Nicolás Gómez Dávila, 1930
Sobald Menschen auch nur an Religion denken, werden sie dümmer, wollten kürzlich einige Kanadier glauben machen. Ich will mich zu dieser „Studie“ nicht weiter auslassen, über methodisch Fragwürdiges oder Ähnliches etwa (ich hatte es
hier versucht), aber sie paßt so perfekt in das gegenwärtige Dahinplätschern des Zeitgeistes.
Nicolás Gómez Dávila, geboren vor genau 100 Jahren in Bogotá, meinte, das exakte Gegenteil stünde der Wahrheit zur Seite. Der vergessende Mensch der Moderne (und was er vergißt, ist vor allem alles, was religiöse Suche über die Natur des Menschen in Jahrtausenden herausgefunden hat) sinke ab in einen Morast aus Leere, Triebabfuhr und gefesseltem Denken (vulgo Ideologien). Die Moderne verfehle die Natur des Menschen.
Es ein wenig so, wie wenn man als völlig indoktriniertes Kind (die Inhalte sind austauschbar, wie wir sehen werden) glaubhaft und befreiend aufgezeigt bekäme, es ist fast alles ganz anders, in Wirklichkeit. Zum Glück sind wir dieses Kind nicht. Aber wir leben in dieser konkreten Zeit und müssen ihre Begleitgeräusche jeden Tag zu ertragen üben, und dagegen ist „volkstümliche Volksmusik“ sozusagen noch Musik.
Da hilft dann ein Mozart oder eben ein Dávila. Ihn zu lesen ist ein großes Vergnügen. Dávilas geschliffene Aphorismen durchschneiden wie ein Dolch beiläufig das Gewebe der Phrasen und zweifelhaften Sicherheiten, die uns derzeit das Wesen der Dinge zu verhüllen suchen. Aber über ihn zu schreiben zu versuchen, das schüchtert ein.
Daß er sich vor allem aphoristisch mitteilte, gehört seinem Denken wesensmäßig an (was es nicht einfacher macht, wie mir
vor 2 Jahren bereits auffiel). Es ist erstaunlich, Plato schrieb Dialoge, der Aristokrat Heraklit hat vielleicht Aphorismus und Paradoxie nicht erfunden, aber wohl als erster in unserem Abendland zum Leuchten gebracht. Es ist eine andere Art des Denkens, die das abgeschlossene System nicht braucht, weil sich ein solches doch gerade gegen das abschließen muß, was es zu erforschen vorgibt.
„Das Universum ist nicht System, das heißt: logischer Zusammenhang. Sondern hierarchische Struktur von Paradoxen.“
„Der Mensch kann sich gegen die Inkohärenz des Universums nur mittels einer analogen Inkohärenz schützen.“
Dávila weiß um die Fragwürdigkeit eines jeden Denkens, das die Wirklichkeit voreilig in dem Korsett eigener Vorstellungen unterbringen will. Das gelingt nur mit einem Selbstbewußtsein, das nicht dominiert wird von Weltbewußtsein, Selbstsuggestion und radikaler Weltvereinfachung (womit z.B. Puritaner, Calvinisten, kirchliche und andere Ikonoklasten nicht nur die Kirchen entleeren konnten). Zu diesem Selbstbewußtsein zählt auch ein äußerst beschränkter Mitteilungsdrang.
Er wurde fast zufällig „bekannt“. Um ein sprachlich leicht geschmacksunsicheres Bild zu gebrauchen: Dávila ist wie ein Hochgebirge über einer versumpften Ebene. Also nichts, das meint, etwas beweisen zu müssen. Er ist einfach anwesend. Und das genügt.
Der Mensch
Offen gestanden, kann ich es nicht leiden, wenn mir jemand erklärt, dieser oder jener sei höchst bedeutsam, ohne zumindest zu versuchen, mir die Gründe dafür auszubreiten. An diesem Punkt sind wir gerade, also, nun gut. Versuchen wir, die Spur seines Denkens aufzunehmen.
