Biennale di Venezia, deutscher Pavillon
Der Rezensent der Welt beginnt
seine Ausführungen zu diesem Buch (Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen) mit einer bemerkenswerten Anekdote:
Der sogenannte Konzeptkünstler Hans Haacke ließ 1993 auf der Kunstbiennale in Venedig an die Apsis des deutschen Pavillons „Germania“ schreiben. Nur zum nachfolgenden Hintergrund, der Pavillon wurde zwar bereits vor dem Dritten Reich errichtet, aber in dieser Zeit umgebaut. Um sich von dem Ort zu distanzieren, zertrümmerte Haacke außerdem den Marmorfußboden des Pavillons, „als sei ein barbarischer Akt die passende Antwort auf die Barbarei der Vergangenheit“. In einer symbolischen Handlung habe Haacke so die Metropole Germania vernichten wollen, die nie gebaut wurde.
Nun ist damit eigentlich schon hinreichend viel zu dem erwähnten Buch gesagt, und einiges darüber hinaus. Es ist dieses Heraus-Sezieren von Traditionslinien, als ob man den Boden von störendem Wurzelwerk befreien müßte, indem man sich immer tiefer in diesen hineingräbt, diese Geschichtsgärtnerei hat etwas von einer umgedrehten „Blut und Boden“ - Besessenheit zum Zwecke der Rückwärtsauslöschung des Drittes Reiches. Ein typisches Wunderwerk von bundesdeutschem Geschichts-Revisionismus also (auch wenn der Autor inzwischen in den USA lebt), wie er uns nun seit vielen Jahrzehnten konzertiert unterhält.
Friedrich August von Kaulbach, Germania
Die
Germania des Tacitus gehört zu den Grund-Texten deutscher Identität. Wir haben uns also wirklich schon sehr weit zurückgearbeitet. Aber vielleicht war es auch so, erst hatten wir einen griffig provozierenden aufmerksamkeitsfördernden Titel (Glückwunsch, hat funktioniert), dann eine üblich obskure Grundthese, und darauf folgte sogar einiges an seriös aufbereitetem Material. Um nochmals den oben erwähnten Rezensenten zu zitieren: „Krebs' Buch ist reichhaltiger als seine zugespitzte, auf Sensation spekulierende Hauptthese.“ Das ist nicht ganz falsch (
der Perlentaucher verweist auf 2 andere Stimmen, die dies unterschiedlich ähnlich sehen). Übrigens findet man zu dem häufig zitierten Kaulbach – Gemälde
hier einige Erläuterungen.
Bekanntlich gibt es zwei Haupttendenzen in der Bewertung der Schrift des Tacitus. Die eine lautet grob gefaßt so, der Autor, der in einem eher zwiespätigen Verhältnis zu seiner Zeit stand, habe derselben gewissermaßen einen Spiegel vorgehalten. Sittenstrenge, Tapferkeit, „virtus“ habe er seinen Römern über den Umweg einer vermeintlichen Beschreibung der Germanen, von denen er weder viel wußte, noch daß sie ihn tatsächlich interessiert hätten, so abfordern wollen.
Die andere Tendenz räumt dies als Nebenabsicht ein, unterstellt aber Tacitus, daß er dabei nicht dahinfabuliert habe, sondern zum einen eben die Germanen wählte, weil sie sich für seine Intentionen anboten, zum anderen er sorgfältig über sie zusammengetragen habe, was ihm zugänglich war.
Es fällt nicht schwer zu vermuten, was Herrn Krebs vorschwebt, bspw. zitiert er zustimmend: „Bei diesen Charakterisierungen handelte es sich um 'Wandermotive', die Tacitus den Germanen anscheinend deshalb zuschrieb, weil sie zu der Vorstellung passten, die sich die Römer von einem barbarischen Volk machten.“ Die „Fiktion eines Römers“ also.
