"Dornauszieher", Kapitolinische Museen, Rom
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Als mich die Nachrichten des heutigen Abends endlich genug gelangweilt hatten, widmete ich mich wieder meiner gegenwärtigen Lektüre („Der Blick des Dichters, Antike Kunst in der Weltliteratur“, Hrsg. und kommentiert von Detlev Wannagat). Wie der Name schon nahelegt, geht es um das Zusammentreffen von Gestalten und Werken der Antike mit jüngerer Literatur, sehr angenehm zu lesen und jedesmal anregend kommentiert. Nun will ich diese Kommentare hier nicht ausbreiten (das wäre zumal auch nur eine Art von Abschreiben), aber zwei Beispiele daraus hier vorstellen. Da hätten wir zum ersten einen Passus aus dem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist, den man hier in Gänze nachlesen kann.
Das andere Beispiel ein nicht minder bekanntes Gedicht Rilkes. Wobei ich zugestehe, daß beide Figuren äußerst Interessantes zu erzählen haben, aber ich kann gegebenenfalls ja immer noch Nachträge machen.
Heinrich von Kleist
Über das Marionettentheater
„…Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. - Doch, welche Folgerungen, setzte ich hinzu, können Sie daraus ziehen?
Er fragte mich, welch einen Vorfall ich meine?
Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte - er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen - was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: -
Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte…“
"Torso aus Milet", Louvre, Paris
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Rainer Maria Rilke
Archaischer Torso Apollos
WIR kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
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