Montag, 3. Juni 2013

Nicolás Gómez Dávila - Vom Irrgarten der Gegenwart


Vor kurzem versuchte ich zu zeigen, wie Dávila den (heute eher für abgetan und absonderlich erklärten) Begriff der Erbsünde auf eine anthropologische Grundgegebenheit zurückführt. Die Existenz des Menschen ist wesensgegeben absurd, die Substanz seines Lebens ist das Scheitern. Innerhalb ihrer selbst läßt sich nichts auffinden, das ausreichend wäre, den notwendigen Grund zu geben. Das liegt eben daran, daß der Mensch größer ist als das, worin er sich vorfindet. Will er also sein Wesen finden, muß er über sich hinausgehen. Wird er sich in sich festklammern, wird er sich verfehlen. So weit so schön und so schön abstrakt.

Das Angenehme an Dávila, sein Denken hat etwas Aufklärendes, gerade, wenn es praktisch wird. Er spielte (vermutlich) mit der Selbstbezeichnung des „Reaktionärs“ (zumindest schuf dies hinreichend Distanz). Wir werden gleich sehen, wie hilfreich sich dies bei einem ersten naheliegenden Problem erweist - der Demokratie (üblicherweise wäre jetzt eine Exkulpationsformel zu erwarten, aber dafür bin ich zu alt und ambitionsfrei).

Nachdem er den Punkt gefunden hat, an dem sich sein Ariadne-Faden sicher anknüpfen ließ, können wir also in das Labyrinth der Neuzeit vordringen (und hoffentlich später wieder herausfinden). Beginnen wir mit einem Groß-Zitat:

„Die Demokratie ist eine anthropotheistische Religion. Ihr Prinzip ist eine Option religiösen Charakters, ein Akt, in dem der Mensch den Menschen als Gott annimmt. Ihre Doktrin ist eine Theologie des göttlichen Menschen, deren Ausübung die Verwirklichung dieses Prinzips im Verhalten, in den Institutionen und in den Werken.
Die Göttlichkeit, die die Demokratie dem Menschen zuschreibt, ist keine rhetorische Figur, kein poetisches Bild, keine unschuldige Hyperbel, sondern strikte theologische Definition.“

„Für den Anthropotheismus ist das Universum Hindernis oder Werkzeug für den menschlichen Gott.“ 
(aus Textos I, Karolinger – Verlag, 2003)

„Damit der Mensch Gott sei, muß ihm der Wille als Essenz zugeordnet und im Willen das Prinzip und der eigentliche Stoff seines Wesens erkannt werden.“ Jeder Mensch ist sein freier, souveräner und gleicher Wille. Wäre seine Essenz etwas darüber hinaus, so wäre er an einen fremden Willen gebunden. Darum hat der demokratische Mensch „keine Natur, sondern Geschichte: unverletzlichen Willen, den sein irdisches Abenteuer verkleidet, aber nicht verändert". Der demokratische Mensch ist totale Freiheit, „und was seine Freiheit mindert, zersetzt ihn“, wo er sich unterwirft, gibt er sich auf.


Dávila hat in der Tat mehr als nur den Ausgangs-Punkt für den Faden der Ariadne aufgespürt, er hat den archimedischen Punkt für seine Gedankenkette gefunden, aus der sich alles folgende wie von selbst ergibt. Da, wo Dávila von „Demokratie“ spricht, gebrauche ich gewöhnlicherweise das Wort „Moderne“, aber es geht um ihn, und er liefert uns auch sogleich eine Begründung für die latente Religionsfeindlichkeit der Moderne:

„Die erste und selbstverständlichste der demokratischen Ideologien ist ihr pathetischer Atheismus.“
„Der transzendente Gott hebt unsere unnütze Rebellion auf. Der demokratische Atheismus ist die Theologie eines immanenten Gottes.“

Ich höre den Widerspruch von verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit. Nun ja. Schaut man auf die Fakten, partizipiert man (jedenfalls in Europa) an Religion eher als kultureller Konvention, oft nur geduldet, vor allem widerwillig geduldet, wenn überhaupt. Ich erinnere an die Verweigerung des Wiederaufbaus der Leipziger Universitätskirche, weil man kirchliche Dominanz meinte abwehren zu müssen etc. etc. Religion wird also allenfalls leidlich geduldet, nachdem sie sich sozusagen aufgegeben hat, warum? Die Demokratie muß atheistisch sein, denn wenn Gott existierte, hätte der Mensch als seine Kreatur eine Instanz über sie hinaus.

