Montag, 24. Mai 2010

Pfingstmontag



"Der größte Irrtum von der Renaissance bis auf unsere Tage war, daß man mit Descartes glaubte, wir lebten von unserem Bewußtsein, von jenem kleinen Teil unseres Wesens, den wir deutlich sehen und in dem unser Wille wirkt. Die Behauptung, daß der Mensch vernünftig und frei sei, scheint mir, so ausgesprochen, einem Irrtum recht nahe zu kommen. Denn wir besitzen wohl Vernunft und Freiheit; aber beide Vermögen bilden nur eine dünne Haut über dem Volum unseres Wesens, dessen Inneres weder vernünftig noch frei ist. Die Ideen sogar, aus denen unsere Vernunft sich aufbaut, kommen uns fertig und bereit aus einem ungeheuren dunklen Grund, der unter unserem Bewußtsein liegt. Ebenso erscheinen die Wünsche auf der Bühne unseres klaren Geistes wie Schauspieler, die schon kostümiert und ihre Rolle hersagend aus der geheimnisvollen Dämmerung der Kulissen treten… In Wahrheit bewegt uns, abgesehen von jenem oberflächlichen Eingreifen unseres Willens, ein irrationales Leben, das in unser Bewußtsein mündet und der verborgenen Höhle, dem unsichtbaren Grunde entstammt, der wir eigentlich sind.“
José Ortega y Gasset, „Betrachtungen über die Liebe“



1 Kommentar:

Walter A. Aue hat gesagt…

I like Ortega y Gasset and not only for his clarity. So: thanks for citing him!

He is perfectly correct in pointing out that the human has only a very thin veneer of logic which covers his vast, subcutaneous, unexplored inner landscape - Plato's cavern? - where decisions are made and sent up to the light, for logic there to rationalize.

But I was surprised that Ortega seemed to imply that, therefore, the Enlightenment was ill-founded in its reliance on logic.

Yes, the human does not act "logical", much less "enlightened". But if one therefore discredits the frontal lobe, our systems of jurisprudence, pedagogy, religions, etc. will hit a snag: They maintain, do they not, that man is capable of following logic, that he is not forced by his nature to transgress against the law, to behave badly in school, to commit sins, etc.

Morgenstern's "Nicht sein kann, was nicht sein darf" may read in its positive form, "What should exist, must exist", i.e. a form of wishful thinking.

How could we otherwise punish humans for being, well, human? But, perhaps, by maintaining that there exists what does not, we shall miraculously change ourselves into that hallowed must-be state?