Sonntag, 12. August 2012

10. Sonntag nach dem Trinitatisfest


Aufgang zum Herodianischen Tempel 

Herr Roloff hat heute nachfolgende Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis gehalten, die vom zerstörten Tempel von Jerusalem handelt und wie das jüdische Volk in die Irre ging, weil es meinte, in toten Steinen und im Vergangenen das Heil halten und besitzen zu können, aber man lese selbst.

Treppe an der Südseite des Tempelberges, Jerusalem

Predigt zum 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest

Jes 62, 6-12

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserm Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

nach der guten Tradition unserer Kirche feiern wir das Gedächtnis an die Zerstörung des Tempels von Jerusalem, die aller Wahrscheinlichkeit nach in den Sommer des Jahres 587 vor Christus datiert, und die sich dann über ein halbes Jahrtausend später im Sommer des Jahres 70 nach Christus wiederholt hat. Selbstverständlich stellt sich in diesem Zusammenhang wieder und wieder die Frage nach dem Wesen des Tempels und nach dem Wesen Gottes selbst.

Für Israel war der Tempel ein außergewöhnlicher Ort. In ihm wurde die Lade bewahrt, der Kasten, den Moses gebaut hatte und der die Gesetzestafeln vom Berge Sinai enthielt. Die Lade galt als Fußschemel am Thron Gottes. Gottes Gegenwart im Tempel war sicher. Dort war der Ort für das umfassende und mit den Festtagen des Volkes Israel verbundene Opferwesen. Dabei hatte Gott sich zunächst geweigert, den Berg Sinai zu verlassen und mit dem Volk zu ziehen, nachdem er den Frevel mit dem Goldenen Kalb hat ansehen müssen. Moses aber konnte ihn überreden, und aus dem Berggott wurde ein Wandergott, der nun im Tempel wieder sesshaft geworden war.

So war der Tempel zum Ort der Verbindung zwischen Himmel und Erde geworden. Merkwürdiger Weise wusste der Mensch offenbar schon immer, dass er, um als Mensch leben zu können, diese Beziehung zur Unendlichkeit, zur Ewigkeit, zu Gott brauchte, und darum suchte er sie auch immer. Er tat dies auf ganz unterschiedlichen Wegen, und überall dort, wo er es tat, entstanden Religionen. Es gibt keine einzige menschliche Zivilisation, die nicht auch Religionen hervorgebracht hätte.

Erst in der historisch jüngsten Zeit hat dieses sich geändert.

Johannes Paul II. hatte diesen bedrohlichen Wandel von Anfang an zum Thema seines Pontifikats gemacht. Bereits im Januar 1979 sagte der Papst auf der Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe: „Die Wahrheit, die wir dem Menschen schulden, ist vor allem auch die Wahrheit über ihn selbst. Als Zeugen Jesu Christi sind wir Vorläufer, Sprecher und Diener dieser Wahrheit, und wir dürfen sie nicht zu Grundsätzen eines philosophischen Systems oder zu reiner politischer Aktivität reduzieren; wir dürfen diese Wahrheit nicht vergessen oder verraten.

Es kann sein, dass die auffälligste Schwäche der gegenwärtigen Zivilisation in ihrem unzulänglichen Bild vom Menschen besteht. Unsere Zeit mag die Epoche sein, die am meisten über den Menschen geredet und geschrieben hat, die Epoche der Humanismen und des Anthropozentrismus. Und doch ist sie paradoxerweise auch die Epoche der tiefsten Ängste des Menschen, des angstvollen Fragens nach seiner Identität und seiner Bestimmung, eine Epoche der Erniedrigung des Menschen in ungeahnte Abgründe, eine Epoche der wie nie zuvor missachteten und verletzten  menschlichen Werte. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Man kann sagen, dass hier der unerbittliche Widerspruch, der dem atheistischen Humanismus selbst  zu eigen ist, zutage tritt. Es ist das Drama des Menschen, dem man eine wesentliche Dimension seines Seins amputiert hat – die Dimension des Absoluten. Auf diese Weise sieht er sich der schlimmsten Minderung seines Seins selbst ausgesetzt.“

