Theodor Storm
Meeresstrand
Ans Haff nun fliegt die Möwe
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton;
Einsames Vogelrufen -
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
Die letzten beiden Zeilen sind im Grunde unübersetzbar und zeigen uns, wie man mit 9 Worten ein ganzes Zauberreich von Bedeutungen in die Luft werfen kann, und dieses sinkt nun langsam herunter, und wir laufen dem Eindruck noch hinterher, bis er ganz verschwunden ist. Nun, ganz verschwunden wird er nie sein.
Es ist ein großes Gedicht. Wie ich auf das Stichwort „Übersetzung“ komme? Herr Prof. Aue hat auch dieses ins Englische übersetzt, es findet sich schon länger in der Liste meiner Übersetzungen.
Die Zahl bedeutenderer deutscher See-Gedichte ist, wenn ich es recht sehe, überschaubar. Und ein Gedicht, das dem „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich an die Seite zustellen wäre (siehe oben), gibt es im Deutschen, soweit ich weiß, bisher nicht. Es gibt Interessantes bei Brockes (bringe ich im Anschluß), natürlich Storm, Heine (nun ja), „Böhmen liegt am Meer“ von Frau Bachmann. Und noch ein wenig mehr.
Man mag einwenden, Deutschland sei ein Binnenland, und sein Gesicht war nicht nach Norden gerichtet, die Sehnsucht ging eher nach Süden. Vielleicht. Natürlich formt auch der Ort, an dem jemand lebt, seine geistige Physiognomie, wie dessen Geschichte, die Verletzungen und Abgründe der Vergangenheit. Der Strom des Lebendigen, der jemanden trägt, der in dunklen, schmutzigen und hell-glänzenden Farben erscheint und dabei so unendlich Verschiedenes mit sich führt. Aber alles in allem, gibt es eher ergreifende Gedichte über den Wald als über das Meer.
Elias Canetti hat bekanntlich darauf eine ganze Völkerpsychologie gegründet (in „Masse und Macht“): „In keinem modernen Land ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.“ Das Heer, in dem sich der Deutsche geborgen wähnte, sein „Massensymbol“, sei der marschierende Wald. „Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen.
Ihre Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen, unterscheidet diesen Wald von dem tropischen, wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt. Der Wald der gemäßigten Zone hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne. Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers...
Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und an Stärke.“
Ich habe kürzlich gelesen, eine neue Statistik könne die behauptete Neigung der Deutschen zum Wald widerlegen, denn nur ein geringer Prozentsatz würde ihn demnach tatsächlich aufsuchen. Nun, es heiratet auch nicht jeder seinen Jugendschwarm. Es gibt zuviel Unsinn, der einem täglich zugemutet wird, vom Politischen vollständig zu schweigen. Aber weg davon.
Canetti endet mit der erstaunlichen Conclusio:
„Der Engländer sah sich gern auf dem Meer; der Deutsche sah sich gern im Wald; knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwerlich auszudrücken.“ Von den Engländern wollen wir diesmal schweigen. Obwohl, wo ich Ingeborg Bachmann erwähnte, „Abschied von England“ ist auch ein großes Gedicht, und fast ein See-Gedicht.
nachgetragen am 7. September
2 Kommentare:
Lieber Martin,
ein wunderbares Gedicht von Storm.
Aber wieso dem Canetti beim Wald nun ausgerechnet das Heer einfällt, erschließt sich mir nicht.
Herzliche Grüße
Morgenländer
Gut, jetzt müßte man ganz viel zitieren, aber so abwegig ist es nicht. Es gibt diese Neigung zum Wald und es gab diese Neigung zum Heer, und nun schaut er, was beides verbindet.
Für eine gewisse Zeit haben sich die Deutschen im Heer wiedergefunden. Das hat aber wenig mit dem nachträglich viel herbeigeschrie'nen Militarismus zu tun.
Über Jahrhunderte war Deutschland fast schutzlos seinen Nachbarn ausgesetzt, und selbst in den angeblich so schlimmen letzten Zeiten vor Ausbruch dieses verheerenden 1. Weltkrieges haben die anderen Alliierten erheblich mehr gerüstet als das ach so militaristische Deutschland.
Es gab da einfach diese Illusion, nun sei man geschützt, die sich mit diesem Symbol tatsächlich verbunden hat.
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