Dienstag, 12. Januar 2010

Wilhelm Martin Leberecht de Wette

Am 23. März 1819 erstach der Theologiestudent Karl Ludwig Sand den als russischen Spion verdächtigten erfolgreichen Trivialschriftsteller und Feind der nach den Napoleonischen Kriegen entstandenen patriotischen Bewegung August von Kotzebue - „… hier, Du Verräter des Vaterlandes.“

Die Tat wurde zum Anlaß für die sog. „Karlsbader Beschlüsse“, mit denen patriotische und liberale Neigungen verfolgt wurden (Pressezensur, Berufsverbote für liberal und national gesinnte Professoren etc.). Im Mai 1820 wurde Sand dafür hingerichtet.

Der Berliner Theologieprofessor de Wette schrieb darauf der Mutter des Attentäters einen Trostbrief, dem die folgenden Passagen entnommen sind. Zunächst gesteht er zu, daß Sands Tat "aus Irrtum hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenschaft" sei. Aber: "Er (Sand) hielt es für recht, und so hat er recht getan. Ein jeder handle nur nach seiner besten Ueberzeugung, und so wird er das Beste tun. So wie die Tat geschehen ist durch diesen reinen frommen Jüngling, mit diesem Glauben, mit dieser Zuversicht, ist sie ein schönes Zeugnis der Zeit. Ein Jüngling setzt sein Leben daran, einen Menschen auszurotten, den so viele als einen Götzen verehren; sollte dieses ohne alle Wirkung sein?" Nun die Wirkung war, daß er sein Amt verlor und aus Preußen verbannt wurde, worüber sich etwa Hegel und Schleiermacher heftig zerstritten.

Wie bekannt, gibt es hier gelegentlich Gastbeiträge, und heute darf ich einen neuen Autor vorstellen, den ich seit Jugendzeiten kenne und der über eben jenen Theologieprofessor das nachfolgende verfaßt hat:

Auf dem Grat der Vermittlung – vom „gefährlichen Stürmer zum konservativen Kämpfer“
Wilhelm Martin Leberecht de Wette
(*12.1. 1780 - † 16.6. 1849)




Als der Abkömmling einer niederländischen Pfarrersfamilie am 12.1.1780 in Ulla bei Weimar geboren wird, beginnt in Europa die hohe Zeit der Aufklärung. Kant hatte gerade seine „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlicht und Lessing, der nur noch ein Jahr leben würde, brachte in Berlin mit „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, sein Hauptwerk heraus. Noch war nicht klar, was aus diesem kriegerisch zerstrittenen Europa werden würde, aber die sogenannte neue Welt hatte schon vier Jahre zuvor ihre Unabhängigkeit nicht nur erklärt, sondern auch mit deren Beweis die Legitimation alter Mächte bleibend in Frage gestellt.

Diese Gedanken befruchteten, während Rom immer noch auf die Gegenreformation hoffte, auch weiterhin die protestantische Theologie, deren pietistischen und mysti(zisti)schen Vertreter allerdings zunehmend in die diskursive Defensive gerieten.

Der junge Pfarrerssohn nimmt schon früh Ideen Herders auf, der häufig an seinem Weimarer Gymnasium verkehrte und ihn auch in Jena beeinflussen wird. Sein Weg führt ihn 1799 zum Theologiestudium in das weltoffene und pragmatisch orientierte Jena. Mit Fichte, Hegel und Schelling lehren hier die größten deutschen Geister. Und Schlegel, Schiller und Goethe, der sogar als Staatsminister die Verantwortung für die Universität tragen wird, prägen seitdem den besonderen Geist Jenas. Dort studierte er Philosophie bei Jakob Friedrich Fries, der mit seinen ausgleichenden Ansichten über eine liberale starke nationalstaatliche Einheit de Wettes weiteres Wirken bestimmen wird.

Das ist auch der Boden für die bleibende Sympathie des Theologen für die burschenschaftlichen Ideale, die ihm später in Berlin die Professur kosten, da er, zwar ohne die Tat der Ermordung August von Kotzebues zu rechtfertigen, aber der Mutter des Attentäters einen Trostbrief schreibt, in dem er Verständnis für die radikale vaterländische Gesinnung des ihm gut bekannten Sohnes äußert, die den internationalen, aufgeklärten, gemäßigten Konservatismus der Aufklärung deshalb als Verrat empfinden, weil er nicht national-staatlich genug ist.

Diese Reaktion ist für den Menschen Wilhelm Martin Leberecht de Wette bezeichnend. Wenn man fragt, wo er politisch oder theologisch stand, ist das eine so kompliziert wie das andere, aber aus heutiger Sicht wahrscheinlich einfacher als zu seiner Zeit, da wir heute eine umfassendere Sicht haben, die er mit ermöglicht hat.

