Mittwoch, 1. Januar 2020

Über Zeiten


... und ob aus dem Raisonieren darüber, Gescheites zu gewinnen wäre. Eine kleine Lese-Wiese. In 6 Haupt-Stücken.


Caspar David Friedrich: Eiche im Schnee, bis 1828


Über die gelegentlichen Vorzüge des Alterns (I)


„Now, beshrew my father‘s ambition, he was thinking of civil wars when he got me: therefore was I created with a stubborn outside, with an aspect of iron, that, when I come to woo ladies, I fright them. But, in faith, Kate, the elder I wax, the better I shall appeare. My comfort is, that old age, that ill layer up of beauty, can do no more spoil upon my face. Thou hast me, if thou hast me, at the worst; and thou shalt wear me, if thou wear me, better and better: and therefore tell me, most fair Katherine, will you have me?“ 

Henry V, Act 5, scene 2

„Verwünscht sei der Ehrgeiz meines Vaters! Er dachte auf bürgerliche Kriege, als er mich erzeugte: deswegen kam ich mit einer starren Außenseite auf die Welt, mit einer eisernen Gestalt, so daß ich die Frauen erschrecke, wenn ich komme, um sie zu werben. Aber auf Glauben, Käthchen, je älter ich werde, je besser werde ich mich ausnehmen; mein Trost ist, daß das Alter, dieser schlechte Verwahrer der Schönheit, meinem Gesichte keinen Schaden mehr tun kann: wenn du mich nimmst, so nimmst du mich in meinem schlechtesten Zustande, und wenn du mich trägst, werde ich durchs Tragen immer besser und besser werden. Und also sagt mir, schönste Katharina, wollt Ihr mich?“

übersetzt von A. W. von Schlegel


Was dem Menschen dabei widerfährt, wo er nicht für sich und also allein bleiben kann (II)


Dresden, Albertinum, Ludwig Richter, im Juni

Matthias Claudius

Aus dem Englischen

Es legte Adam sich im Paradiese schlafen;
Da ward aus ihm das Weib geschaffen.
Du armer Vater Adam, du!
Dein erster Schlaf war deine letzte Ruh‘.

Derselbe

Ein silbern ABC – N

Nichts ist so elend als ein Mann,
der alles will und der nichts kann.


Caspar David Friedrich: Schwäne im Schilf beim ersten Morgenrot
etwa bis 1820, hier gefunden

Ludwig Uhland

Der Sommerfaden

Da fliegt, als wir im Felde gehen,
Ein Sommerfaden über Land,
Ein leicht und licht Gespinst der Feen,
Und knüpft von mir zu ihr ein Band.
Ich nehm ihn für ein günstig Zeichen,
Ein Zeichen, wie die Lieb‘ es braucht.
O Hoffnungen der Hoffnungsreichen,
Aus Duft gewebt, von Luft zerhaucht!


Was Zeit überhaupt sei (III)



Ernst Barlach, Der Geistkämpfer

„Was ist also Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es; will ich es aber jemandem auf seine Frage hin erklären, so weiß ich es nicht. Doch soviel kann ich gewiß sagen: ginge nichts vorüber, so gäbe es keine Vergangenheit, käme nichts heran, so gäbe es keine Zukunft, bestände nichts, so gäbe es keine Gegenwart.

Wie kann man aber sagen, daß jene zwei Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, sind, wenn die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht ist? Wäre dagegen die Gegenwart beständig gegenwärtig, ohne sich je in die Vergangenheit zu verlieren, dann wäre sie keine Zeit mehr, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart, um Zeit zu sein, in die Vergangenheit übergehen muß, wie können wir dann sagen, daß sie an das Sein geknüpft ist, da der Grund ihres Seins darin besteht, daß es sofort in das Nichtsein übergeht? Also müssen wir in Wahrheit sagen: die Zeit ist deshalb Zeit, weil sie zum Nichtsein hinstrebt.“


St. Augustinus von Hippo Regius


Wie uns die Zeit eine trügerische Gewißheit über unser Urteil gibt (IV)

abweichend kommentiert an 2 Beispielen


Anton Raphael Mengs war ein Favorit seiner Zeit: „Er ist als ein Phoenix gleichsam aus der Asche des ersten Raphael erweckt worden, um der Welt in der Kunst die Schönheit zu lehren, und den höchsten Flug menschlicher Kräfte in derselben zu erreichen.“ (Johann Joachim Winckelmann)

Das obige Fresko „Jupiter küßt Ganymed“ wurde gemalt wohl um 1758/59 von Mengs (heute in der Galleria Nazionale in Rom).