Otto Albert Koch: Varusschlacht
Nun lassen wir Krebs kurz beiseite und werfen einen Blick in die „Erfindungen“ (den Text findet man z. B.
an diesem Ort, original und ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen, sehr empfehlenswert übrigens):
„Ich selbst trete deren Meinung bei, die glauben, dass die Völkerschaften Germaniens, ohne je durch eheliche Verbindungen mit anderen Stämmen fremdartige Bestandteile in sich aufgenommen zu haben, ein eigenständiges, reines, nur sich selbst ähnliches Volk geworden sind. Daher ist auch die Körperbeschaffenheit trotz der großen Menschenzahl bei allen die gleiche: blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene und nur für den Angriff starke Leiber; für Mühsal und Arbeiten haben sie nicht in dem selben Maß Ausdauer, und am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze. An Kälte und Hunger haben sie sich infolge Klima oder Boden gewöhnt.“
„Steht man in der Schlacht, ist es eine Schande für den Fürsten, sich an Tapferkeit übertreffen zu lassen. , eine Schande für das Gefolge, es an Tapferkeit dem Fürsten nicht gleich zu tun; vollends aber bringt es Ehrlosigkeit und Vorwürfe für das ganze Leben, seinen Fürsten überlebend aus der Schlacht zurück zu kommen. Ihn zu verteidigen, zu schützern, auch die eigenen tapferen Leistungen ihm zum Ruhm anzurechnen, ist die höchste Eidespflicht. Die Fürsten kämpfen für den Sieg, das Gefolge für den Fürsten. Wenn das Gemeinwesen, in dem sie geboren sind, in langem Frieden und Untätigkeit erlahmt ist, suchen sehr viele adlige Jünglinge von sich aus die Stämme auf, die im Augenblick einen Krieg führen, weil einerseits die Ruhe dem Volk unwillkommen ist und sie dann inmitten von Gefahren leichter zu Ruhm gelangen, sich ein großes Gefolge auch nur durch Gewalt und Krieg erhalten lässt. Sie erwarten nämlich von der Freigebigkeit ihres Fürsten ihr Streitross, ihre blutgetränkte, siegegewohnte Frame; denn Gastmähler und zwar schlichter, abe reichlicher Unterhalt zählen als Sold. Die Mittel zum Schenken gewähren Krieg und Raub. Das Land zu pflügen oder geduldig auf den Ertrag des Jahres zu warten, wird man sie nicht so leicht überreden, als die Feinde herauszufordern und sich Wunden zu holen. Als Faulheit, vielmehr Schlaffheit kommt es ihnen vor, mit Schweiß zu erwerben, was man mit Blut gewinnen kann.“
„Sooft sie nicht in den Krieg ziehen, bringen sie weniger Zeit mit Jagen zu, als mit Müßiggang: sie geben sich dem Schlaf hin und dem Essen. Gerade die Tapfersten und Kriegstüchtigsten sind völlig unbeschäftigt, indem sie die Sorge für Haus, Herd und Feld den Frauen übertragen haben, so wie den Greisen und allen Schwachen aus dem Gesinde. Sie selbst faulenzen nach dem seltsamen Widerspruch in ihrem Wesen, dass die gleichen Menschen in solcher Weise die Untätigkeit lieben und die Ruhe hassen.“
„Gleichwohl sind die Ehen dort streng und keine Seite ihrer Sitten möchte man unbedingter loben. Denn sie sind fast die einzigen unter den unzivilisierten Völkern, die sich mit einer Frau begnügen, ganz wenige ausgenommen, die sich nicht aus Sinnlichkeit, sondern ihres Adels wegen mit sehr vielen Heiratsanträgen umworben sehen.“
„Damit die Frau mutige Taten nicht außerhalb ihres Gedankenkreises und sich den Wechselfällen des Krieges enthoben glaubt, wird sie gleich durch die Eingangsfeier des beginnenden Ehestandes daran erinnert, dass sie als Gefährtin der Mühsale und Gefahren eintrete, um im Frieden wie auf dem Schlachtfeld Schicksal und Wagnisse zu teilen.“