Das nächste zwangsläufige Stichwort (unsere nächste Stufe) – der Fortschritt. Der Mensch müßte über seiner Beschränktheit verzweifeln, so er nicht seine Göttlichkeit als Verheißung der Zukunft versprochen sähe, denn in der Gegenwart wird er sie, innerlich abgetrennt vom Göttlichen, wohl nur unter erheblichen Verrenkungen finden.

„Die Idee des Fortschritts ist die Theodizee des futuristischen Anthropotheismus... Der Fortschritt ist die Begründung der jetzigen Verfassung des Menschen und seiner späteren Theophanien." 

Die Demokratie muß an den Fortschritt glauben, um dem Menschen zu versichern, daß sie das Universum verändern kann und es schaffen wird, es nach Maßgabe ihrer Vorstellungen zu gestalten.

Wie wir bereits hörten, habe der demokratische Mensch keine Natur, sondern nur bloße Geschichte.
Nun ist letztere der sprichwörtliche Sand, auf den man besser kein Haus baut. Die demokratische Ideologie sieht die Aporie und befreit sich aus ihr gewissermaßen in einem intellektuellen Salto mortale:

„Nach demokratischer Lehre ist der Wert ein subjektiver Zustand, der die Übereinstimmung zwischen einem Willen und einem Faktum bestätigt. Die Objektivität des Wertes ist eine Funktion seiner empirischen Allgemeingültigkeit und sein normativer Charakter leitet sich von seinem vitalen Bezug ab. Wert ist, was der Wille als ihm eigen anerkennt.“ Oder (von mir) kürzer und schlichter - Gut ist, was der Mehrheit gefällt. Und so wird die Wahrheit zu einem Mittel, „das die Vereinnahmung der Welt erleichtert“.


Nach Voluntarismus, Atheismus, Fortschritt und ethischem Relativismus fehlt uns noch die nächste Stufe – der Determinismus:

„Das letzte Wort der demokratischen Apologetik ist der allgemeine Determinismus. Um ihre Prophezeiungen verankern zu können benötigt die Doktrin ein starres Universum.“

„Wenn weder Welt noch Gesellschaft noch Individuum auf schlichte kausale Konstanten reduzierbar sind, wird auch der hartnäckigste, intelligenteste und methodischste Eifer scheitern angesichts der unerforschlichen Natur der Dinge, der unsicheren Geschichte der Gesellschaften, der unvorhersehbaren Entscheidungen des menschlichen Gewissens. Die totale Freiheit verlangt nach einem versklavten Universum. Der souveräne menschliche Wille kann nur über die Leichen der Dinge herrschen.“

Er ist dem Fortschrittsglauben verwandt. Während der eine aber die Hoffnung in die Zukunft einkapseln muß wie die sprichwörtliche Mohrrübe vor der Schnauze des Esels, damit er den Karren weiter ziehe, muß dieser die strukturelle Vernünftigkeit, ja Unausweichlichkeit der Sache verbürgen. Zugleich jedoch beraubt er damit die Wirklichkeit ihrer Widerspenstigkeit, Komplexität, Unabgeschlossenheit, Offenheit, Vielfalt.

Nun, ja vor allem beraubt er die Köpfe seiner Anhänger dieser Dinge. Wo aber ist die größte Gefahr für diese Wirklichkeits-Reduktion zu finden - in der Geschichte und den Institutionen:

„Die individualistische Demokratie löscht jede Institution aus die unwiderrufliche Verpflichtung und Kontinuität bedeutet, die dem flüchtigen Netz der Tage nicht gehorchen will. Der Demokrat lehnt das Gewicht der Vergangenheit ab und nimmt das Risiko der Zukunft nicht auf sich. Sein Wille versucht, die vergangene Geschichte auszulöschen und die künftige Geschichte ohne Hemmnis zu gestalten. Unfähig zur Treue gegenüber einer von den Jahren übermittelten Unternehmung, stützt sich ihre Gegenwart nicht auf die Dichte der Zeit; ihre Tage erhoffen die Diskontinuität einer unheilvollen Uhr.“

