Mittwoch, 16. Dezember 2020

Wer errichtet das nächste Monte Cassino?

Der hochwohllöbliche Herr Wendt hat, wir immer kenntnisreich, sich eines betrüblichen Themas angenommen. Fassen wir es so zusammen – die bundesdeutsche Kanzlerin und die Bildungsmisere.

Mich beschäftigten mehr seine „Nebengedanken“ oder sagen wir es anders, seine Beobachtungen entfernter vom Ausgangsthema:

„Anders als die bis ins Jahr 2100 projizierten Globalklimaveränderungen, die bekanntlich den Umbau einer ganzen Industriegesellschaft erzwingen, anders als die angeblich essenzielle Bedrohung durch Rechte und Rassisten, zu deren Abwehr die Bundesregierung ganze Forschungsverbünde errichtet und eine Milliarde Euro spendiert, gehört die Bildungserosion in Deutschland zu den Fußnoten.“

Er zieht dann einen Vergleich zur Reaktion der DDR-Behörden auf den Verfall der Altbausubstanz:

„Irgendwann ließ sie sich nicht mehr kaschieren, andererseits bröckelten die Gründerzeithäuser zwar, fielen aber nicht sofort um, der Niedergang ließ sich also zeitlich strecken. Die Frage, welche Verhältnisse dazu geführt hatten, und was sich denn ändern müsste, um den Bestand zu retten, hätte das Selbstverständnis der wortwörtlich Verantwortlichen zu stark angetastet.“ Die Funktionäre lobten lieber sich selbst und „die verdienten Flickschuster des Volkes dafür, das Niveau noch ganz gut gehalten zu haben“. Ein Stück über dem Weltniveau lag man immer noch sowieso.

Und jetzt kommt er zu einem entscheidenden Punkt: „Bei den Gründerzeitvierteln der DDR wie den Bildungsbeständen liegt das Problem tief eingebettet im Verfallsobjekt: Es richtet sich schon in seiner bloßen Existenz gegen die politischen Überzeugungen der jeweiligen Verweser. Beide Objekte stammen aus vergangenen Epochen, also Zeiten der Falschheit. Und zu retten wären sie nur durch Restauration. Restauration der Vergangenheit wiederum ist so ungefähr das Verkehrteste, was jemand aus Sicht der Erwachten und Wohlmeinenden heute fordern, geschweige denn betreiben kann.“

Im Grunde könnte man hier abbrechen. Es ist bereits alles gesagt. Also nur noch nachfolgende Marginalien.

Ein Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie macht als Ursache des Übels aus, „den ‚Kulturkampf des Bildungsbürgertums, der bis in die Kultusministerien hineinreicht‘, der sich gegen den Fortschritt an sich stemme, gegen den ‚Abschied vom Wissenskanon der Vergangenheit.‘“.

Herr Wendt gewinnt hier an Schwung: „Den Wissenskanon der Zukunft kann niemand kennen. Die Gegenwart, eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist zu schmal, um einen eigenen Kanon hervorzubringen. Ausnahmslos alles, was an Schulen und Universitäten gelehrt wird, von Algebra, dem Periodensystem und der Elementarteilchenphysik über die Grammatik bis zur Geschichte – alles gehört zwangsläufig zum Wissenskanon der Vergangenheit. Wenn der Direktor eines Forschungsinstituts empfiehlt, sich davon zu verabschieden, dann gehört das in die Chronik, auch wenn kaum jemand seinen Namen kennt. Es reicht, dass seine Empfehlung befolgt wird.“

Er konstatiert weiter „ein generelles Klima, das nicht mehr nur durch Gleichgültigkeit bestimmt wird, sondern durch eine obsessive Bildungsverachtung“. „So, wie die Gründerzeitbauten in der DDR aus dem kapitalistischen Erbe stammten, das ja gerade überwunden werden sollte, steht der Bildungskanon mit seinem Bildungsbegriff für das alte Europa der alten, weißen, zu männlichen und zu bürgerlichen Kunst und Wissenschaft, mit anderen Worten, für alles, das von den Kräften zwischen Kanzleramt und Grüner Jugend längst zum Abbruch freigegeben wurde“.

Er erwähnt, nein nicht Radio Tirana, das lebt in dieser Form nur noch in der glucksenden Erinnerung, sondern den „Deutschlandfunk“ (daß dieser Name immer noch durchgeht, wo er doch so sehr, nun ja, das Gegenteil von inklusiv ist), der ist in der Tat inzwischen eine Nummer für sich, keine Satire könnte so etwas erfinden. Der nämlich stellte zum Hamburger Bismarck-Denkmal die Frage: „Abreißen oder umgestalten?“.

Herr Wendt: „So lauten die Alternativen mehr oder weniger für die gesamte Vergangenheit.