„So leben sie denn in den Schranken der Sittsamkeit, durch keine lüsternen Schauspiele, keine verführerischen Gelage verdorben... Fälle von Ehebruch sind bei dem so zahlreichen Volk eine große Seltenheit. Seine Bestrafung erfolgt auf der Stelle und ist dem Gatten überlassen. Mit abgeschnittenen Haaren, entkleidet, stößt sie der Gatte in Gegenwart der Verwandten aus dem Haus und treibt sie mit Schlägen durch das Dorf. Denn die Preisgabe der Keuschheit findet keine Nachsicht: nicht durch Schönheit, nicht durch Jugend, nicht durch Reichtum fände sie einen Mann. Denn niemand lacht da über die Laster und verführen und sich verführen lassen heißt nicht Zeitgeist.“
„Die Zahl seiner Kinder fest zu begrenzen und eines der nachgeborenen zu töten gilt als schandbar; und mehr vermögen dort die guten Sitten als anderswo gute Gesetze.“
„Gleich nach dem Schlaf, den sie meist bis in den Tag hinein ausdehnen, waschen sie sich gewöhnlich warm, da bei ihnen die meiste Zeit über Winter herrscht. Nach dem Waschen nehmen sie Speise zu sich. Jeder hat seinen besonderen Sitz und seinen eigenen Tisch. Dann begeben sie sich an die Geschäfte und nicht weniger häufig zu Gelagen, und zwar bewaffnet. Tag und Nacht ununterbrochen fortzuzechen ist für keinen eine Schande. Bei den - wie unter Trunkenen natürlich - häufig vorkommenden Streitigkeiten geht es selten nur mit Schimpfreden ab, häufiger mit Totschlag und Wunden. Aber auch über die gegenseitige Aussöhnung von Feinden und den Abschluss von ehelichen Verbindungen und die Wahl von Fürsten, endlich über Frieden und Krieg beraten sie sich sehr häufig bei Gelagen, gleich als meinten sie, dass zu keiner Zeit der Sinn so sehr für einfache Gedanken erschlossen sei oder sich für große erwärme. Ohne Verschmitztheit und List öffnet das Volk in der Ungebundenheit eines heiteren Anlasses noch seine innersten Gedanken. So offen und unverhüllt ist aller Denkweise. Am folgend Tag wird von neuem verhandelt und beiderlei Zeiten widerfährt so ihr Recht: sie beraten, wenn es ihnen nicht gelingt, sich zu verstellen, und beschließen, wenn sie nicht irren können.“
„Als Getränk dient ihnen eine Flüssigkeit, die aus Gerste oder Weizen ganz ähnlich dem Wein zusammengebraut ist. Die nächsten Uferanwohner erwerben im Handel auch Wein. Die Speisen sind einfach: wilde Baumfrüchte, frisches Wildbret oder Käse aus Milch. Ohne besondere Zubereitung, ohne Gaumenkitzel vertreiben sie ihren Hunger. Dem Durst gegenüber herrscht nicht die selbe Mäßigung. Leistet man ihrer Trinklust Vorschub und verschafft ihnen so viel, wie sie begehren, wird man sie gewiss nicht weniger leicht durch ihre Laster als mit Waffen besiegen.“
„Von Schauspielen gibt es nur eine einzige Art, die bei jeder Zusammenkunft wiederkehrt. Nackte Jünglinge, denen dies eine Kurzweil ist, werfen sich tanzend zwischen Schwerter und drohende Framen. Die Übung hat Fertigkeit erzeugt, die Fertigkeit ansprechende Form; jedoch nicht zum Erwerb oder gegen Bezahlung, obwohl der kühne Scherz seinen Lohn an dem Vergnügen der Zuschauer hat. Das Würfelspiel treiben sie merkwürdiger Weise nüchtern unter den ernsthaften Dingen, im Gewinnen und Verlieren so unbeherrscht, dass sie, wenn sie nichts mehr haben, im letzten Wurf ihre Freiheit und Person einsetzen. Der Besiegte begibt sich freiwillig in die Knechtschaft; wenn auch jugendlicher, wenn auch stärker, lässt er sich binden und verkaufen. So weit geht ihre Unnachgiebigkeit in einer verkehrten Sache: sie selber heißen es Ehrenpflicht.“
Ary Scheffer, Schlacht von Zülpich 496 n. Chr.
