Donnerstag, 11. November 2010
11. November
Alfred Lichtenstein
Abschied
(kurz vor der Abfahrt zum Kriegsschauplatz für Peter Scher)
Vorm Sterben mache ich noch mein Gedicht.
Still, Kameraden, stört mich nicht.
Wir ziehn zum Krieg. Der Tod ist unser Kitt.
O, heulte mir doch die Geliebte nit.
Was liegt an mir. Ich gehe gerne ein.
Die Mutter weint. Man muß aus Eisen sein.
Die Sonne fällt zum Horizont hinab.
Bald wirft man mich ins milde Massengrab.
Am Himmel brennt das brave Abendrot.
Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.
„Der einzige Trost ist: traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiter leben. Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter brutalen, hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu finden.“
Ein guter Bekannter schickte mir heute dieses Zitat von Alfred Lichtenstein, zusammen mit dem obenstehenden Gedicht und meinte, das sei doch recht angemessen für diesen Tag. In der Tat, und es ist schon skurril, das ausgerechnet dieser mein Namenstag ist. Am 11. November 1918 wurde zwischen den Alliierten und dem Deutschen Reich der Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet. Damit endete ein Krieg, der für nichts geführt wurde, wenn man auf die Hauptbeteiligten blickt, der Europa tief zurück in die Barbarei trieb und dessen anschließende förmliche Beendigung in „Friedensverträgen“ den Anstoß für einen weiteren moralischen, materiellen und geistigen Niedergang lieferte, der ein paar Jahrzehnte später in eine noch tiefere Katastrophe mündete. Das war jetzt sehr hölzern gesagt, aber ich wollte nur kurz erklären, warum ich an diesem Datum nicht viel Erfreuliches finden kann, abgesehen davon, daß für eine gewisse Zeit das Kriegssterben aufhörte.
Als etwa 100 Jahre früher das napoleonische Frankreich einen wirklich verheerenden Krieg über Europa gebracht hatte, ließ man es nach seiner Niederlage dennoch intakt. Das änderte sich nun, der unterlegene Gegner wurde aufgeteilt, gedemütigt, mit Reparationen belegt, die de facto unerfüllbar waren… Warum mich das so aufwühlt. Als ich heute darauf sah, wie meine englischsprechenden Bekannten nette Beiträge über „Armistice Day“ schrieben, habe ich mir ziemlich auf die Lippen gebissen und am Ende spätnachts doch noch widersprochen, aber was bringt das.
Alfred Lichtenstein, hatte übrigens die richtige Ahnung, er wurde nur 26 Jahre alt und fiel schon 1914 in Frankreich. Ein anderes Gedicht von ihm:
Die Dämmerung
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
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2 Kommentare:
lieber Martin,
mit wie viel Fingerspitzengefühl und Bedachtheit Sie immer Ihre Posts verfassen ... ich danke Ihnen dafür, auch für die wunderbaren Rosenfotos, mit denen Sie mittlerweile ein paar Mal schon Ihre Einträge "rosiger" haben werden lassen!
am gestrigen Martins-Tage sind meine Gedanken, wenn ich ehrlich bin, einige Male zu Ihnen gewandert und überlegte, ob es angemessen sei, Ihnen zum Namenstage zu gratulieren ... weshalb ich dies dann doch nicht getan habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht ?!
nun gut, mein heutiger Post könnte Sie durchaus interessieren, hat er nämlich schon wieder mit Rilke zu tun ... für einige vielleicht mittlereile langweilig geworden, für Sie - so hoffe ich - jedoch lesenswert ?!
"Carmen" singt seit gestern nachmittag mit leidenschaftlichem Temperament ihre Herbstarie, deshalb schicke ich für heute äußerst stürmische Morgengrüße von Haus' zu Haus' ... und hoffe, dass es Ihnen gut geht!
bis bald ...
Offen gestanden, daß es mein Namenstag war, fiel mir so richtig auch nur auf, weil mir ein Freund dazu gratulierte. Daß Sie Bedachtheit in meinem Beitrag entdeckten, hat mich ehrlich gesagt ziemlich gefreut, zumal er in einem gewissen Kontext entstand und ich mich zeitweise darin etwas hilflos fühlte. Es geht mit irgendwie gut, ja, danke, und ich habe Ihren Rodin/Rilke-Beitrag selbstverstäändlich gelesen, später mehr :-)
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