Mittwoch, 31. August 2011

Erinnert

Deutsches Eck, zwischen 1890 und 1905

Wir leben in dieser Übergangszeit der Erinnerungslosigkeit. Nun, es gibt natürlich etwas, daß sich als eine Art Geschichtsbewußtsein geriert, aber das ist doch zu gezielt ausgesucht und von einem merkwürdigen Motivkomplex geformt. Aber unerfreulicherweise ist das auch ein Erbe des vergangenen Jahrhunderts, in dem man von einer ideologisch gestimmten Bewußtseinslage zur nächsten fiel. Das Bild dort oben, ich gebe zu, es hat etwas leicht gewaltsam Barbarisches, aber dann geriet es in den Strom der Geschichte…

Achtelfinale Deutschland gegen Schweden, Public Viewing am Deutschen Eck, Fussball WM 2006 hier gefunden

... und gewann sympathische Züge. Genau an diesem Tag im Jahr 1897 wurde hier an der Mündung der Mosel in den Rhein ein Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. zum Gedenken an die Reichsgründung 1871 eingeweiht. 1929 war es Zeuge einer spontanen Freudenkundgebung der örtlichen Bevölkerung, als die letzten französischen Besatzungs-Soldaten die Stadt verließen (ja, das hat es in den letzten 200 Jahren mehrfach gegeben), 1945 wurde es von den Alliierten zufällig zerstört, und dem Koblenzer Verlegerehepaar Theisen ist es zu danken, daß es gegen den Widerstand der üblichen Verdächtigen dort wieder steht, und sei es auch nur noch als pittoreske Kulisse.

Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck in Koblenz
(c) Brego, hier gefunden


Man mag leicht dem Irrtum erliegen, hier würde ein fanatischer Anhänger des 19. Jahrhunderts schreiben. Dem aber ist gar nicht so, eher geht es darum, den Fanatikern und klandestinen Neu-Ideologen etwas streitig zu machen und etwas wie Normalität abzutrotzen. Ein scheinbarer Sprung: Ich tat mir heute ein wenig Fernsehen an und sah „Die Reise“ von Markus Imhoof (es geht um einen Herrn Vesper, der zeitweise Spielkamerad für eine Frau Ensslin war). Schnell angewidert hielt ich aber aus, weil mich immer noch die Frage umtreibt, was konstituiert die psychische Verfaßtheit exakt wiedererkennbarer Muster, und ich wurde fündig. Und dann ging mir auf, aus all diesen wären spielend leicht Pol Pots, Maos oder Stalins geworden, wir haben einfach Glück gehabt, es war die falsche Zeit für sie. Sie waren gar nicht abgestoßen von der kurz zuvor zutage getretenen Inhumanität, sondern lediglich neidisch.

Und wo wir bei den besagten Unerfreulichkeiten des vergangenen Jahrhunderts sind, am 31. August 1941 tötete sich die enge Freundin Rilkes Marina Zwetajewa, ich habe sie bereits einmal erwähnt und breche besser ab, mein Kopf bringt mich gerade um. Und wenn ich es recht betrachte, und da auch Frau Wesendonck heute starb, enden wir besser mit ihr und nicht mit dem Radetzkymarsch, der heute uraufgeführt wurde.


Wesendonck-Lieder, Richard Wagner: Träume
hier gefunden

2 Kommentare:

Morgenländer hat gesagt…

"Wir leben in dieser Übergangszeit der Erinnerungslosigkeit. Nun, es gibt natürlich etwas, daß sich als eine Art Geschichtsbewußtsein geriert, aber das ist doch zu gezielt ausgesucht und von einem merkwürdigen Motivkomplex geformt."

Ja, das Schwinden der Geschichte ist ein bemerkenswertes und trauriges Phänomen.

An die Stelle geschichtlichen Eingedenkens ist hierzulande ein truber Moralismus getreten, der die heute Lebenden zum Maß aller Dinge macht und sie zugleich der Möglichkeit beraubt, sich zur Welt überhaupt noch in Beziehung zu setzen, denn wer sich auf etwas anderes beziehen möchte, muss allererst anerkennen, dass er eben nicht das Maß aller Dinge und die Quelle aller Werte ist.

Ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, ein Blogspiel unter dem von Rilke geborgten Titel "Rühmen. das ist's" ins Leben zu rufen, in dem jeder beteiligte Blogger etwas Vergangenes, das ihm besonders am Herzen liegt, benennen soll.

Mein Beitrag würde wahrscheinlich "Lob des 19. Jahrhunderts" heißen.

Viele Grüße
Morgenländer

MartininBroda hat gesagt…

Danke für den Kommentar. Oh, ich mag das 20. Jahrhundert schon, sogar ganz besonders, zumal es einen Zivilisationshöhepunkt darstellt, nach dem in vielem nur noch der Absturz kam, ich wollte nur den Eindruck des verbissenen Liebhabers abwehren.
Das Phänomen, das sie beschreiben, diese Distanzlosigkeit, das fällt mir gerade auf, ist ja auch bezeichnend für eine bestimmte psychische Fehlbildung, vielleicht sind wir einfach nur einer Art Kollektiv-Psychose ausgesetzt.
Herzliche Grüße zurück!