Das muß genügen, und mit der Kürze ist es nichts geworden. Aber zum einen liest es sich wirklich unterhaltsam. Und die langen Zitate lassen schnell auf zweierlei stoßen: Das Bild des Tacitus von den Germanen ist durchaus nicht so einseitig idealisierend, wie man erwarten müßte, wenn gewisse oben erwähnte Meinungen zuträfen: Sie sind treu, aufrichtig, sittenstreng, kampfesmutig, aber auch arbeitsscheu und ohne Lebensart, trunk- und spielsüchtig z.B. Zum anderen gibt es ein Prinzip, mit dem man die Glaubhaftigkeit von Texten prüfen kann, die „Unerfindlichkeit“. Es wurde entwickelt, als man die Bibel der Textkritik wissenschaftlich unterwarf. Grob gesagt, wenn man einer Vorstellung oder einer Aussage begegnet, die nicht durch vorhergehende Bezüge zu erwarten sind, tatsächlich unbekannt bzw. neuartig sind, spricht erst einmal viel für deren Authentizität.
Aber vielleicht hat Herr Krebs eine andere „Germania“ gelesen. Den Hauptteil seines Buches macht ohnehin eine Darstellung der Wirkungsgeschichte des Werks des Tacitus' aus; wie sich im Mittelalter vereinzelt Spuren finden und schließlich im 15. Jahrhundert ein päpstlicher Abgesandter die einzig übriggebliebene Abschrift aus der Abtei Hersfeld nach Italien verbrachte; wie deutsche Humanisten und barocke Dichter in der „Germania“ die Gündungsurkunde ihrer Nation erkannten bis zu Herder, der den Nationalcharakter der Deutschen wiederfindet:
„Kein größerer Schade kann einer Nation zugefüget werden, als wenn man ihr den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geistes und ihrer Sprache raubt.“
„Nun suche in Deutschland den Charakter der Nation, den ihnen eignen Ton der Denkart, die wahre Laune ihrer Sprache: wo sind sie? Lies Tacitus, da findest du ihren Charakter.“
aus "Die Gartenlaube" (Denkmal des Arminius)
Mit dem Eintritt ins 19. Jahrhundert wird das Buch seinem reißerischen Titel doch noch mehr und mehr gerecht und verliert seinen durchaus interessanten Charakter, und bald landen wir dann auch bei der Reinheit des deutschen Bluts und schließlich im Dritten Reich. Nationalgefühl und Rassenwahn werden in einen Topf geworfen und kräftig verrührt. Und letztlich wird der altrömische Autor irgendwie mitschuldig:
„In ähnlicher Weise war das, was die Nürnberger Rassengesetze in Stein meißelten, letztlich eine Bearbeitung des frei flottierenden ethnografischen Klischees, das der römische Historiker aus griechischen Quellen übernommen und in Kapitel 4 auf die Germanen angewendet hatte.“
Sic!
So könne also aus der "Germania" ein Bild des blond-hellhäutigen, kräftig-hochgewachsenen Germanen herausgelesen werden, dessen Tapferkeit, Tugend, Reinrassigkeit, Einfachheit und Treue die deutschen Nachkommen nunmehr nachzueifern suchten. Was neben der moralischen Verwerflichkeit auch noch historisch falsch sei, denn Germanen und Deutsche hätten keinerlei Kontinuität aufeinander. Nun der Reiz des eben beschriebenen Klischees hat sicherlich zum Glück seine Zeit weit hinter sich, und ich mag weiter auf Einzelheiten auch gar nicht mehr eingehen. Aber daß dort jegliche Kontinuität bestritten wird, ist für einen Altphilologen, der doch wohl irgendwie auch Sprachwissenschaftler sein möchte, zumindest erstaunlich.
Die Nationalsozialisten haben vieles mißbraucht, und obwohl behauptet wird, erst seine Leser machten Tacitus' Werk zum gefährlichen Buch, unterschwellig drückt sich doch der Eindruck auf, die mißbrauchte Sache sei diesmal auch ein wenig mitschuldig gewesen. Und am besten würden die in einer gewissen sprachlich bestimmten Region lebenden Personen, vulgo Deutsche, auf alle Anstalten verzichten, sich eine nationale Identität zurechtzulegen.
Was sollen wir also von der „Germania“ des Tacitus und der Erfindung der Deutschen halten, diesem Werk der Geschichtsgärtnerei, wie ich es eingangs nannte. Wir lernen sicher einiges über die Schicksalsfälle eines alten Buches, mehr noch aber über die Obsessionen von jemandem, der dieses Buch in die Hand nahm, aber ob wir letzteres wirklich wissen müssen.
nachgetragen am 28. September