Dinge verbinden uns oft in besonderer Weise mit unserem Lebensfaden. Und auch der allfällige Einwand der Vergänglichkeit behält dagegen nicht selten nur seine kleine begrenzte Wahrheit.
Mit wieviel Takt und Einfühlungsvermögen unser Großherzog Georg Goethe zu erfreuen wußte, mit dem ihn nicht nur ein reger Briefwechsel, sondern wirkliche Wertschätzung verband, zeigt diese Geschichte aus der Gartenlaube von 1863 von Eduard Schmidt-Weißenfels, die ich gerade eben fand. Ich bringe sie gekürzt. Wer das Original sucht, begegnet ihm hier.
„Karl August’s fünfzigjährige Regierung war eben erst glänzend und herzlich vom weimar’schen Volke gefeiert worden, als sich die Elite der Dichterstadt und des deutschen Landes anschickte, Goethe’s goldenen Jubeltag als Dichterfürst und Dioskur des Großherzogs von Weimar zu feiern. Am 7. November 1825 waren es fünfzig Jahr, daß Goethe in jugendlicher Kraft und geschmückt mit den ersten Kränzen dichterischen Ruhmes in Weimar eingetroffen; an diesem Tage sollte die Jubelfeier stattfinden. Der Großherzog Georg Friedrich von Mecklenburg-Strelitz war einer der eifrigsten unter den deutschen Fürsten, seine Verehrung für Goethe an diesem Festtage in sinniger Weise an den Tag zu legen...
Georg Friedrich hat seinem Lande... viel Wohltaten erwiesen... Ein braver Herr, der mit Recht als ein Landesvater galt und dem man es nicht nachtragen konnte, daß er als siebzigjähriger Greis sich nicht gut in die neue Zeit von 1848 finden konnte, war er ein Freund der Literatur und der Kunst und liebte es, sich auch als solchen zu zeigen. Er starb fast achtzigjährig erst 1860, geehrt als einer der besten der alten Patriarchenfürsten unter den gekrönten Häuptern Europas.
In aufrichtiger Verehrung für Goethe sann Georg Friedrich vergeblich darüber nach, wie er dieselbe an dem goldenen Jubeltage bezeigen könne. Er war nicht von den Fürsten, die da meinen, mit einem Orden tue er schon einem solchen Manne gegenüber das Möglichste...
Der Großherzog fand endlich den Weg, um das zu erreichen, woran ihm lag: ein würdiges Geschenk für den Jubeldichter. Die Mutter Goethe’s, die herrliche ‚Frau Rath‘ von der ihr Sohn die Frohnatur und die ‚Lust zu fabulieren‘ geerbt, war schon 1808 gestorben; der Vater gar schon 1782. Die Wirtschaft der Eltern hatte längst ihre Auflösung erhalten; diese und jene Freunde in Frankfurt besaßen etwas davon; das Meiste war verkauft worden...
Georg von Mecklenburg empfahl nun seinem Geschäftsträger in Frankfurt am Main dringend an, irgend ein Stück von der Wirtschaft des Goethe’schen Hauses wieder zu erwerben, womöglich geeignet, in dem greisen Dichter eine recht lebhafte Erinnerung an seine schöne Jugendzeit zu erwecken...
Was sich fand und echt war, konnte selten als ein für Goethe besonders interessanter Gegenstand angesehen werden, war kaum in eine Beziehung zu seinem Kindesleben im Elternhause zu setzen. Doch die ernstlich betriebene Nachforschung lohnte sich zuletzt in besserer Weise, als man hoffen konnte, nachdem die Wirtschaft seit siebzehn Jahren auseinander gerissen war. Man fand die große, alte Schlaguhr mit dem stattlichen Gehäuse, die in der Familienstube des Ratsherrn Goethe zu Frankfurt gestanden hatte.
Welcher Gegenstand konnte wohl geeigneter sein, auf Goethe den beabsichtigten Eindruck hervorzubringen, als diese tagtägliche Mahnerin seiner Jugend, diese Gebieterin des pedantisch geordneten Hauswesens der Eltern, nach deren Fingerzeig und ewig gleichmäßigem gravitätischem Stundenschlag Alles geregelt war? Der Großherzog war höchst erfreut über diesen Fund...
Der Großherzog hatte die Bitte ausgesprochen, die Uhr derart aufzustellen, daß ihr Schlag zu gewohnter Stunde womöglich den greisen Dichterfürsten erwecke. Abends vor dem Jubeltage ward nun die Uhr, ohne daß Goethe es ahnte, in sein Haus gebracht. Während er schlief in jenem kleinen, schmalen Zimmer neben dem einfachen Arbeitskabinett, stellte der treue Diener Friedrich sie an die schmale Fensterwand des kleinen Vorzimmers...
Um fünf Uhr des Morgens pflegte Goethe regelmäßig zu erwachen; auf ein paar Minuten vor fünf wurden die Zeiger der ehrwürdigen Uhr gestellt. Im richtigen Augenblick, am andern Morgen, sollte der Diener den Pendel in Bewegung setzen. Goethe lag in ruhigem Schlummer... Plötzlich hebt im Vorzimmer schnarrend die Uhr aus, und durch die tiefe Stille tönt ein sonorer, lang aussummender Schlag.