Ich habe die hiesige Großherzogin Marie einmal gerühmt dafür, daß ihre Kopien nicht altern würden. Natürlich ist das genauso ein wacklig zeitgebundenes Lob. Denn das Eigentümliche: Fast immer sehen wir ihnen sofort die Entstehungszeit an, der Zeitgenosse bezeichnenderweise kaum. Ich meinte damals, das komme wohl daher, daß ihnen nicht selten etwas uninspiriert Pedantisches anhafte. Als hätte ich von diesem Bild gesprochen.

Gerade waren Pompejis Wandmalereien bekannt geworden und die gebildete Welt glücklich über ein weiteres gerettetes Original. So etwa unser Goethe. Winckelmann nahm es in seine Schriften auf. Als die Fälschung ruchbar wurde, hatte Goethe immerhin die Anekdote beizubringen, Mengs solle erst auf dem Totenlager seine Urheberschaft gestanden haben. Freunde wurden Mengs und Winkelmann zuvor nicht wieder. Was damalig begeisterte, befremdet uns heute nur noch.

Herkules und Nessus, 1. Jh. n. Chr., Neapel

Geschichte lädt ein zu trügerischen, empfundenen Zeitgenossenschaften. Und dieses Phänomen ist schwer erklärbar. Wer einen römischen Porträtkopf gesehen hat und danach einen frühmittelalterlich grob aus dem Stein gehauenen Heiligen, ist, so er ehrlich ist, erschüttert über das, was zwischendurch an Nähe verlorenging, und grübelt, warum und wodurch.

"Was von oben kommt, muß man mit Ergebung, was von den Feinden kommt, mit Mannhaftigkeit ertragen; denn das ist sonst in dieser Stadt Sitte gewesen, und diese Sitte möge durch euch nicht abkommen. Bedenkt vielmehr, daß sie unter allen Menschen den größten Namen hat, weil sie dem Unglück nicht weicht, und daß sie am meisten Menschenleben und Anstrengungen im Krieg geopfert hat und unter allen bisherigen Staaten die größte Macht besitzt, deren Gedächtnis in Ewigkeit bei der Nachwelt fortleben wird, wenn wir auch jetzt einmal zurückgehen müssen, wie denn überall, wo ein Wachstum stattfindet, auch eine Abnahme natürlich ist…

Daß wir  augenblicklich gehaßt werden und mißliebig sind, ist das Schicksal aller gewesen, die Anspruch erhoben haben, über andere zu herrschen. Wer aber um des Höchsten willen den Neid wählt, ist nicht schlecht beraten. Denn der Haß hält nicht lange stand; der Glanz der Gegenwart aber und der Ruhm bei der Nachwelt sind unvergänglich."

Aus der letzten Rede des Perikles, so man Thukydides vertrauen kann, und wie sollte man nicht (bevor Kleon der Gerber danach uns die Fallstricke der demokratischen Idee aufzeigt und ein anderer Demagoge, Kleophon am Ende Athen in den Untergang führt). Ist uns das nah? Worin? Wodurch? Ich frage für das Nachfolgende...:

"Es ist ein gutes Zeichen für uns, daß unsere Erinnerung die Geschichte nach diesen Sternen erster Ordnung orientiert. Freilich gleichen wir darin den Astronomen, die auf das Sichtbare angewiesen sind, denn wie nur ein großes Licht die unendlichen Entfernungen, so durchdringt auch nur ein hohes Bewußtsein die Nebelbänke der Zeit. Es gibt einen Grad der Helle, der die dämpfende Wirkung der Jahrhunderte bezwingt - so ist uns das Athen des Perikles sichtbarer als das uns doch um tausend Jahre näher liegende mittelalterliche Athen, zu dessen Geschichte Gregorovius die kärglichen Bruchstücke sammelte."


