johann Sebastian Bachdenkmal in Leipzig
von Norden, hier gefunden

Wie erklärt man musikalische Tiefe? Mit welchen Worten zeigt man auf, wie das Schöne eine Brücke zum Transzendenten schlägt? Gar nicht. Man kann es nicht, naturgemäß. Man mag auf überraschende Techniken hinweisen, anspruchsvolle Innovationen, die Perfektion des Handwerks also; aber das wird nie zum Kern vordringen, es hat immer etwas von einem dekonstruierten Tanz oder einem Erklär-Bild.

Nietzsche & andere Stimmen zu Bach

Auch große Geister können da mächtig neben die Tasten greifen. Etwas Nietzsche gefällig?

„Sebastian Bach. — Sofern man Bachs Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört, und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entraten muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zumute sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere große moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt überwand. In Bach ist noch zu viel krude Christlichkeit, krudes Deutschtum, krude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.“

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Zweiter Band, Nr. 149, Sebastian Bach

Das ist in sich derart inkonsistent, daß wir es einfach so zur Abschreckung für sich stehen lassen wollen.

Das folgende Cembalokonzert mag für sich sprechen, nur zuvor noch ein Zitat aus den Kommentaren dazu:

"This is Bach, the composer, playing Gould, the instrument."


Glenn Gould spielt J.S. Bach, Cembalo-Konzert d-Moll BWV 1052

Wer eine recht eingängige Kurz-Beschreibung des Besonderen von Bachs Harmonik hören will, schaue sich das nachfolgende Video von einem Herrn Rick Beato an und gehe am besten gleich auf Minute 9.00 ff., er beschreibt dort eine Akkordauflösung, die sich bis zum 20. Jahrhundert so nicht wieder finde, nicht bei Mozart, nicht bei Beethoven...


„What Made Bach Great?“ 

Übrigens geht der berühmte Satz vom „5. Evangelium“ (und damit folglich vom 5. Evangelisten) wohl auf den schwedischen Bischof Nathan Söderblom zurück, auch wenn er meist als Zitat von anderen überliefert  wird. Aber in einem Vortragsmanuskript von 1919 z.B. findet man ihn dann doch:

"Wenn Sie mich nach einem fünften Evangelium fragen, dann zögere ich nicht, die Interpretation der Heilsgeschichte zu erwähnen, die ihren Höhepunkt in Johann Sebastian Bach erreichte".

Wo wir gerade bei Lobreden sind: Wenn jemand etwas Wertvolles kennt, daß er gewissermaßen nach dem letzen Schiffbruch mit sich reißen wollte, um zu überleben. Was wäre es? Bach? Nach der Meinung von Mendelssohn-Bartholdy offenbar schon. Denn laut Robert Schumann habe er über Johann Sebastian Bachs "Schmücke dich, O liebe Seele" (BWV 654) mit dem "innigsten Ausdruck" geäußert: „Wenn mir das Leben alles genommen hätte, dies Stück würde mich wieder trösten“. Allerdings soll er über Carl Philipp Emanuel eben auch im Verhältnis zu seinem Vater gesagt haben: „Es wäre als wenn ein Zwerg unter die Riesen käme“.

Letzterer hat allerdings an einem Nekrolog mitgeschrieben, der sich 1754 in der "Musikalischen Bibliothek" findet und in ihm dem etwa steht:

„Hat jemals ein Componist die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke gezeiget; so war es gewiß unser seliger Bach. Hat jemals ein Tonkünstler die versteckten Geheimnisse der Harmonie in die künstlichste Ausübung gebracht; so war es gewiß unser Bach. Keiner hat bey diesen sonst trocken scheinenden Kunststücken so viele Erfindungsvolle und fremde Gedanken angebracht als eben er... Seine Melodien waren zwar sonderbar; doch immer verschieden, Erfindungsreich, und keinem anderen Componisten ähnlich. Sein ernsthaftes Temperament zog ihn zwar vornehmlich zur arbeitsamen, ernsthaften, und tiefsinnigen Musik; doch konnte er auch, wenn es nöthig schien, sich besonders im Spielen, zu einer leichten und scherzhaften Denkart bequemen.“

Johann Abraham Birnbaum rupft Johann Adolf Scheibe

Die Änderung des Zeitgeschmacks, die sich hier andeutet, wird bei einem Johann Adolf Scheibe bereits 1738 deutlich ausgesprochen: Nachdem er ihn erst für seine spielerische Virtuosität in den höchsten Tönen gelobt hat, schlägt er dann zu:



„Dieser grosse Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte… Kurz: Er ist in der Music dasjenige, was ehmahls der Herr von Lohenstein in der Poesie war. Die Schwülstigkeit hat beyde von dem natürlichen auf das künstliche, und von dem erhabenen auf das Dunkle geführet; und man bewundert an beyden die beschwerliche Arbeit und eine ausnehmende Mühe, die doch vergebens angewendet ist, weil sie wider die Natur streitet.“

Schwulst und Dunkelheit also. Bachs Freund Johann Abraham Birnbaum war darüber so aufgebracht, daß er im selben Jahr seine Replik drucken ließ. Nur fällt sie derart ausführlich aus, daß wir allenfalls Proben davon bringen können. Sie ist übrigens höchst vergnüglich zu lesen und findet sich vollumfänglich hier.