Hier ist mit großer Deutlichkeit markiert, worin so etwas wie die Zerstörung des Tempels in unserer Zeit liegt. Nur mit dem Unterschied, dass der moderne Mensch nicht in Erschütterung vor den Trümmern des Tempels steht, wie die Israeliten des 6. vorchristlichen und des 1. nachchristlichen Jahrhunderts es getan haben, sondern auch noch wähnt, einen Triumph davongetragen zu haben.

Es ist dies ein Triumph über das Denken des Menschen selbst. Denn dieses war ganz offenkundig von Anfang an durch die Beschäftigung mit dem Absoluten, dem Ewigen geprägt, wenn nicht sogar überhaupt aus diesem geboren. Das ursprüngliche indogermanische Wort für Deus – djew – bedeutete auch gleichzeitig Himmel. Aus der Vorstellung von einem Himmel als Gott erwuchs dann diejenige eines „Vaters des Himmels“ – djeus phter – aus dem bereits unschwer der griechische Zeus Pater und der römische Jupiter herausgehört werden können.

Das germanische Wort Gott wiederum lässt sich erstaunlicher Weise auf die Wurzel des Verbs - ghen -  gießen - zurückführen. Es bestand also von Anfang an in der Sprache und mithin im Denken des Menschen ein Zusammenhang zwischen dem Gießen des Opfertranks und dem Wesen Gottes. Wer wollte da als Christ nicht unmittelbar an das Sakrament des Blutes Christi denken?

Nun könnte man schnell meinen, dass wir es hier nur mit Hervorbringungen des menschlichen Geistes zu tun hätten, wir sozusagen nur von Spekulationen handelten. Dem ist aber nicht so. Gerade das Volk Israel hat immer größten wert darauf gelegt, dass der Tempel gleichsam die Stein gewordene Erinnerung an Heilstaten Gottes war, die die Menschen selbst erlebt hatten und bezeugen konnten. Der Tempel stand an der Stelle, von der Gott die Erde genommen hatte, um Adam zu formen, er stand an der Stelle, an der Abraham das Opfer seines Sohnes darbringen sollte,  und an der schon Adam, Kain, Abel, Melchisedek  und Noah ihre Opfer dargebracht hatten. Der Tempel war ein auf die Erde herabgekommenes Stück des Himmels, er war der Ort, an dem Himmel und Erde sich verbanden, an dem der Mensch  unmittelbar der Macht Gottes ausgesetzt gewesen ist und sich in Gebet und Denken ihm näherte.

Solange der Tempel an die Heilstaten Gottes erinnerte, an den Auszug aus Ägypten, den Zug durch das Rote Meer, die Erteilung der 10 Gebote und an die Speisung mit Manna, hatte er seine Berechtigung. Immer aber wächst auch im Menschen die Vorstellung, er könne selbst, im Amt des Priesters, in der strengen Auslegung und Einhaltung der Gebote und durch die Darbringung zahlloser Opfer das Heil bewirken. Spätestens hier wird aus dem Tempel aber eine Räuberhöhle und Mördergrube, wie Christus ihn dann auch nennt. Dann beschränken die steinernen Häuser, die Kunstwerke und Opfer, die Zeremonien und Gebote unseren freien Blick auf den lebendigen Gott. Das jüdische Volk war ganz und gar gefangen in seiner Vorstellung, das Heil durch die Treue zum Gesetz gleichsam erzwingen zu können, dass es nicht mehr sehen konnte, wie die Gnade und Menschenfreundlichkeit Gottes in Christus erschien und durch das Leiden zur endgültigen Herrschaft drängte. Das jüdische Volk träumte davon, etwas Vergangenes, das Reich Davids in aller Herrlichkeit wieder zu gewinnen. Darin liegt wohl auch die eigentliche Tragik der Tat des Judas Iskariot. Gott aber wollte in seinem Heilshandeln die Zukunft.