 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz


Caspar David Friedrich: Waldinneres bei Mondschein
ca. 1823 - 1830, hier gefunden

Abgesehen davon, daß die berühmte athenische Demokratie im Peloponnesischen Krieg (er dauerte bis 404 v. Chr.) sich selbst erledigte, sie hat ihn auch mit einer Grausamkeit geführt, die unserem 30jährigen in nichts nachstand (einschließlich der Auslöschung ganzer Städte). Aber Athen hat auch den Mann hervorgebracht, der zum ersten Mal mit größtem Scharfsinn aufzeigte, was hier zusammenwirkte:

Ich zitiere aus dem Kapitel des Thukydides über den o.g. Krieg, das gemeinhin „Die Pathologie des Krieges“ überschrieben wird (man kann es vollständig hier nachlesen).

„Zu so unmenschlicher Rohheit entartete der Parteikampf... und er erschien um so gräßlicher, als es der erste Fall dieser Art war...

So beherrschten nun Parteikämpfe die Städte und bei jedem späteren suchte man sich nach dem, was man über die früheren erfahren hatte, darin, dass man sich unerhört Neuartiges ausdachte, weit zu überbieten, sowohl was das Raffinement der Anschläge, als was die Gräßlichkeit der Rache anging.

Auch die gewohnte Terminologie für das Handeln vertauschte man jetzt nach Gutdünken. Denn unvernünftige Verwegenheit galt für treu ergebene Mannhaftigkeit, vorsichtiges Zögern für bemäntelte Feigheit, Besonnenheit für versteckte Mutlosigkeit, planvolle Überlegung in allen Dingen für Trägheit zu jedem Tun, schlagfertiges Zupacken galt als Eigenschaften des rechten Mannes, auf Sicherheit bedachtes Beraten dagegen als schönklingender Vorwand für eine Ablehnung.

Wer Empörung zeigte, galt immer als zuverlässig, wer ihm widersprach, als verdächtig. Hatte einer mit einem Anschlag Erfolg, war er klug, noch geschickter, wer einen entdeckte; wer aber Vorsorge traf, daß nichts davon nötig sei, schien… vor der Gegenpartei in Angst erstarrt...

Ferner stand es höher in Ehre, Rache an jemand zu üben, als selber nicht zuerst zu leiden. Und wurden etwa einmal zur Versöhnung Eidschwüre gegeben, so hatten sie, da sie von der einen wie von der anderen Seite nur im Drang der Not gegeben wurden, nur für den Augenblick Geltung, solange sie keine Unterstützung anderswoher hatten; bei erster günstiger Gelegenheit aber rächte sich, wer sich zuerst dazu ein Herz fasste, wenn er den Gegner nicht auf der Hut sah, lieber eben jenes Vertrauens wegen als in offenem Kampf, und stellte dabei nicht nur die Gefahrlosigkeit in Rechnung, sondern auch, daß er, wenn er durch Täuschung siegte, zusätzlich den Kampfpreis der Klugheit gewann...

Von dem allen aber lag die Ursache im Verlangen nach Macht, um Herrschsucht und Ehrgeiz zu befriedigen.Daher auch, wenn der Parteienstreit begann, der leidenschaftliche Eifer. Denn diejenigen, die an der Spitze der Städte standen, gebrauchten zwar, die einen wie die andern, wohlklingende Namen, und kämpften hier um bürgerliche Gleichberechtigung der Menge, dort um besonnene Herrschaft der Besten; in Wahrheit aber betrachteten sie das Volk, dem sie angeblich dienten, nur als Kampfpreis und, indem sie auf jede Weise übereinander zu siegen trachteten, wagten sie das Entsetzlichste und gingen bei ihren gegenseitigen Verfolgungen immer weiter und weiter, indem sie sie über die Grenze der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls hinaus steigerten...

Daher übten die einen so wenig als die anderen Gottesfurcht; vielmehr brachten schönklingende Worte, wenn man so auf empörende Weise etwas erfolgreich durchsetzte, einen besseren Ruf. Der Rest der Bürgerschaft aber, der parteilos in der Mitte stand, wurde zugrunde gerichtet, entweder weil er nicht mitkämpfen konnte oder aus Mißgunst, er könne unversehrt davonkommen… So fand nun…, es immer mehr Anklang, einander mit tiefem Mißtrauen gegenüberzustehen.

„... und da alle Stärkeren innerlich überzeugt waren, daß doch nicht auf Treu und Glauben zu rechnen sei, suchten sie sich mehr durch Klugheit im voraus gegen Schaden zu schützen als Vertrauen zu beweisen.

