Montag, 1. Februar 2016

Sloterdijk - Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung

Peter Sloterdijk, hier gefunden

Kriegsflüchtlinge müßten laut Grundgesetz und Genfer Konvention aufgenommen werden. So beginnt das Lügen inzwischen typischerweise. Nein, man darf, aber man muß nicht, das nur nebenbei. Doch, um das noch hinzuzufügen: Wer vom guten Gewissen, vulgo selbstgefälligen Gerechtigkeits-Simulationen lebt, braucht darauf nicht zu achten. Tatsachen stören regelmäßig bei der Wahrheitsauffindung. Oder um jemanden aus einem Lebensabschnitt zu zitieren, dem seine damalige Familie einen Mitschnitt seiner letzten nächtlichen Äußerungen hinhielt: „Ich werde mir das nicht anhören, ich weiß, daß ich das nicht gesagt habe“.

Herr Sloterdijk, der gerade die ziemlich vakante Stellung eines Philosophen in diesem Land einnimmt, hat Menschen erschreckt, Personen, die dachten, er sei doch Fleisch von ihrem Fleisch, aus dem selbigen Stall. Und nun das: „καὶ σὺ τέκνον“ oder „Et tu, Brute?“, wäre wohl angemessen, wenn es der Gegenstand wäre, also eher nicht. Er ist hinübergewandert zur bösen Seite, offensichtlich.

Wie ich darauf komme? An diesem Tag erschrak sich in einer links-bürgerlichen (wir wollen höflich sein) kleinen Berliner Tageszeitung jemand unter der Schlagzeile „Deutsche Denker gegen Angela Merkel“. Inzwischen hat ein Verderber einer noch auflagenstärkeren Tageszeitung nachgelegt, ebenso erschrocken und vor sich hin fabulierend von der „bitteren Wahrheit über den neuen deutschen Hass“.

Mit anderen Worten, die deutsche Mitte drehe gerade durch, aber, das seien immer noch vereinzelte, verbale Entgleisungen, auch Entgrenzungen, die man vor allem vielen derer, die sich jetzt damit hervortun, nicht zugetraut hätte. Die Erklärung:

Die Flüchtlinge hätten es an den Tag gebracht: In dem Volk, das vor etwas mehr als 70 Jahren in zerstörerischer und vernichtender Absicht West- und Osteuropa sowie Russland überfallen habe, sei trotz aller Abwendung vom kriegerischen Geist zumindest ein Rest archaischen, völkischen und selbstmitleidigen Denkens erhalten geblieben.

Jemand fragte zurecht nach dem Erklärungsmuster für die anderen Europäer, die das „deutsche“ Verhalten weit mehrheitlich inzwischen für ziemlich Gaga hielten, aber... (siehe oben).

Ich habe mir inzwischen das Original, sprich den entsprechenden „Cicero“ widerwillig zugelegt (das Netz hilft da nicht viel, die schreiben sowieso nur noch bis in die Wortfolge voneinander ab), hm.

Herr Sloterdijk erzählt einiges, über den Euro, oder den Islam: Der sei geradezu eine Religion des Feldlagers, die permanente Bewegung sei inhärent, und jeder Stillstand müsse als Beginn des Glaubensverfalls beargwöhnt werden. Zudem sei der Islam ein juristisches Konstrukt, das fast ohne Theologie auskomme.

Da fällt mir noch ein anderes Zitat wieder ein, nachdem man einen Anfang in der Hand hatte, der einem das Zurückweichen erklärte, das Unbehagen. Aber darüber werde ich in solchen Zeiten sicher nicht mehr gründlicher nachdenken wollen:

Frage: „Sie schreiben, dass das Ornament in der islamischen Kunst durch seine fortlaufende, gleichmäßige, endlos anmutende Struktur Gottes Unendlichkeit versinnbildliche.“

Kermani antwortet: „Ja, das Ornament füllt nicht die Leere, sondern bringt sie zum Ausdruck und damit die Gestaltlosigkeit Gottes.“ Die Monotonie der Leere also ist das Wesen der islamischen Kunst? Das fügt sich zur Abwesenheit der Theologie, die oben erwähnt wurde, eine Religion des Abwesenheit. Nun, wir wollen all das hinter uns lassen.

Zurück zum Ausgangspunkt unseres kleinen Exkurses: Die Diskussion um die Flüchtlingspolitik werde militanter. Einige von denen, die sich jetzt zu Wort meldeten, hätten schon den Stahlhelm aufgesetzt. Stacheldraht ersetze die Argumentation. Metaphern würden entsichert. Mein Jott.