Die Zeit des steinernen Tempels war nämlich mit der Ankunft Christi vorbei, und darum weint Christus auch nicht über den bevorstehenden Untergang des Tempels, sondern über den Mangel an Erkenntnis bei denen, die durch die Errichtung des neuen Tempels, wie sie durch die Menschwerdung Gottes geschehen war, gewürdigt worden waren.

Hier hinein ruft nun unser Jesajatext und verweist nach christlichem Verständnis auf eine der Aufgaben unserer Kirche. Sie ist Wächterin auf den Mauern, damit des Herrn gedacht wird, und er uns ein neues Jerusalem herabführt. In der Verheißung wiederum, dass nur noch die Berufenen Getreide und Wein trinken sollen, ist unschwer das Heilige Mahl zu erkennen, und wer die Steine des Alten forträumt, der macht der Gemeinschaft mit dem neuen Tempel, der in Jesus Christus geworden ist, eine Bahn. Siehe, dein Heil kommt! Unser Tempel ist in Ewigkeit ein lebendiger Ort, er ist der Mensch Jesus Christus. Weil wir seine Geschwister sind nennt man uns das heilige Volk, die Erlösten des Herrn. Die Apokalyptiker haben das Ende der Zeit oft als große Hochzeit geschaut, immer wieder auch als Hochzeit Jesu mit seiner Braut Jerusalem. Darin wird eben auch deutlich, dass die Geschichte Gottes mit dem Volk der Juden kein Ende gefunden hat, sondern bewahrt ist und ihr Ziel finden wird, wofür auch die ganze christliche Kirche betet und mit dem Propheten Jesaja gemeinsam spricht: „Dich wird man heißen die besuchte und unverlassene Stadt.“

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Thomas Roloff

2 Kommentare:

naturgesetz hat gesagt…

To have a day that commemorates the destruction of the Jewish Temples is intriguing. I'm not aware of any day that was specifically called that in the Catholic Church. The 11th Sunday after Pentecost in the former missal had no reference to it. So I guess it is something that belongs specifically to the Evangelical tradition.

I'm glad, but not at all surprised, to see that Pastor Roloff avoids triumphalism and supersessionism. As to the former, it is increasingly my view that when we read of the sins and errors of the ancient Jews, we need to take them as a call to consider whether we are falling into comparable sins and errors — whether we have our own idolatries and unfaithfulness. And for the latter, I think the place of the Jews in salvation history after the Resurrection is something we don't clearly understand. The Church is still meditating on it. But clearly, as he says, "die Geschichte Gottes mit dem Volk der Juden kein Ende gefunden hat."

It was also gratifying to see that he found some words of Pope John Paul II worth quoting as part of his sermon for the day.

naturgesetz hat gesagt…

Now I have remembered that there is a minor Jewish holy day called Tisha b'Av, which commemorates the destruction of the Temples. http://www.timeanddate.com/holidays/us/tisha-b-av (My Jewish colleagues in the IRS who told me about it pronounced it as if the v at the end were a b.) The date on the Gregorian calendar varies, because it follows the Jewish lunar calendar (Tisha seems to mean "ninth," the number of the day and Av the month), but it falls some time in the summer. As the link indicates, this year it was July 29. The common opinion of the Jewish sages seems to be that, "While the First Temple was destroyed due to idol worship, illicit relationships and murder, our Sages attribute the destruction of the Second Temple to the baseless hatred that prevailed among the Jews. If the Jews had been united, they would have merited G‑d's protection. They would have withstood the Romans. It was the factionalism among Jews that ultimately brought about the destruction of the Second Temple." If nothing else, this can serve as a reminder to Christians not to let disagreements harden into hatreds.