Wobei es noch eine dritte Möglichkeit gibt, einen Kompromiss aus beiden, nämlich den Verfall. Was die Umgestaltung von Denkmalen betrifft: Sie wird beispielsweise von dem ‚Künstlerkollektiv Peng!‘ öffentlich gefordert, hauptsächlich, um Deutschland für seine koloniale Vergangenheit zu strafen; unterstützt werden die Peng-Kollektivisten unter anderen von der Staatsministerin für Kultur Monika Grütters.“

Er skizziert dann ein Gesamtbild - ein Bildungsforschungsinstituts-Direktor, der den einzig denkbaren Wissenskanon für Ballast hält, einen „Bildungsstaatssekretär, der den Abstieg im internationalen Vergleich im BWL-Erstsemesterjargon als Niveauhalten bejubelt“, „talibaneske Redakteurinnen eines Kultursenders“ und eine Talkshowmatadorin und Politikberaterin namens Ulrike Guérot, „die empfiehlt, weniger Mathematik zu wagen. Weil das guttut“. Das Bild komplettierten Grünen-Spitzenpolitikerinnen, die wüßten, daß sich Elektroenergie im Netz speichern läßt, „dass Bienen und Schmetterlinge den klügsten Personen des Landes zuhören, und deren esoterisches Meinen & Fühlen mittlerweile aus fast jeder öffentlich-rechtlichen Sendung und jeder Aufführung des permanenten Kirchentags im Berliner Regierungsviertel trieft.“

Wie immer fragt sich der besorgte Zeitgenosse: Wer steckt hinter sowas? Aber in der Tat, so leicht liegt die Sache nicht. Da ist eher eine unverzichtbare Statik ins Wanken gebracht worden. Schließlich bringt nur der vollständige Untergang das unerhörte Neue hervor et cetera pp ad nauseam. Da ist „kein Komitee im Hintergrund“. Es handele „sich eher um einen sich selbst beschleunigenden Prozess, in dem wie bei einem Lawinenabgang eins zum anderen kommt. Ein Profiteur der Entwicklung muss noch lange kein Strippenzieher sein. Natürlich gibt es Profiteure. Wer fragt, ob Annalena Baerbock insbesondere an dem naturwissenschaftlichen Bildungsverfall interessiert ist, kann genauso gut fragen, ob Fische Interesse an Wasser haben“. 

Die Frage sei lediglich „wie lange die Lawine rollt, und was sie auf ihrem Weg noch mitnimmt“.

Unter den Kommentaren fand ich einen, dessen Urheber sich den Namen „pantau“ gab, auffallend. Das totale „süße Lied der Destruktion“ mache ihn mutlos. Wahrheit und Wirklichkeit bedeuteten stets ein Verletzungsrisiko, jede echte Erfahrung sei ein kleines Trauma. Wer all das beseitigen wolle, müsse das Leben terminieren. Und resignierend: „Man muss nicht so sehr die widerständigen Klugen bestrafen, man muss nur die Blöden belohnen und ihnen Macht geben. Und das findet seit langer Zeit mit einer Ausnahmslosigkeit und Effizienz statt…“.

Herr Wendt hat wieder einmal Bausteine zur Beschreibung dieses Zeitalters geliefert. 

Und nun? Gefühle sind billig, jeder kann sie beliebig haben. 

Frans Vervloet, Monte Cassino, vor 1872, hier gefunden

Während Benedikt von Nursia zweifelsohne bemerkte, daß es mit allem, wofür die antike Welt im höheren Sinne stand, gerade vermeintlich für immer zu Ende ging, gründete er im Jahre 529 Monte Cassino. Sinnfälligerweise waren es die Alliierten, die es im Februar 1944 weitgehend zerstörten.

Monte Cassino nach dem Bombenangriff im Februar 1944, von hier

Alle Tendenzen und Phänomene, auf die Herr Wendt deutet, leben von der Zerstörung. Sie haben keine eigene Substanz.

Was bleibt also? Die Handlanger des Üblen ärgern mit dem, wo es sie trifft: Wiedergewinnen und Wiederherstellen, wo es einem gegeben ist. Sie schreckt jede Spur des Schönen und Beständigen, die wieder auflebt. Das kulturelle Gedächtnis am Leben erhalten. Und der Herr der Zeiten mag es fügen, daß sich dafür auch neue Orte finden.

Monte Cassino, Krypta, hier gefunden

Die Eingangsbilder stehen für Erinnerungen an den Januar 2009.


Berlin, Gendarmenmarkt, um 1900, hier gefunden

Noch zu dem Vorigen

Tatsächlich schwankten die Betreiber der DDR immer zwischen Vernachlässigung und mutwilliger Zerstörung auf der einen und Selbstbeschmückung nach Art einer Trophäensammlung auf der anderen Seite. Das zerstörte Potsdamer Stadtschloß gegen das stolz vorgezeigte Sanssouci, die Wiedergewinnung der Semper-Oper in Dresden und des innen sogar historisierend wiederhergestellten Schauspielhauses in Berlin.

Dahinter stand wohl ein eher instabiles Selbstbewußtsein. Neben dem Willen zur Zerstörung gab es den des Anerkannt-Werdens, das Bemühen um Legitimierung durch einen „fortschrittlichen“ Traditionsstrang, dessen Höhepunkt man darstellen wollte, der aber etwa auch die Steinschen Reformen und die Befreiungskriege und zum Ende hin sogar Friedrich den Großen mit einschloß. Eine Art von Bemächtigungsstrategie. 

Das alles ist bei den Epigonen von heute völlig weg. 

Berlin, Schauspielhaus, Großer Saal, hier gefunden

nachgetragen am 17. Dezember

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