Die postmodernisierte Gesellschaft, so Sloterdijk dem „Cicero“ u.a., existiere in einem „surrealen Modus von Grenzenvergessenheit“. Sie genieße ihr Dasein in einer Kultur der dünnwandigen Container. An die Stelle starkwandiger Grenzen seien schmale Membranen getreten, die jetzt überlaufen würden. Die deutsche Regierung habe sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.

Ach, jetzt müssen wir doch einmal aus einem der beiden Schlicht-Artikel zitieren: Eine starkwandige Grenze, könne man ergänzen, habe beispielsweise die DDR besessen. Der Denker wundere sich über die Naivität der Deutschen: „Man glaubt hierzulande immer noch, eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten.“ Genau darauf, auf der Überzeugung, daß Grenzen überwunden werden könnten, basiere die EU. Auch die liberale Marktwirtschaft brauche offene Grenzen. Sonst ließe sich kein Auto mehr zusammenbauen.

Herr, wirf Hirn vom Himmel, möchte man ausrufen. Gibt es noch ein Denken außerhalb von 0 und 1? Also geschlossene Grenzen versus offene Grenzen? Vollständig offene Grenzen sind keine mehr, durchlässige, aber beherrschte schon. Eine Zelle ohne intakte Grenzen steht direkt vor dem Zelltod, ist das so schwer zu verstehen? Außerdem galt das Versprechen für die weitgehende Offenhaltung der Grenzen nur für den europäischen Raum (grob gesprochen), was ja auch wunderbar funktioniert hat.

Wären wir auch in der Stimmung, selbstgerecht zu sein, so müßten wir sagen, das Linke lebt doch geradezu von der Verstörtheit der Gefühle und der Betäubung der Vernunft, setzt Selbstgerechtigkeit für Gewissen etc. etc. Aber wozu das? Die Wirklichkeit fängt gerade an, wirklich verstörend zu werden. Welchen der offenen Fäden nehmen wir also auf?

Die Verhältnisse fangen wieder an zu tanzen (das klingt so abgeschmackt, wie es tatsächlich ist). Muß man das mögen, nein, man muß gar nichts. Und es wird nicht angenehm sein. Einige der verbliebenen deutschen Stardenker wechseln also gerade die Seiten. Schon im Dezember habe Rüdiger Safranski der „Kanzlerin“ (also Frau M.) eine Staatsrechtslektion erteilt: Zu einem souveränen Staat gehöre, dass er seine Grenzen kontrolliere. Wenn eine Staatschefin wie Angela Merkel sage: „Wir können die Grenzen nicht mehr kontrollieren“, reihe man sich ein unter die zerfallenden Staaten, wie jene in Afrika.“

Das sagen so oder ähnlich inzwischen viele. Es dürfte selten so eine Nichtübereinstimmung zwischen der öffentlich vorgetragenen Moral und der persönlich wahrgenommenen geben in diesem Beritt wie vielleicht seit 1988 nicht mehr. Anderen wird es anders gehen, aber für mich ist das längst zu einem absurden Theater geworden (die Metapher ist unzureichend), wo man an seinem Wirklichkeitssinn irre zu werden beginnt. Ich agitiere folglich nicht, ich beobachte.

Aber mit diesen 2 wirklich originellen Zitaten muß ich einfach enden: Das Wort „Lügenpresse“ setze mehr Harmlosigkeit voraus, als es in diesem Metier gäbe. „Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr“. Die angestellten Meinungsäußerer würden für das Sich-Gehen-Lassen bezahlt und nähmen den Job an.

