Heinrich Hoffmann, aus "Die Gartenlaube", 1893
Tote nehmen in der Regel keine Vernunft mehr an. In Kinder dagegen setzt man üblicherweise noch Hoffnungen in diese Richtung (was allerdings voraussetzt, daß der Ermahnende selbst mit ihr, der Vernunft nämlich, hinreichend kontaminiert wurde, aber wir verlieren uns, und das schon zu Beginn dieses Beitrages).
Heinrich Hoffmann wurde am 13. Juni 1809 in Frankfurt am Main geboren, der Arzt und Literat ist eigentlich nur noch als Urheber des
„Struwwelpeter“ ein Begriff, eines der erfolgreichsten deutschen Kinderbücher. Wir dachten, wir sollten zwischendurch etwas Erbauliches bringen.
Bekannt ist vermutlich die Geschichte der Entstehung des Buches, als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl nämlich, weil er mit den Vorhandenen so unzufrieden war daß er lieber selbst eines verfertigte. Er konnte dafür Skizzen benutzen, mit denen er schwierige kleine Patienten beruhigt hatte. Denn vor allem war er Arzt. Er hat tatsächlich mindestens ebenso große Verdienste als Betreuer psychisch Kranker wie als literarischer Autor. In seinen Lebenserinnerungen findet sich der nicht gänzlich bescheidene Satz, es müsse vor allem so sein, daß der Eintritt des Arztes in eine Abteilung etwas vom Sonnenaufgang an sich habe.
Das Buch, das er eher widerstrebend veröffentlichte, war ein Überraschungserfolg; unter den Übersetzern findet sich ein Mark Twain, und neben zahlreichen Verehrern hatte er, allerdings vor allem nach seinem Tode, auch vielfältigste „Benutzer“ und Kritiker im Schlepptau. Insbesondere sein „autoritärer Erziehungsstil“ wurde ihm später vorgehalten und man setzte ihm einen „Antistruwwelpeter“ entgegen. Nun ja.
So wie man im 19. Jahrhundert die Grimmschen Märchen mehr und mehr zu „versittlichen“ suchte, stieß man sich ausgerechnet im 20. Jahrhundert bei Hoffmann an seiner angeblich sadistischen und repressiven Pädagogik. Es gibt Ehrenrettungsversuche, die an das Zeitgebundene gemahnen und betonen, daß auf Grund der schwierigen hygienischen Situation das Daumenlutschen etwa lebensgefährlich sein konnte. Oder daß Brandunfälle gerade bei Kindern damals häufig und besonders verheerend waren.
Als Tierschützer und Anti-Rassist hingegen kommt er erstaunlich modern daher, so daß er auch bei pc-geneigten Zeitgenossen eigentlich mehr Sympathie erfahren sollte. Stattdessen hat man sich lieber daran abgearbeitet, daß er das hyperaktive (Zappel-Philipp) oder das magersüchtige (Suppenkaspar) oder das epileptische Kind (Hans Guck-in-die-Luft) herabgesetzt habe. Ich verweise dazu lediglich auf meine Eingangsbemerkung über die Vernunft.
Vielleicht haben die Kritiker sich ja auch nur als das mißratene Kind in den Geschichten wiedererkannt und waren darüber verstimmt, daß ihnen Sitte und Moral vor die Nase gehalten wurden. Genug von diesen. Wir bringen nun 3 Stücke von ihm, den „Toleranz-Mohren“ und darauf folgend den „Hans Guck-in-die-Luft“ sowie den „fliegenden Robert“.
Wobei ich sagen muß, man spürt den Seelen-Arzt irgendwie, die Sachen haben einen erheblich größeren Tiefgang als ihnen angesicht der eingängigen Verse zugetraut wird. Die Gefahr, sich so sehr vom Wirklichen abzutrennen, daß man am Ende buchstäblich ins Wasser fällt – und vielleicht dabei noch gerettet wird – die Erkenntnis, daß die Sucht nach Abenteuern und Ungebundenheit einen auch ins Nichts davontragen kann, das ist neben anderem durchaus Nachdenk-Stoff für Erwachsene. Die Geschichten:
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Die Geschichte von den schwarzen Buben
Es ging spazieren vor dem Thor
Ein kohlpechrabenschwarzer Mohr.
Die Sonne schien ihm auf’s Gehirn,
Da nahm er seinen Sonnenschirm.
Da kam der Ludwig hergerannt,
Und trug ein Fähnchen in der Hand.
Der Kaspar kam mit schnellem Schritt,
Und brachte seine Bretzel mit;
Und auch der Wilhelm war nicht steif,
Und brachte seinen runden Reif.
Die schrien und lachten alle drei,
Als dort das Mohrchen ging vorbei,
Weil es so schwarz wie Tinte sei!
Da kam der große Nikolas
Mit seinem großen Tintenfaß.
Der sprach: Ihr Kinder, hört mir zu,
Und laßt den Mohren hübsch in Ruh!
Was kann denn dieser Mohr dafür,
Daß er so weiß nicht ist wie ihr? –
Die Buben aber folgten nicht,
Und lachten ihm ins Angesicht;
Und lachten ärger als zuvor
Ueber den armen schwarzen Mohr.
Der Niklas wurde bös und wild, –
Du siehst es hier auf diesem Bild!
Er packte gleich die Buben fest,
Beim Arm, beim Kopf, bei Rock und West’,
Den Wilhelm und den Ludewig,
Den Kaspar auch; der wehrte sich.
Er tunkt’ sie in die Tinte tief,
Wie auch der Kaspar: „Feuer!“ rief.
Bis über’n Kopf ins Tintenfaß
Tunkt sie der große Nikolas.
Du siehst sie hier, wie schwarz sie sind,
Viel schwärzer als das Mohrenkind!
Der Mohr voraus im Sonnenschein,
Die Tintenbuben hinterdrein;
Und hätten sie nicht so gelacht,
Hätt’ Niklas sie nicht schwarz gemacht.
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Die Geschichte vom Hans Guck-in-die-Luft
Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts, allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also daß ein jeder ruft:
„Seht den Hans Guck-in-die-Luft!“
Kam ein Hund dahergerannt;
Hänslein blickte unverwandt
In die Luft.
Niemand ruft:
„Hans! gib acht, der Hund ist nah!“
Was geschah?
Bauz! Perdauz! — da liegen zwei!
Hund und Hänschen nebenbei.
Einst ging er an Ufers Rand
Mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
Sah er, wo die Schwalbe flog,
Also daß er kerzengrad
Immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der Reih’
Sind erstaunt sehr, alle drei.
Noch ein Schritt! und plumps! der Hans
Stürzt hinab kopfüber ganz! —
Die drei Fischlein, sehr erschreckt,
Haben sich sogleich versteckt.
Doch zum Glück da kommen zwei
Männer aus der Näh’ herbei,
Und sie haben ihn mit Stangen
Aus dem Wasser aufgefangen.
Seht! Nun steht er triefend naß!
Ei! das ist ein schlechter Spaß!
Wasser läuft dem armen Wicht
Aus den Haaren ins Gesicht,
Aus den Kleidern, von den Armen;
Und es friert ihn zum Erbarmen.
Doch die Fischlein alle drei,
Schwimmen hurtig gleich herbei;
Strecken’s Köpflein aus der Flut,
Lachen, daß man’s hören tut,
Lachen fort noch lange Zeit;
Und die Mappe schwimmt schon weit.
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Die Geschichte vom fliegenden Robert
Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben. —
Robert aber dachte: „Nein!
Das muß draußen herrlich sein!“ —
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.
Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.
beendet am 14. Juni