Freitag, 16. November 2012

See - Stücke: Loerke

"Tube sponge with sea cucumbers Synaptula and cup corals" 
(c) Nick Hobgood, hier gefunden

Oskar Loerke

Unerreichbar

Es scheint mir vor ein einsames Meer,
Es lauscht aus meinem Blute,
Zu fern für das Leben, zu stumm dem Begehr
Des Magneten, der Wünschelrute.

Vom Licht ist die Salzflut grau und scharf,
Voll Inseln aus Korallen:
Rote Schwären haben die See befallen,
Die niemand heilen darf.

Langgezogen im Wasserbrühen
Schlafen Schlingpflanzen reglos.
Sie vergessen zu rudern und blühen,
Ihr Jahr und Jahrhundert ist weglos.

Sie haben keine Schaumtiermähnen
Mit ihrem Lasso zu fassen.
Hier ist kein Pfad für Schmerz und Tränen,
Nur Geschehn und Geschehenlassen.

Und so, vom heißen Wasser langgezogen,
Ruhn Wachstum und Gewächse.
Nur nachts türmt sich am Himmelsbogen
Goldschorfig eine Urzeit-Echse.

In Luft und Wasser funkeln die Flecken
Dem feurigen Salamander.
Die Lichter spähen und entdecken
Immer nur einander.

Was um das Haupt der Echse kreist entlegen,
Strömt an, meinen Geist zu spalten,
Und Süchte des Herzens schleppen verwegen
Mein Ich durch Weltraumgestalten.

Und endlich lassen sie sich fallen,
Wo niemand sie heimholen darf.
Sind sie das Meer, lichtgrau, salzscharf,
Voll Inseln aus Korallen?

"Reefscape taken in East Timor" (c) Nick Hobgood,

Ein rätselhaftes, nahezu unheimliches Gedicht, dessen deutlich faßbare Stimmung in den Bann zieht, ohne daß man sobald sagen könnte, was einen ergriffen hätte. Kein äußerlich wahrnehmbares, sondern ein inneres Meer begegnet uns „voll Inseln aus Korallen“ , feucht, warm, dämmrig, urtümlich, das rein vegetative Leben, zugleich licht und „salzscharf“. Die „Süchte des Herzens“ lassen endlich „sich fallen, wo niemand sie heimholen darf“.

Ein Fluchtort, vielleicht, ein Zurücknehmen in sich selbst, das Eintauchen in eine vormenschliche Welt? Zumeist ist sein Tonfall sonst weniger fern. Oskar Loerke gilt als Naturlyriker:

"Neulich drehte der Herbstwind um mich einen Wirbel roter und gelber Wein- und Walnußblätter. Was mich prächtig und beklemmend zugleich in seine Mitte nahm, war nicht ein Wirbel schlechthin, auch nicht der Rundtanz des herbstlichen Windes nur, sondern es gehörten alle aufgestöberten Blätter dazu, die Form und Farbe des von ihnen gedrehten Trichters, die Tagesstunde und ihr Licht, die Temperatur der Luft."

Ein genauer Beobachter spricht hier und übrigens ein exzeptioneller Dichter (was schwer auseinander zu denken ist, denn selbst der „Ideen-Lyriker“ sollte seine Gedanken wach- und aufmerksam betrachten), der nie die Anerkennung bekam, die er verdient hat und heute nahezu vergessen ist. Sein Thema sei „die webende Kontinuität des Naturgeschehens“, sagt sein Freund Wilhelm Lehmann, dem das Nachwort des Bandes gewidmet ist, aus dem das obige Gedicht stammt.

Man hat ihn magischen Realist genannt, aber das ist natürlich ein hilfloses Etikett. In meinen Augen versuchte er, Wirklichkeit zurückzugewinnen in der Anschauung und dann tiefer zu dringen.„...durch unser Trauern und Freuen scheint das Endgültige.“

Bekanntlich gibt es den Vorwurf, das Christentum habe uns von der Welt der Erscheinungen weggerissen. Daran mag etwas sein, es hier nicht der Moment, dem nachzugehen. Was gegenwärtig schwerer wiegt, ist etwas anderes. Denn es ist moderne Zivilisation, die Sehen und Sprechen erodieren läßt, bis nur noch Konventions-Geröll übrigbleibt (der dabei gern gesuchte Ausweg des alles Zerschlagens – typisch für das, was man unter dem Wort „Kunst“ heute subsumiert -  führt im Endeffekt zum gleichen entropischen Zustand).

Was Loerke dem entgegenhält, ist nicht eine Art magischer Beschwörung des Wirklichen. Er bleibt sich des grundsätzlich Getrennten in der Anschauung der Natur bewußt: „Befremdend fern und doch gesellt / Beatmen wir die gleiche Welt." Sein Eingehen in sie bleibt irgendwo stehen, verhält sich, rührt an das Unsagbare, ohne es in eine Weltanschauung im üblen Sinne zu zerren.

„Ich mag nicht die Allegorie, die … das eine für das andere setzt, die da tauscht und rätselt. Vielmehr: die Nähe der Ferne und die Ferne der Nähe sind tägliche Erfahrung; sie haben Macht über den Traum und das Wachen. Wem sie Traum und Wachen erdrücken, wem sie die nüchterne Tätigkeit zermalmen, der hat sie schon mißkannt.“

Und noch einmal Wilhelm Lehmann: "Oskar Loerke bekannte geradezu, er habe den Versuch, die Bezeichnung von ihrem Ding abzulösen, um Wörter zu gewinnen, mit denen sich musizieren läßt, für einen Frevel angesehen. Ein Name, zumal ein Eigenname, Ausdruck aller möglichen Weisen der Reaktion auf das Genannte, ist oft schon Lyrik, aber nur dann, wenn er das durchlebte Wesen in flagranti greift, wenn er Biographie ist."

Loerke verlangt genaues Lesen ab, man sollte also schon einiges an eigener Anschauungserfahrung mitbringen oder wenigstens die Offenheit dafür, und man spürt, daß seine Anschauung zudem eine vielfach reflektierte ist. Diese vorausgesetzte Anstrengungsbereitschaft ist kaum geeignet, jemanden populär werden zu lassen. So ist seine Lyrik aber eine vorzügliche Anschauungs-, Denk- und Sprachschule, um den eigenen Geist aus seiner Erschlaffung zu reißen. Und schließlich spricht er dabei von dem, das auch uns vor Augen liegt – der lebendig wirkenden Natur.

„Denn bei allen Lebendigen ist, was man wünscht: Hoffnung; denn ein lebendiger Hund ist besser denn ein toter Löwe.“
Prediger 9.4

"A Blue Starfish resting on hard Acropora coral. Lighthouse, Ribbon Reefs, 
Great Barrier Reef" - (c) 2004 Richard Ling, hier gefunden

nachgetragen am 25. Januar 2013

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