Nun ist er also seinem Freund Michael Schumann nachgefolgt. Beide sind auf dem obigen Bild zu sehen, das jetzt endgültig zu einem Stück Erinnerung geworden ist. Ich bin zweifelsohne denkbar fehl am Platz, ihn angemessen zu würdigen. Aber seine Persönlichkeit nötigt förmlich, dennoch etwas zu versuchen.
Ich habe Lothar Bisky im politischen Raum kennengelernt, gewissermaßen von der gegnerischen Seite her, im Brandenburger Landtag, Anfang der 90er Jahre (es ist sehr unangenehm, hier von sich selbst zu reden, aber nur so kann ich erklären, wie ich zu meinen Bemerkungen komme). Abgesehen davon, daß mich Parteigrenzen nie besonders interessiert haben, gab es natürlich in vielem Grundsätzlichen doch Erhebliches, das eigentlich trennen sollte, was es aber nicht tat.
Lothar Bisky war als Fraktionsvorsitzender der PDS nahezu auch von allen anderen Abgeordneten respektiert und hoch geschätzt. Das rührte von seiner Wesensart her. Menschlich zutiefst integer, war er das Gegenteil eines verbohrten Ideologen, warmherzig, offen, humorvoll, ausgleichend, geduldig, nie persönlich verletzend, zuweilen etwas hölzern in seinen Worten, doch geistig immer herausfordernd, aber auch bestimmt, zu jeglichem Opportunismus ungeeignet.
Er war ein äußerst anregender und unterhaltsamer Gesprächspartner. Denn aus Gründen, die hier nicht ihren Platz haben, hat es über längere Zeit auch im privaten Rahmen immer wieder Begegnungen geben. In den letzten Jahren hatte ich ihn allerdings aus den Augen verloren. Was zu diesen privateren Gesprächen zu sagen ist, nur daher erwähne ich es: Man begegnete dabei der gleichen authentischen Person wie im öffentlichen Raum. Ich habe ihn auch aus einem ganz bestimmten persönlichen Grund eingangs zusammen mit Michael Schumann erwähnt.
Linkes Denken ist mir offen gestanden in der Regel äußerst suspekt (ein sogenanntes „rechtes“ oft ebenso, aber das tut wieder nichts zur Sache), in der Regel machen es die entsprechenden Charakterdarsteller einem dabei auch nicht wirklich schwer.
Bei beiden, bei Schumann und bei Bisky, bekam man eine Ahnung davon, welch innerlich integre menschliche Motivation, sich in diesem Denken tatsächlich verbergen kann. Wenn man sich auch den Folgerungen nicht anschließen konnte, die Haltung mußte einfach mindestens Respekt abnötigen.
1895 blamierte sich der Deutsche Reichstag zu völliger Erbärmlichkeit, als er dem ehemaligen Reichskanzler Bismarck die Gratulation zum 80. Geburtstag verweigerte. Der Reichstagspräsident, Albert von Levetzow und sein Vizepräsident Dr. Bürklin traten darauf von ihren Ämtern zurück. Manche Ereignisse sind so klar, daß sich an ihnen die Geister beweisen oder eben in ihrer inneren Erbärmlichkeit demaskieren.
2005 verweigerte die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages Bisky die Wahl zum Vizepräsidenten aus reichlich dubiosen Gründen und setzte sich damit über den lang geübten Brauch hinweg, daß jeder Fraktion ein solcher Sitz zusteht. Ich bin mir sicher, Bisky hat dieses parlamentarische System mit größerem inneren Ernst vertreten und verteidigt als all jene, die meinten, wegen ihres Ressentiments auf die eigenen Regeln pfeifen zu dürfen. Vielleicht war das ein Erbe der Herkunft bei beiden, daß sie an etwas glauben wollten, wo andere nur noch eine nutzbare Funktion sahen.
Die Dinge und Menschen sind oft sehr anders, als sie an der Oberfläche erscheinen. Das wird jedem fremd bleiben müssen, der nicht mehr als diese Oberfläche kennen will oder kann. Bisky war ein Mensch, der um ein tiefgründigeres Dasein gerungen hat. Am 13. August, wenige Tage vor seinem 72. Geburtstag, ist Lothar Bisky in Leipzig gestorben.