Das Scheitern und die Erinnerung daran ereignen sich in der Geschichte. Daher wird jedes euphorisierte Fehl-Bewußtsein die Geschichte „notwendigerweise zurechtstutzen und verletzen“. Es bleibt dabei aber nicht stehen. Das falsche Bewußtsein führt zu irrigen Tat:

„Der Boden, auf den sie sich stützen, scheint ihnen das widernatürliche Hindernis für ihre Träume zu sein. Das Delirium einer absoluten und irdischen Vollkommenheit treibt sie zu jähzornigen Rebellionen. Die unehrerbietige Zweideutigkeit des Lebens entzündet die Wut ihrer kindischen und mitleidigen Herzen.“ 

Sie betrachten „die Verderbtheit der Welt als unerträglich und zufällig“. „Im Bestreben also, sie zu verwandeln, um ihr den hypothetischen ursprünglichen Glanz wiederzugeben, vermögen sie doch nur, das zerbrechliche Gebäude zu zertrümmern, das einst die demütige Geduld anderer Menschen auf der fruchtlosen Substanz der menschlichen Natur errichtete.“



Wir sind am Ende irgendwie; nein, denn es fehlt doch noch das weite Feld des Positiven (und dies ist keine versprochene Mohrrübe). Es gäbe auch ein paar Einwände, seitens des Liberalismus etwa die metaphysisch schwach begründete (sagt Dávila) Idee von den Menschenrechten und vom Konstitutionalismus, denen man nachgehen könnte.

Aber er war bisher schon sehr hilfreich, warum der Begriff der „Volkssouveränität“ sich als gedanklicher Taschenspielertrick entpuppt etwa, als Illusion von der Menschenmachbarkeit der Welt. Und auf der Ebene des Alltags wird einem auf einmal klar, warum Demokratie als anstrengungsloses Rechthaben oft dieses retardierend Regressive, ja Infantile an sich hat. Aber das sind Nebensächlichkeiten.

So stehen wir also auf dem erhöhten Standort, zu dem uns Dávila geführt hat, haben die Religion der Furcht hinter uns gelassen, und jetzt?

Deuten wir an, in welche Richtung ein weiterer Gedankengang weiterschreiten müßte, nachdem wir die Gegenwart gewissermaßen hinter uns gelassen haben. Es geht ums Verstehen zunächst. Verstehen heißt nicht Sammeln und Einordnen, sondern das Wiedererkennen eines Zustandes, in dem Wert und Sein verschmolzen sind. Freiheit ist das Verhalten einem Wert gegenüber. „Freiheit, die sich selbst bestimmt, bestimmt sich zu nichts.“

Es geht um Erinnerung, die Erinnerung an die aufgespeicherte Substanz, die menschliches Ringen der Absurdität des Daseins in Jahrtausenden abgerungen hat:
„Die Tradition als Summe historischer Situationen ist Leben, das das Individuum in seiner konkreten Situation übernimmt, um sich in eine allgemeine konkrete Situation zu setzen, in der es mit der Legitimität des Erbes die Authentizität der Geschichte findet.“
„Wir sind alle Substanz der Jahrhunderte in der Gestalt von Augenblicken.“

Und es geht um eine Einladung ins Offene, des Denkens, der Existenz, eine Wendung ins Unbekannte, dem man ohne Furcht entgegentreten kann, denn:
„Der Mensch ist das zwischen Präsenzen und Schatten hausende Tier. Der Mensch ist die  Existenz, die die Grenzen ihres ursprünglichen Raumes überwindet. Der Mensch ist das Bewußtsein von viel mehr als seinem Leben.“



beendet am 7. Juni

3 Kommentare:

Walter A. Aue hat gesagt…

Most interesting! And what a labor of love to work through the (theo)logics of a work like this.

I had a number of comments, but they are all on the margins and I am nowhere near competent to comment. So I mention just one thing, but that has been said much better a long time ago, see Luke 17:20-21.

Thanks for an inspiring and challenging read!

Mr. Urs hat gesagt…

Das wischt die eigene Eitelkeit wieder einmal weg.

MartininBroda hat gesagt…

@Urs Ich bin natürlich immer froh, wenn ich bei der moralischen Ertüchtigung helfen konnte, aber trotzdem bin ich neugierig, was genau nahm die Eitelkeit hinweg? :)