Dienstag, 24. September 2013

1914 - Über Geschichtspolitik & seriöse Wissenschaft

Ankunft des Reichspräsidenten Hindenburg und des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun zur Feier anlässlich des Endes der alliierten Besatzung des Rheinlands in Koblenz am 22. Juli 1930

Mitunter kommt einem dann doch noch die pure Galle hoch. Eben stolpere ich per Zufall über eine „Dokumentation“ im Hessischen Rundfunk, genauer gesagt, stand ich in der Küche, hörte aus der Ferne unfreiwillig irgendwelches Fernsehprogramm und dann fiel mir bei einer ziemlich dreisten Lüge quasi der Unterkiefer herunter.

Bekanntlich war eine der Folgen des schamlosen „Friedensvertrages“ von Versailles u.a. die Besetzung des linken Rheinlands (dessen Einverleibung übrigens ein alter französischer Traum, den nicht erst Napoleon geträumt hatte). Der Autor des bewußten Beitrages („So war das alte Hessen – Rheingau“ - Ein Film von Jörg-Adrian Huber) mokierte sich nun über die „Befreiungsfeiern“ von 1930: Da sei nichts befreit worden, das Deutsche Reich habe einfach nur seine Reparationen erfüllt. Richtig ist, das Deutsche Reich hatte in den sogenannten „Young-Plan“ eingewilligt, der deutsche Reparationszahlungen bis 1988 (!) vorsah; bekanntlich lief die Geschichte dann etwas komplizierter ab.

Und auch noch eine andere Bemerkung soll nicht vorenthalten werden: Die Region habe sich trotz vieler Rudimente aus der Vorkriegszeit stark verändert, der alte Rheingau existiere nur noch in den Köpfen der Älteren und werde mit ihnen untergehen. In Gesprächen mit Rheingauer Bürgern würde deutlich, daß vor allem die 1943 bis 1945 geschlagenen Wunden - der vom Naziregime selbst herbeigeführte Untergang deutscher Städte und Dörfer im alliierten Bombenhagel - nie verheilt seien. Das lassen wir für sich so stehen.

Ach übrigens begründete Ministerpräsident Clemenceau bei den Versailler „Friedensverhandlungen“ 1919 den französischen Anspruch auf die Rheingrenze wie folgt, Frankreich benötige Sicherheit vor Deutschland, schließlich habe dieses in nur 100 Jahren Frankreich viermal überfallen - 1814, 1815, 1870 und 1914 (sic!).

Denkmal für die belgische Besatzung am Niederrhein,
Kleve-Schmithausen

Es gibt eine Grunderzählung des gegenwärtig herrschenden Milieus, die geht etwa so: Die Deutschen, spätestens seit Luther mit einem heftigen überwiegenden Hang zum Bösen affiziert (nicht, daß diese Mileuanhänger alle Kryptokatholiken wären, aber den Namen „Luther“ hatten sie womöglich irgendwo mal gehört), haben auch den 1. Weltkrieg ausgelöst und damit verschuldet, in Gestalt des eitlen, großsprecherischen, wahngesteuerten und überhaupt völlig überforderten Wilhelm II. nämlich, weshalb die etwas harsche Behandlung durch die Sieger mit Versailles vollauf berechtigt gewesen wäre (eine Untergruppe - in diesem Milieu liebt man Aufsplitterungen - bestreit, daß Versailles letztlich so grundschlecht gewesen wäre, nein, das sei ein völlig angemessener Friedensvertrag gewesen).

Es läßt sich relativ leicht ein Psychogramm der oben erwähnten Personengruppe zeichnen. Dazu gehört, daß man etwas, genauer, einen bestimmten geographischen Raum und seine Geschichte, besetzen, aber ihm nicht wirklich angehören will. Man sollte dem einfach gar nicht mehr widersprechen. Sie wollen nicht dazugehören. Sei es so.

