Samstag, 15. Januar 2011

Über Vergessenes


Ernst von Wildenbruch

Weihnacht.

Die Welt wird kalt, die Welt wird stumm,
der Winter-Tod zieht schweigend um;
er zieht das Leilach weiß und dicht
der Erde übers Angesicht –
Schlafe - schlafe

Du breitgewölbte Erdenbrust,
du Stätte aller Lebenslust,
hast Duft genug im Lenz gesprüht,
im Sommer heiß genug geglüht,
nun komme ich, nun bist du mein,
gefesselt nun im engen Schrein -
Schlafe - schlafe

Die Winternacht hängt schwarz und schwer,
ihr Mantel fegt die Erde leer,
die Erde wird ein schweigend Grab,
ein Ton geht zitternd auf und ab:
Sterben - sterben.

Da horch – im totenstillen Wald
was für ein süßer Ton erschallt?
Da sieh – in tiefer dunkler Nacht
was für ein süßes Licht erwacht?
Als wie von Kinderlippen klingt's,
von Ast zu Ast wie Flammen springt's,
vom Himmel kommt's wie Engelsang,
ein Flöten- und Schalmeienklang:
Weihnacht! Weihnacht!

Und siehe – welch ein Wundertraum:
Es wird lebendig Baum an Baum,
der Wald steht auf, der ganze Hain
zieht wandelnd in die Stadt hinein.
Mit grünen Zweigen pocht es an:
»Tut auf, die sel'ge Zeit begann,
Weihnacht! Weihnacht!«

Da gehen Tür und Tore auf,
da kommt der Kinder Jubelhauf,
aus Türen und aus Fenstern bricht
der Kerzen warmes Lebenslicht.
Bezwungen ist die tote Nacht,
zum Leben ist die Lieb' erwacht,
der alte Gott blickt lächelnd drein,
des laßt uns froh und fröhlich sein!
Weihnacht! Weihnacht!

Da ich gerade nicht schlafen kann, dachte ich, einfach eines dieser Fragmente zu veröffentlichen, die üblicherweise als unsichtbarer Entwurf enden. Nein, es ist nicht so, daß ich nicht vom Thema Weihnachten lassen könnte, aber Ernst von Wildenbruch starb am 15. Januar 1909, und dies ist eines seiner brauchbareren Gedichte, das sich eine gewisse Bekanntheit erhalten hat. Eine anderes, das gelegentlich noch zitiert wird, heißt "Bismarck lebt!", aber das wollte ich nicht zumuten. Wie schreibt ein Oskar Walzel noch 1918: „Der erste Träger des neupreußischen Bewußtseins in deutscher Dichtung erstand endlich in Ernst von Wildenbruch … Wildenbruch … sprach erlösende Worte im rechten Augenblick als … sein kraftvolles Temperament und seine prächtig tönende Wortkunst sich in den Heldenliedern „Vionville“ und „Sedan“ zum erstenmal ausdrückten…“. Er war sozusagen ein staatstragender Dichter, zudem mit den Hohenzollern auch familiär verbunden; einerseits hochangesehen, andererseits bei Kollegen nicht unumstritten, Theodor Storm schätzte ihn, Theodor Fontane nannte ihn einen „armen Stümper“. Doch warum ich mich eigentlich überhaupt mit ihm beschäftigen wollte, er ist ein Paradebeispiel eines zu Lebzeiten außerordentlich bekannten und heute nahezu vergessenen Dichter.

Mit einigen Abschwächungen gilt das auch für Franz Fühmann, den das Datum kurioserweise mit Wildenbruch verbindet, er wurde am 15. Januar 1922 geboren. Und ein anderer Aspekt verbindet, auch Fühmann begann sehr staatstragend, auch wenn es ein Staatswesen sehr verschiedener Art war, er stürzte sich gewissermaßen nach Kriegende in eine neue Identität und wollte dieses „Menschheits-Beglückungsprojekt“ enthusiastisch voranbringen. Er ist dann reifer und auch resignierter geworden, ich hatte mir schon mehrfach vorgenommen, ausführlicher über ihn zu schreiben und diesmal sollte es eine Betrachtung über das Vergessen-werden werden, ein anderes Mal. Das Bild übrigens zeigt einen Gegenstand, der in meiner eigenen Biographie mit diesem Thema verbunden ist, aber wir wollten dies ja diesmal als Fragment belassen.

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