Der Dichter horcht, noch im Schlafe, auf. Träumt er, daß er im Elternhause sei und die alte Uhr wieder vernehme, ihren Stundenschlag, der ihn in erster Jugendliebe zu Gretchen getrieben und später zu Lili? - Wieder klingt der Ton an sein Ohr. Nein, das ist kein Traum! Goethe hebt sich hoch auf in seinen Kissen; er fühlt, daß er wacht. Ein dritter Schlag folgt, ein vierter, ein fünfter.
Der Dichter lässt ihn verklingen; ein Wonnegefühl presst ihm das Herz zusammen, und er lauscht begierig dem Auszittern der Tonwelle, bis sie stirbt. Dann zieht er die Klingel an seinem Bett, und als der wartende Diener hereintritt, ruft er ihm wie jubelnd zu: ‚Friedrich! Friedrich! Was war denn das? Ich hörte eben die Uhr aus meinem Elternhause schlagen.‘
Der Diener nickte lächelnd mit seinem Haupt und wies mit der Hand nach dem Vorzimmer... Mit einem Sprung war der rüstige Greis aus dem Bett, und kaum mit dem Nötigsten bekleidet, eilte er nach dem Vorzimmer, in dem er, von ein paar Lichtern erhellt, die Uhr aus dem Elternhause am Hirschgraben in Frankfurt erblickte. Ein paar Tränen der Rührung traten in seine großen blauen Augen; lange stand er vor der Uhr und horchte auf ihr gravitätisches Tiktak, auf diesen Herzschlag der elterlichen Wohnung. Eine Flut von Erinnerungen durchströmte seine Brust; eine Seligkeit kam über ihn, die keine Worte fand.
Es erstand vor seinen Augen das Bild des gestrengen Vaters, der schönen, herzigen Mutter, der geliebten, nun auch längst gestorbenen Schwester Cornelia; er sah in Gedanken die Uhr an ihrem alten Platze in der Familienstube, daneben den großen, schweren Sorgenstuhl, den der Vater zuweilen Abends einnahm, in dem er manches Mal gesessen und das Haupt geschüttelt, wenn sein Sohn ihm von dem Universitätsleben in Leipzig und Straßburg mit übermütigem Frohsinn erzählte, und die Mutter währenddessen am großen Eßtisch in der Mitte des Zimmers ihrem Platz hatte, mit einer Handarbeit beschäftigt und stolz lächelnd ihren Wolfgang von der Seite betrachtend.
Wenn dann diese selbe Uhr mit diesem selben Schlag die Stunde anzeigte, in der pünktlich die Betten aufgesucht wurden, stieg Goethe nach seiner Dachstube hinauf und wartete gewöhnlich ab, bis die Alten zur Ruhe gegangen waren. Dann schlich er leise die Treppe wieder hinab, öffnete das Haustor, und nun ging’s fort zu den lustigen Genossen, um mit ihnen den Abend und die halbe Nacht zu verjubeln. Ein Bild dieser Erinnerungen an die wilde Zeit seiner Jugend reihte sich schnell an das andere; der Greis schwelgte in dieser Fata morgana, bis ein neuer Schlag der Uhr sie wie durch Zauber verscheuchte und ihn an die Wirklichkeit mahnte.
Schon dämmerte der Tag, und wie gewöhnlich öffnete der Dichter die Fenster seines Schlafzimmers. Liebliche Morgenmusik begrüßte ihn aus seinem Garten - die Feier seines goldenen Jubeltages, wie sie vom Großherzog Karl August angeordnet war, hatte damit ihren Anfang genommen.
Bald darauf waren alle Wagen der Stadt in Bewegung, alle angesehene Leute auf der Wallfahrt nach des Dichters Hause. Deputation folgte auf Deputation, um ihm Diplome, Medaillen, Ehrengeschenke und dergleichen zu überreichen; der Großherzog und seine Gemahlin besuchten ihn und widmeten ihm eine Stunde; es kamen die Mitglieder der großherzoglichen Familie, die Minister, die höchsten Beamten des Landes, die ersten Damen von Weimar, um der Enthüllung der schönen Büste Goethe’s in seinem eigenen Hause beizuwohnen. Ein großes Festessen im Rathhaussaale fand ihm zu Ehren statt; am Abend wurde seine „Iphigenia“ aufgeführt und der Dichter beim Eintritt in die Loge mit begeistertem Zuruf empfangen.
Noch ehe er, kränklich etwas und ermüdet von dem Wirrwarr des Tages, sich zur Ruhe begab, brachte ihm die großherzogliche Kapelle eine Abendmusik; die Fenster aller Häuser am Frauenplan waren erleuchtet; in seinen Prunkzimmern feierte ihn eine zahlreiche Gesellschaft. Zahllose und kostbare Geschenke waren in seinem Hause aufgestapelt, aber das teuerste von allen blieb doch die alte Uhr aus seinem Elternhause.
Der schöne Tag war reich an Huldigungen und Überraschungen, doch die sinnigste unter allen war für ihn die, welche der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz ersonnen hatte. Noch als er an jenem Jubeltag ins Bett ging, sprach er mit Entzücken von der ersten Begrüßung... Er lauschte so lange, bis er diese lieben Töne noch einmal hörte; dann schloß er die Augen...
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