Caspar David Friedrich: Das Friedhofstor
ca. 1825 - 1830, hier gefunden

Es gewannen hierbei selbst Leute von geringerem Verstand meistens die Oberhand. Denn sie fürchteten ihre eigene Schwäche und die Klugheit der Gegner, sie möchten sowohl bei der öffentlichen Debatte den kürzeren ziehen als auch infolge deren geistiger Gewandtheit mit einem Anschlag überrascht werden, und schritten daher mit Entschlossenheit zur Tat...

In Kerkyra nun wurde das meiste hiervon zuerst gewagt: die einen, die mehr mit rohen Übermut als mit Mäßigung beherrscht waren, übten jetzt Vergeltung, sowie ihre Zwingherrn die Gelegenheit zur Rache boten. Die anderen sehnten sich, die gewohnte Armut loszuwerden, und hätten die Güter der anderen zugleich mit Befriedigung ihrer Leidenschaften zu erhalten gewünscht. Wieder andere gingen ursprünglich nicht mit selbstsüchtigen Absichten, sondern um ihrer Gleichberechtigung willen in den Kampf, ließen sich aber, unfähig ihre Leidenschaft zu zügeln, weit fortreißen und verfolgten so auf eine barbarische und unbarmherzige Weise den Sieg.

„… die menschliche Natur, ohnehin gewohnt, selbst gegen bestehende Gesetze zu freveln, zeigte, als sie die Gesetze über den Haufen gestürzt hatte, mit wahrer Lust, daß sie die Leidenschaft nicht zu beherrschen wisse, sich über das Recht hinwegsetze und allem Hervorragenden feind sei...“

Erkennen wir etwas davon wieder?  Könnte man nach 2400 Jahren hoffen, daß der Irrsinn der Entartung sich nicht fortsetzt, die Verkehrung der Begriffe, der Dolch der vorgetäuschten Moral, das Aufpeitschen des Niedersten und der Haß gegen das Herrvorragende? Ist uns das nah? Und wenn, läßt uns diese Nähe nicht eher erschaudern.

Ist die Hoffnung auf eine gut und vernünftig gegründete Ordnung von Bestand auf Erden vermessen. Wer mag das wissen.

Christian Daniel Rauch, Viktoria von Leuthen
Zinkgußkopie im Neustrelitzer Schloßgarten 

Wie man Gottes Huld erträgt (V)


Angelus Silesius

Was man liebt, in das verwandelt man sich (auß S. Augustino)

Mensch, was du liebst, in das wirst du verwandelt werden.
Gott wirst du, liebst du Gott, und Erde, liebst du Erden.


Fünftes Buch, Nr. 200 

Der Weise suchet nichts

Der Weise suchet nichts, er hat den stillsten Orden,
Warumb? er ist in Gott schon alles selber worden.


Sechstes Buch, Nr. 183 

Der Weise ist nie allein

Der Weis' ist nie allein, geht er gleich ohne dich,
So hat er doch den Herrn der Dinge (Gott) mit sich.


Sechstes Buch, Nr. 242. 

Warumb die Seele ewig

Gott ist die ewge Sonn‘, ich bin ein Strahl von ihme;
Drumb ist mirs von Natur, daß ich mich ewig rühme.

Viertes Buch, Nr. 201. 

aus dem Cherubinischen Wandersmann

gesprochen von Katharina Thalbach,

Paul Fleming

An Sich

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkohren;
nimm dein Verhängnüs an. Laß' alles unbereut.
Tu, was getan muß seyn, und eh man dir's gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Lass deinen eitlen Wahn,

und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.


Von der Zeit und dem Anderen (VI)

Caspar David Friedrich:  Friedhofseingang, ca. 1825

"Tempora mutantur, nos et mutamur in illis."

Die Zeit vergeht und wir vergehn in ihr.
(mehr frei übersetzt)

"… dass man mit ewigen Prinzipien die Gegenwart erfasst, so dass sie erkennbar bleibt und aber trotzdem das Grundsätzliche, das Überzeitliche durchschimmert. Trotzdem ist deine Aufgabe deine Zeit."

Uwe Tellkamp

mit meiner herzlichen Empfehlung, dort das ganze Gespräch zu lesen


All das gewissermaßen als Einladung zu einer Gemütshaltung, die gelegentlich als stoisch beschrieben wird, aber darin nicht aufzugehen hat

Ein später

Gruß zum Neuen Jahr

mit den besten Wünschen für eben dasselbe!

Und darauf einen Hohenfriedberger:



abgeschlossen am 8. Januar

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