Der Mensch: Dávila setzt ein, mit einem sehr wachen, inzwischen ungewohnten Blick auf dessen wirkliche Existenz: „Dem Sein wohnt keine Grenze inne, kein Verlangen erklärt sich selbst für befangen.“ Doch dieses Verlangen stößt auf Ablehnung, Begrenzung. Jedes Subjekt lebt in einem Winkel eindringender Begrenzungen, in der Spannung anstürmender Konflikte.
„Die Gewalt, der grausame Diener der durch die Grenze bestimmten Essenz der Dinge, bestimmt die Normen der aktualisierten Existenz.“ „Alles in der Welt ist Grenze, Zielpunkt, Ende.“
Das gilt für alles Lebendige, was aber die Existenz des Menschen absurd macht, ist, daß er nicht nur ein Bewußtsein dessen hat, sondern eines, das über diese Gegebenheit hinausreicht. Je bewußter er sich seiner wird, je mehr er Mensch wird, um so weniger kann er sich in der Welt erträglich einrichten. Er vermag in Wahrheit nicht, in sich zu ruhen, immer taumelt er an der Grenze seiner selbst.
„Der Mensch ist ein verlorenes Tier, ohne ein verlassenes Tier zu sein. Der Mensch weiß nicht, wohin er gehen soll, gleichwohl hat er die Pflicht, anzukommen.“
Die Absurdität seiner Existenz ist aber keine äußerliche Angelegenheit, nichts, das sich abstreifen ließe, oder innerweltlich erlösen. Die Situation des Menschen ist nichts Äußerliches, Zufälliges, sie ist die Natur des Menschen. Er ist keine reine Essenz, die einer unreinen und fremden Existenz unterworfen wäre.
„Der Mensch ist die Unreinheit seiner menschlichen Natur selbst“, er ist
„seine gebrochene und zerstörte Bedingtheit“. Das Scheitern ist die Substanz seines Lebens.
„Das Bewußtsein ist Strukturierung der Ohnmacht und des Scheiterns.“ Der bewußte Mensch wird sich seiner Bedingtheit bewußt, und seiner Ohnmacht. (Zitate aus Textos I, Karolinger – Verlag, 2003)
Weder Annahme noch Ablehnung dieser Einsicht sind eine Hilfe für den Menschen, Ablehnung würde Suizid bedeuten, Annahme ein
„unmittelbares Vertieren“. Doch gibt es einen Ausweg für das Bewußtsein, das seine Bedingtheit akzeptiert, der Mensch kann
„außerhalb jedes vorstellbaren Umstandes erlöst werden“.
Das ablehnende Bewußtsein aber meint, Essenz und Existenz des Menschen trennen zu können, indem letzteres zur zufälligen Situation erklärt wird, mit deren Veränderung auch die menschliche Natur verwandelbar wird.
„Für das ablehnende Bewußtsein ist das begründende Prinzip reine Immanenz, und der Mensch kann nur im Rahmen seiner eigenen Natur erlöst werden.“ (ebenda)
Die Welt ist das, dem zu widerstehen ist, und im Widerstehen findet der Mensch sich oder ein Surrogat seiner selbst, entscheidend ist die Art des Widerstehens.
Ansichten der Wahrheit
Ein Einschub. Eben erinnere ich mich, wie meine wissenschaftlicher gestimmten Freunde üblicherweise die Brauen hochziehen, wenn sie das Wort „Wahrheit“ im religiösen oder philosophischen Kontext hören. Zu meiner Freude bin ich gerade über zwei Zitate gestolpert, die ich früher schon einmal anbrachte und erneut nicht vorenthalten will, ich denke, sie führen weiter:
„Der Positivismus war weder bloße Philosophie noch reine Methodologie; er war eine jener Schulen des Argwohns, die in der 'modernen' Zeit ihre Blüten getrieben haben. Ist der Mensch denn tatsächlich in der Lage, mehr zu kennen als das, was seine Augen sehen oder seine Ohren hören können? Existiert eine andere Wissenschaft als die rein empirischen Wissens? Sind die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft ausschließlich den Sinnen unterworfen, und werden sie innerlich von den mathematischen Gesetzen bestimmt, die sich als besonders nützlich erwiesen haben, wenn es darum geht, die Phänomene auf rationale Weise zu ordnen oder aber die Prozesse des technischen Fortschritts zu lenken?
