Dienstag, 29. Dezember 2009

Am Todestage Rilkes



Rainer Maria Rilke


Herbsttag


Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Day in Autumn

Lord, it is time! Your summer's reign was grand.
Beshadow now the dials of your sun
and let your winds run rough across the land.

The latest fruits command to fill and shine:
For them, let two more warmer days arrive
to push them to perfection and to drive
the final sweetness in the heavy wine.

The man without a house will build no more,
the man without a mate will sole remain,
will wake, will read, write letters long with pain
and walk the boulevards, restless to the core,
where falling leaves are drifting with the rain.
Translation by Walter A. Aue

Am Todestage Rilkes nicht an ihn zu erinnern, das ist beinahe unmöglich. Ich gestehe, ich hatte eigentlich anderes im Sinn, aber wie ich eben sagte, einiges hat einfach Vorrang. Und dann mußte ich feststellen, daß ich eines der beiden berühmten Herbstgedichte Rilkes hier noch gar nicht gebracht habe, genauer gesagt, nicht verbunden mit einer Übersetzung von Prof. Aue. Wenn man dem Link unter der Übersetzung folgt, gelangt man zu seiner Seite, auf der er nicht nur seine Demut über seine Übersetzungsfähigkeiten ausbreitet, sondern auch zu anderen Übersetzungen hinführt.

Meine eigenen Gedanken sind, der Jahreszeit angemessen, eher winterlich, und das obige Bild ist kaum verkennbar aus dem Sommer, nicht einmal aus dem letzten, sondern aus dem vorigen, so steht Rilkes Gedicht gewissermaßen dazwischen. Ich hatte mich kürzlich schon einmal gebremst, hier zu persönlich zu werden, aber ich werde mir die nächsten Sätze, die hier folgen sollen, morgen etwas wacher noch einmal durchlesen, mag sein, daß dies hier dann noch eine kurze Fortsetzung findet.

3 Kommentare:

Rosabella hat gesagt…

O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.



Rainer Maria Rilke
Das Stundenbuch (1903)
Drittes Buch
"Das Buch von der Armut und vom Tode" (Auszug)

Walter A. Aue hat gesagt…

An Rosabella und Martininbroda,
ich fand das sehr interessant: In meiner Ausgabe des Stundenbuchs [Insel Verlag, 1924] besteht das Gedicht "O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod" nur aus der ersten Strophe. Die zweite hier zitierte Strophe ist schon der Anfang des naechsten Gedichtes.
Ich habe das Gedicht einmal uebersetzt [ http://myweb.dal.ca/waue/Trans/Rilke-Stunden.html#Tod ], war aber nie wirklich zufrieden damit: Es schien unabgeschlossen. Ich habe mir sogar damals ueberlegt, das naechste Gedicht miteinzubeziehn, aber das schien mir zu viel und paszte ueberdies nicht in den Zusammenhang dieser Stundenbuch Webseite. Und den verbindenden Anfang des naechsten Gedichtes dazuzunehmen, wie hier, hatte ich mich nicht getraut...
Nun. offensichtlich hat Rilke selber... Aber hat er auch die Aenderung in der "Drei-Buecher" Ausgabe vorgenommen? Wahrscheinlich. Oder war es nur ein Erstbuchstabenfehler des Drucksetzers?
Trotzdem, mir gefaellt es zweistrophig, wie hier, wesentlich besser. Herzlichen Dank fuer diese Frucht, um die sich alles dreht!

MartininBroda hat gesagt…

Ich bedaure sagen zu müssen, daß auch in meiner kommentierten Ausgabe der 2. Vers den Anfang des nächsten Gedichtes bildet.

Allerdings sind beide wohl unmittelbar nacheinander entstanden (15. und 16. 4. 1903). Und auch ich muß gestehen, daß mir diese Variante entschieden besser gefällt.

Ist es nicht erstaunlich, wie wirkliche Dichtung immer wieder mit ganz wenigen Worten einen Abgrund an Wahrheit aufreißen kann.

Ich freue mich sehr und bin dankbar, so gewissermaßen zu dritt am Grabe Rilkes gestanden zu haben.