Und dann hört man auf einmal die Stimme der Vernunft aus unerwarteter Richtung, aus Australien gewissermaßen. Zunächst über das völlig Unangemessene inzwischen gewohnter  Zuschreibungen:

„Was mich überrascht hat, ist, dass der Unterschied zwischen demokratischen und autokratischen Regierungen in sich zusammenfällt, wenn man sich ansieht, wie Außenpolitik und Rüstung organisiert sind.“

Es geht, wie man denken kann, um den Ausbruch des 1. Weltkrieges, dessen Ursachen sich etwas komplexer darstellen, als daß es in ein gängiges Meinungsformat passen könnte:

„England hat in Österreich immer einen Faktor der Stabilität in Europa gesehen. Um 1900 ist es auf einmal bereit, die Habsburger auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Die Russen und ihr Klient Serbien denken genauso. Die grundsätzliche Solidarität zwischen den Monarchien erlischt. Eine Nation spricht der anderen die Existenzberechtigung ab.“

„[Die Briten] ... überlassen den Balkan den Russen. Sie lassen zu, dass an dieser geopolitischen Grenze eine Zündladung installiert wird. Damit schaffen sie die Verzahnung, die zum Weltkrieg führt.“

Die Zitate stammen aus einem Interview mit Christopher Clark, das heute endlich in der FAZ erschien, anläßlich seines neuesten Buches „Die Schlafwandler“. Ich quäle mich seit einiger Zeit damit, es ist wie eine Geschichte, wo man ständig hofft, sie könne noch irgendwie gut ausgehen, obwohl man das Ende längst kennt, der Unterschied: Er erzählt diese Geschichte wahr (soweit wir Menschen das nach unserem aufrichtigen Bemühen überhaupt können), ernsthaft und angemessen.

„Wir müssen weg vom James-Bond-Muster, in dem es einen Guten und einen Bösewicht gibt. Sie können alle diese Staaten als Bösewichte sehen. Sie sind allesamt aggressiv, beutegierig, kolonialistisch, paranoid, sie zeigen Stärke, weil sie sich schwach und angreifbar fühlen.“

Die Geschichte geht bekanntlich etwas verwickelter weiter, die moralsicheren Anmaßungen der Siegermächte, der Versuch, ein kollektives moralisches Versagen in einen Akt zu exekutierender Gerechtigkeit umzudeuten und diesen dem Unterlegenen zuzuschieben, damit das Heranzüchten eines Monsters etc. etc., es wird neue Variationen davon geben, aber das ist ein zu weites Feld.

Was Clark hoch anzurechnen ist, daß er aufzeigt, von welcher Zivilisationshöhe all diese infantilen, deplazierten Psychotiker einen Kontinent herabgestürzt haben (und der Fall ist nach meinem Eindruck noch nicht beendet).

„Der Erste Weltkrieg ist das worst-case scenario des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Welt von 1913 mit ihrem globalen Handel, ihrem kulturellen Austausch, ihren friedlichen Veränderungen wird in einer Folge von Desastern zertrümmert, vergeudet. Man kann sich keinen schlechteren Start für das Jahrhundert vorstellen. Der Stalinismus mit all seinen Opfern, Hitler, der Holocaust, die Zerstörung der deutschen Städte im Luftkrieg: Das meiste davon kann auf die Giftdosis zurückgeführt werden, die dieser Krieg Europa injiziert hat.“

Wenn man all die zum Habitus gewordenen Lügen abwerfen kann und dann auf einmal ein Gefühl für die erlittenen Verluste gewinnt, in einem solchen Augenblick mag Europa neu zu atmen beginnen, heute können wir das nur erhoffen. Danke, Mr Clark!

Albrecht Dürer, "Melancholia"

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ja, ein wirklich sehr lesenswertes Buch. Fast 100 Jahre nach Ausbruch des Weltkrieges ist es an der Zeit, zur Wahrheit zurückzukehren, und die Wahrheit liegt eben nicht im Artikel 231 von Versailles.

MartininBroda hat gesagt…

Artikel 231: „ Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“
Deutschland hat also mit seinen Verbündeten allein den anderen diesen Krieg „aufgezwungen“ und ist daher schuldig. Was damals, die Linke eingeschlossen, in Deutschland helle Empörung hervorrief, dürfte heute etwa von Herrn Winkler eher wohlwollend aufgefaßt werden.
So tief sind wir also heruntergekommen.