Und: „Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“

nachgetragen am 6. Februar

4 Kommentare:

Walter A. Aue hat gesagt…

Interessant.
Es scheint mir, dass die Menschen einen Gott brauchen, aus welch' immer perversen Zwecken. Ein genetisch eingebautes Beduerfnis, sozusagen.
Seit Nietzsche und der Kapitalismus den Gott des Buches haben sterben lassen, stehen nur mehr zwei Personen in Gott zur Verfuegung:
Auf der rechten Seite ist es das Geld und der Markt (aber das interessiert hier nicht)
Auf der linken Seite ist es die politische Korrektheit (eine Art von pathologischem Herdendenken oder, wie man frueher sagte, Massenhysterie).
Offensichtlich benuetzt man die PC (ich verwende die englische Abkuerzung, weil ich mir der deutschen Abkuerzung nicht sicher bin, und auch wegen ihrer Eponymitaet zum persoenlichen Computer) so, wie man frueher die Busse und die guten Werke nach der Beichte benuetzt hat.
Wenn dieser Bloedsinn Leuten (von weitest variabler Intelligenz) nichts gaebe, warum wuerden sie ihn dann glauben, erzaehlen und als Religion und Seelenmassage anpreisen?
So wie frueher die Kinder als Pfand fuer eine Vergebung der Suenden der Eltern oder als Versicherung der Aufnahme in den Himmel ins Kloster geschickt wurden, so lassen auch heute die PC Gutmenschen andere (einfach)Menschen fuer ihre Gutgedanken leiden.
Ich wundere mich manchmal, warum uns eigentlich der liebe Gott den Verstand gegeben hat.
Aber, ach nein, ER wollte ja gar nicht. Es war der Teufel am Baum der Erkenntnis. Weil er schon im Vornherein wusste, wie der Verstand und die Erkenntnis misbraucht werden koennen und wuerden....

MartininBroda hat gesagt…

@Prof. Aue Ich will schnell, also unüberlegt antworten (aber Sie wissen ja, wenn man erst anfängt nachzudenken, vergeht schon mal ein Jahrhundert). Die rechte Seite lassen wir in der Tat besser beiseite. Die andere ist mit dem Begriff pathologisch sicher (verzeihen Sie mir bitte die anmaßende Zustimmung) zutreffend beschrieben. Mit anderen Worten, die einen sind entleert, die anderen krank, glorreiche Aussichten.

Es ist eine kranke Religion, in der Tat, also eigentlich keine. Man benutzt die Abkürzung übrigens hier genauso, aber sie klingt mir eigentlich zu nett. Denn was dahinter steht, ist es nicht, ich will nicht gleich den Diabolos, den Durcheinanderwerfer und Umkehrer hervorkehren. Aber wenn man auf die Sprache achtet, ist es die eines Abbruchunternehmers, (Grenzen) aufbrechen, überschreiten, das Gelände planieren, also Unterschiede ausgleichen, oder besser gleich entlarven. Denn die Natur des Menschen ist ein soziales Konstrukt und Glück und Gerechtigkeit finden sich erst in der vollständigen Entropie, also im Tod.

Das Unheil hatte sich ja schon länger angekündigt, ich erinnere nur an unseren lieben Matthias Claudius mit seinem unübertroffenen Gesang von „Urians Nachricht von der neuen Aufklärung, oder Urian und die Dänen“:

„Ein neues Licht ist aufgegangen,
Ein Licht, schier, wie Karfunkelstein!
Wo Hohlheit ist, es aufzufangen,
Da fährt's mit Ungestüm hinein.
Es ist ein sonderliches Licht;
Wer es nicht weiß, der glaubt es nicht.


Sonst war Verschiedenheit im Schwange,
Und Menschen waren klug und dumm;
Es waren kurze, waren lange,
Und dick und dünne, grad und krumm.
Doch nun, nun sind sie allzumal
Schier eins und gleich, glatt wie ein Aal.“

Oder jüngst Herr Klonovsky, der meinte, diese Dame sei gerade dabei, Deutschland durch eine außer Rand und Band geratende Humanität zu ruinieren. Übrigens wurde ein „Posten“ seines Beitrages auf FB, wie er berichte, umgehend dort gelöscht.
Nein, ich bin ja eigentlich nur ein Beobachter, der sich aus seinem Entsetzen einen Turm gebaut hat, von dem er die sich verändernde Landschaft beschaut. Und da verblüfft es denn schon, wenn ein bisher sicherer Garant des (linken) Zeitgeistes auf einmal ausruft: Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.

M.W.

DirkNB hat gesagt…

Ist "der Staat" nicht mittlerweile ein überholtes Konstrukt, dass - aus alten Besitzdenkungsstrukturen heraus - Eigentum, dass es als Nation eigentlich nicht gibt, zu postulieren, um Gemeinschaften zu definieren, die weder historisch gewachsen noch unter unterschiedlichen Gesichtpunkten (Sprache, Kultur, Kulinarik, Genetik, ...) sinnvoll ist?

MartininBroda hat gesagt…

Keine Ahnung, ich denke darüber tatsächlich gerade sehr heftig nach. Also, wenn diese Gedanken bis zu einem Post-Stadium vordringen sollten, was ich bezweifle, nicht erschrecken, ist eh alles nur vorläufig. Oder anders gesagt: Sub specie aeternitatis :)