"Es wird der Herr Hof-Compositeur ferner beschuldiget, daß er seinen stücken durch ein schwülstiges und verworrenes wesen das natürliche entzöge. Dieses ist so hart, als dunckel geredet. Was heist schwülstig in der Music?" So fragt Birnbaum als erstes, um alsdann Beispiele für Schwulst anzubringen und schließlich zu urteilen:

"Allein dergleichen von dem Herrn Hof-Compositeur nur zu dencken, geschweige zu sagen, wäre die gröbste schmähung. Dieser componist verschwendet ja eben nicht seine prächtigen zierrathen bey trinck- und wiegen liedergen, oder bey andern läppischen galanterie stückgen. In seinen kirchenstücken, ouverturen, concerten und andern musicalischen arbeiten, findet man auszierungen, welche denen hauptsätzen, so er ausführen wollen, allzeit gemäß sind. Der verfasser hat also etwas gesagt, welches darum nichts ist, weil es dunckel und nicht erwiesen werden kann..."

Der Kritiker selbst also ist jener, der Dunkles hervorbringt. Dann nimmt er sich den andern Vorwurf vor:

"Was heist in der Music verworren? Man muß ohnfehlbar die wortbeschreibung von dem was man überhaupt verworren nennet zu hülffe nehmen, wenn man errathen will wohin des verfassers meinung gehe. So viel weis ich, daß verworren dasjenige heisse, was keine ordnung hat und dessen einzelne theile so wunderlich untereinander geworfen und in einander verwickelt sind, daß man, wo ein jedes eigentlich hin gehöre, nicht absehen kann.“

Meine der Kritiker dies, so daß bei Bach „alles dermassen durcheinander gehe, daß man nicht daraus klug werden könne“, so müsse er Birnbaum über den Verfasser der Kritik „faßt glauben, daß einige verwirrung in seinen gedancken vorgegangen sey, welche ihm das, was wahr ist, zu finden nicht erlaubt.“ Denn:

„Wo die regeln der composition auf das strengeste beobachtet werden, da muß ohnfehlbar ordnung seyn. Nun will ich nimmermehr hoffen, daß der verfasser den Herrn Hof-Compositeur vor einen übertreter dieser regeln halten wird.“

Altes Bachdenkmal in Leipzig 
Holzschnitt nach einem Aquarell von Eduard Bendemann

Und hierauf gibt Birnbaum eine wunderbare Schilderung davon, wie Bach die Stimmen traktiert:

„Ubrigens ist gewiß, daß die stimmen in den stücken dieses grossen meisters in der Music wundersam durcheinander arbeiten: allein alles ohne die geringste verwirrung. Sie gehen mit einander und wiedereinander; beydes wo es nöthig ist. Sie verlassen einander und finden sich doch alle zu rechter zeit wieder zusammen. Jede stimme macht sich vor der andern durch eine besondere veränderung kenntbar, ob sie gleich öfftermahls einander nachahmen. Sie fliehen und folgen einander, ohne daß man bey ihren beschäfftigungen, einander gleichsam zuvorzukommen, die geringste unregelmäßigkeit bemercket. Wird dieses alles so, wie es seyn soll, zur execution gebracht; so ist nichts schöners, als diese harmonie."


Bach - Musikalisches Opfer BWV 1079

Und schließlich zum Vorwurf der Unnatürlichkeit:

"Viel dinge Werden von der natur höchst ungestallt geliefert, welche das schönste ansehn erhalten, wenn sie die kunst gebildet hat. Also schenckt die kunst der natur die ermangelnde schönheit, und vermehrt die gegenwärtige. Je gröser nun die kunst ist, das ist, je fleißiger und sorgfältiger sie an der ausbeßerung der natur arbeitet, desto vollkommener gläntzt die dadurch hervorgebrachte schönheit. Folglich ist es wiederum unmöglich, daß die allergröste kunst die schönheit eines dinges verdunckeln könne."

Bachs Polyphonik charakterisiert er wie folgt (die Kritik war eine fehlende führende Oberstimme): "Vielmehr fliest das gegentheil aus dem wesen der Music. Denn dieses besteht in der harmonie. Die harmonie wird weit vollkommener, wenn alle stimmen miteinander arbeiten. Folglich ist eben dieses kein fehler, sondern eine musicalische vollkommenheit..."

Es sei daran erinnert, daß Scheibe seine Kritik anonymisiert hatte, indem er sie einem „geschickten Musikanten, der sich anitzo auf Reisen befindet", in den Mund legte. Birnbaum hatte aber nicht nur das offensichtliche Ziel der Attacke erkannt, sondern auch den „Täter“ mit den launigen Worten fixiert: „Zum wenigsten zeigten einige besondere umstände des gedachten briefs gantz deutlich, daß man nicht lange nach der Scheibe zielen dürffe wenn man das schwartze treffen wolle.“

Und so endet er mit dem leicht vergifteten Wunsch. "Ich und alle billige verehrer des grossen Bachs wünschen dem verfasser künfftig gesundere gedancken, und nach überstandener musicalischen reise den glücklichen anfang eines neuen lebens, das von aller unnöthigen tadelsucht völlig möge befreyet seyn."

Altes Johann Sebastian Bachdenkmal in Leipzig

nachgetragen am 3. April

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