Seine theologischen Auffassungen sind immer vom Versuch geprägt, Glaube und Vernunft als besondere Zeichen der Gnade zusammen zu sehen. Durch die Aufmerksamkeit des Vermittlungstheologen, Gottfried Christian Friedrich Lücke bekommt der zu dieser Zeit noch in Berlin tätige junge Professor Kontakt zu Schleiermacher und es entwickelt sich neben einer anhaltenden Freundschaft auch ein fruchtbarer theologisch-philosophischer Dialog.

Eine Theologie ohne die klare Führung der wissenschaftlichen Grundlagen der Erkenntnistheorie ist für den Exegeten de Wette undenkbar. Mit dem „Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie“ (1814) bedient er zwar den Zeitgeist, aber zeigt auch seine historische Verbundenheit. Aus insbesondere diesem Wirken heraus muss er zu den Vätern der „historisch-kritischen Methode“ gezählt werden. Als Herausgeber Luthers Briefe versucht er vorsichtig, bei stringenter Werktreue, das Lesen zu moderieren.

Zugleich misstraut er zutiefst dem gängigen Rationalismus der Philosophen Kant’scher Prägung. Das macht ihn nicht nur zum Theologen, sondern explizit und im besten Sinne zum Dogmatiker – zwischen den Fronten. So erntet er wie zuvor in Berlin an der Humboldt’schen Universität, mit seiner aufrechten Haltung, Kritik von allen Seiten. Er wird als Pietist verschrien und von diesen als Rationalist gebrandmarkt. Und es gelingt ihm nicht mehr, nach der persönlich durch Friedlich Wilhelm III. angeorneten Entlassung, in Deutschland Fuß zu fassen. Zunächst geht er wieder nach Weimar, wo er seine Lutherausgabe vorbereitet und seinen mit autobiographischen Elementen versehenen Roman „Theodor oder die Weihe des Zweiflers“ mit den ambivalenten Erfahrungen seines Studiums herausbringt.

Trotz bester Referenzen erhält der als „politisch schwierig“ Geltende auch in Braunschweig keine Bestätigung des Königs Georg IV. für die bereits erfolgte Berufung für eine Pfarrstelle und das, obwohl sich die Zeiten längst im Sinne der Restauration geändert haben.

Ab 1822 wird er in Basel seinen Lebensmittelpunkt finden. Die alten politischen und theologischen Kontroversen verstummen schnell. 27 gute Jahre lang arbeitet de Wette an der noch sehr jungen Universität der sonnigen Rheinstadt, die ihn fünf Mal zum Rektor wählt.

Seine Lehr- und Predigttätigkeit wird geradezu legendär und er trägt viel zur Bedeutung der Baseler Universität bei. Endlich kann de De Wette auch das zuvor begonnenen Drama „die Entsagung“ (1823) in Berlin fertig stellen. Später entstehen noch der Bildungsroman „Heinrich Melchthal“ (1829), ein Opernlibretto „der Graf von Gleichen“ und neben seinen theologischen Schriften viele Ausätze zu Kunst, Kultur, Ethik, Bildung und Kirchenmusik. Wieder einmal zeigt sich die Universalität und das gesellschaftliche Feingefühl des Gelehrten, nicht nur als Theologe, sondern auch als Menschenbildner.

Als de Wette 1849 in Basel stirbt, ist er von Krankheit geplagt, aber noch ganz in seine wissenschaftliche Arbeit vertieft. Die Veränderungen in Deutschland hat er schon lange erwartet, steht ihnen nun aber auch wieder zweifelnd gegenüber.

Wilhelm Martin Leberecht de Wette, gehört zu den großen Vätern der modernen westlichen Zivilgesellschaft. Nur 86 Jahre nach dem Tod seines großen Vorgängers wird von eben diesem Lehrstuhl aus Karl Barth, der von den Nazis aus Bonn vertrieben wurde, den Beweis der Einheit von Vernunft und Glaube in einem ungeahnten Maße antreten müssen.

Am 12.Januar 2010 jährt sich der Geburtstag de Wettes zum 230. Mal. Grund genug für eine Erinnerung. Eine Straße, unter der sein Grab lag und eine weiterbildende Schule tragen in Basel seinen Namen.

Torsten Kurschus


Links:

Wikisource: „De Wette, Martin Leberecht“ von Heinrich Holtzmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 5 (1877),
Historisches Lexikon der Schweiz
Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon
Buntfuß, Markus, "Die Erscheinungsform des Christentums
Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette", Berlin 2004
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Briefe von und an Hegel. Band 2, Hrsg. von Johannes Hoffmeister, 3. Auflage 1969
Wilhelm Martin Leberecht de Welte – ein Ahnvater der historischen Bibelkritik
Wikipedia

Abbildungen:

August von Kotzebues Ermordung, kolorierter Kupferstich, vermutlich von J. M. Volz, gedruckt in Nürnberg bei A. P. Eisen um 1820

Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Portrait

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