Aus positivistischem Blickwinkel machen Begriffe wie zum Beispiel Gott oder Seele selbstverständlich keinerlei Sinn. Im Bereich der sinnlichen Erfahrung haben sie eben keine Entsprechung.“ (Johannes Paul II. „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“)
„Es ist müßig, ständig von dem Gegensatz zwischen Vernunft und Glauben zu reden. Die Vernunft selbst ist eine Sache des Glaubens. Davon auszugehen, daß unsere Gedanken überhaupt in einer Beziehung zur Wirklichkeit stehen, ist ein Glaubensakt.“ (Gilbert Keith Chesterton, „Orthodoxie – Eine Handreichung für die Ungläubigen“)
„Definieren läßt sich der Mensch hingegen als Dogmen verfertigendes Tier. In dem Maß wie er Lehrsatz auf Lehrsatz und Schlußfolgerung auf Schlußfolgerung setzt, um die gewaltige Ordnung einer Philosophie oder Religion zu schaffen, wird er – in dem einzig legitimen Sinn, den das Wort haben kann – immer mehr zum Menschen. Läßt er als ausgefuchster Skeptiker eine Lehre nach der anderen fallen; lehnt er es ab, sich an ein System zu binden... erklärt er, er glaube nicht an Zweckbestimmung; sieht er sich in Gedanken als Gott, der selbst keinerlei Glauben hat, aber auf alle Religionen hinabblickt, - dann sinkt er nach und nach zurück in die Unentschiedenheit der streunenden Tiere und die Bewußtlosigkeit der Gräser. Bäume haben keine Dogmen. Rüben sind extrem weitherzig.“ (Gilbert Keith Chesterton, „Ketzer – Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter“)
Bevor wir uns aber den Wegen des rebellierenden Bewußtseins nähern, wäre doch endlich die Frage zu stellen (sie ist natürlich schon halb beantwortet), was denn den Menschen, dessen Existenz naturgemäß absurd ist, in diese Bredouille gebracht hat. Es war natürlich Gott.
Gott
Von Augustinus gibt es das schöne Wort „homo desiderium dei.“ – „Der Mensch ist die Sehnsucht nach Gott" oder „Der Mensch ist die Sehnsucht Gottes", es läßt sich in beide Richtungen übersetzen und beides ist wahr. Hinzu paßt ein anderes: „Kehre zu dir selbst zurück; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit; und wenn du entdeckst, daß deine Natur wandelbar ist, gehe über dich selbst hinaus.“
Dávila sagt es leicht abgewandelt. Nach ihm ist Gott die Essenz der Mensch-Werdung, ein Vorgang, der aus biologischer Determiniertheit heraus nicht erklärt werden kann; im Gegenteil, ein Bruch, eine Spannung entsteht: Ein Organismus verweigert sich der Logik seiner tierhaften Existenz, er bricht die biologische Kontinuität. Mit dem Aufstieg aus der „dichten Tierhaftigkeit“ kommt es zur Geburt Gottes, sein Wesen ist in diesem Aufstieg des Menschen. Gott bedarf des Menschen zu seiner Existenz, aber er geht nicht aus ihm hervor, ja er mutet ihm die Freiheit zu, das rein Biologische zu übersteigen.
Wem hier etwas schwindlig wird, dem sei versichert, er steht nicht allein. Allein schon hier wird deutlich, daß ein Etikett wie „katholischer Denker“ ein wenig zu klein für Dávila ist. Allerdings ist es ist auch eine Herausforderung, die Gedanken Dávilas so nachzuzeichnen, daß man sie selbst versteht. Ich bezweifle, daß mir dies bisher hinreichend gelungen ist, oder in seinen Worten:
„Meine einzige Angst ist die, daß meine Mittelmäßigkeit entwürdigen könnte, was ich bewundere.“
1. Teil, beendet am 23. Mai, wird fortgesetzt
2. Teil, beendet am 7. Juni, hier